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Informationen zum Dokument  BGer 9C_120/2012  Materielle Begründung
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BGer 9C_120/2012 vom 02.03.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_120/2012
 
Urteil vom 2. März 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
B.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Abteilung Leistungen, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV (Berechnung des Leistungsanspruchs),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungs-gerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungs-rechtliche Abteilung, vom 22. Dezember 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1956 geborene B.________ bezieht seit 1. November 2004 bei einem Invaliditätsgrad von 53 % eine halbe Rente der Invalidenversicherung. Im Juli 2008 meldete er sich bei der Ausgleichskasse des Kantons Bern zum Leistungsbezug an. Diese sprach ihm ab 1. September 2008 Ergänzungsleistungen zu, wobei sie vorläufig auf die Anrechnung eines hypothetischen jährlichen Erwerbseinkommens verzichtete (Verfügung vom 24. September 2008 und Einspracheentscheid vom 28. November 2008); die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 5. März 2003). Mit Verfügung vom 23. Februar 2010 berechnete die Ausgleichskasse den Anspruch ab 1. Januar 2010 neu. Nachdem sie in der Folge B.________ mehrmals aufgefordert hatte, Gründe für die Unmöglichkeit der Erzielung des Mindesteinkommens darzutun und zu belegen, hob sie mit Verfügung vom 8. Dezember 2010 die Ergänzungsleistungen unter Anrechnung eines hypothetischen Einkommens ab 1. Juli 2011 auf, was sie mit Einspracheentscheid vom 5. Mai 2011 bestätigte.
 
B.
 
Die Beschwerde des B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 22. Dezember 2011 ab.
 
C.
 
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, den Entscheid vom 22. Dezember 2011 aufzuheben und zur Neubeurteilung an die "untere Instanz" zurückzuweisen. Ferner beantragt er als vorsorgliche Massnahme, "die aufschiebende Wirkung der Beschwerde unter Aufhebung der gegenteiligen Anordnung nach ATSV 11" wieder herzustellen; eventualiter die Verwaltung zu anderweitigen flankierenden Massnahmen zu verpflichten, welche geeignet sind, seinen Besitzstand zu wahren; subeventualiter weitere "medizinisch- (arbeits-)physiologische" Abklärungen bezüglich seiner Leistungsfähigkeit zu treffen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Das kantonale Gericht wies das Gesuch um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde - welche die Verwaltung entzogen hatte (vgl. Art. 54 Abs. 1 lit. c ATSG [SR 830.1]) - mit prozessleitender Verfügung vom 12. Juli 2011 ab (vgl. UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 25 zu Art. 56 ATSG). Dass sich diese auf den Inhalt des angefochtenen Entscheides ausgewirkt haben soll (vgl. Art. 93 Abs. 3 BGG), ist nicht ersichtlich und wird auch nicht dargelegt. Es ist daher nicht weiter darauf einzugehen.
 
2.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
3.
 
3.1 Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Ergänzungsleistungen lediglich mit Blick auf die Anrechenbarkeit eines hypothetischen Erwerbseinkommens.
 
3.2 Invaliden wird als Erwerbseinkommen grundsätzlich der Betrag angerechnet, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Art. 14a Abs. 1 ELV [SR 831.301] in Verbindung mit Art. 9 Abs. 5 lit. c ELG). Teilinvaliden unter 60 Jahren mit einem Invaliditätsgrad von 50 bis 59 Prozent ist als Erwerbseinkommen jedoch mindestens der Höchstbetrag für den Lebensbedarf von Alleinstehenden anzurechnen (Art. 14a Abs. 2 lit. b ELV). Damit wird bei Nichterreichen dieses Grenzbetrages die Vermutung eines freiwilligen Verzichts auf Erwerbseinkünfte (vgl. Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG) statuiert. Diese kann widerlegt werden, wenn invaliditätsfremde Gründe wie Alter, mangelhafte Ausbildung und Sprachkenntnisse, persönliche Umstände oder Arbeitsmarktsituation die Verwertung der Resterwerbsfähigkeit erschweren oder verunmöglichen. Massgebend für die Berechnung der Ergänzungsleistungen ist daher das hypothetische Einkommen, das der Versicherte tatsächlich realisieren könnte (BGE 131 II 656 E. 5.2 S. 661 f.; 117 V 202 E. 2a/b S. 204 f.; 117 V 153 E. 2b/c S. 155 f.; Pra 2005 Nr. 143 S. 968, 2A.495/2004 E. 3.2.4 mit weiteren Hinweisen). Mit Bezug auf die invaliditätsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit haben sich EL-Organe und Sozialversicherungsgerichte grundsätzlich an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung zu halten (BGE 117 V 202 E. 2b S. 205; Urteil 8C_172/2007 vom 6. Februar 2008 E. 7.1).
 
3.3 Die Festsetzung des hypothetischen Einkommens, soweit sie auf der Würdigung konkreter Umstände beruht, stellt eine Tatfrage dar, welche lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel überprüfbar ist. Rechtsfrage ist dagegen, nach welchen Gesichtspunkten die Entscheidung über die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit erfolgt.
 
4.
 
4.1 In Bezug auf die Invalidität ist dem Beschwerdeführer eine leichte, vorwiegend sitzend auszuübende Tätigkeit zu einem 80 %-Pensum mit einer Leistungsminderung von 30 % zumutbar. Damit beträgt die Restarbeitsfähigkeit für leidensadaptierte Arbeiten 56 %, wofür 2004 ein Einkommen von Fr. 36'686.- anzurechnen war. Die Vorinstanz hat festgestellt, es fehle an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass sich der Gesundheitszustand seither - abgesehen von einer vorübergehenden Verschlechterung 2008 - wesentlich verändert habe. Diese Feststellung ist nicht offensichtlich unrichtig und beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich ist (E. 2). Weiter steht fest, dass der Beschwerdeführer nach Auflösung des letzten Arbeitsverhältnisses am 31. August 2006 während zweier Jahre Taggelder der Arbeitslosenversicherung bezog, auch anschliessend keine Erwerbstätigkeit mehr ausübte und daher nicht über ein jährliches Einkommen in der Höhe des Grenzbetrages von Art. 14a Abs. 2 lit. b ELV, welcher 2011 Fr. 19'050.- betrug (Art. 1 der Verordnung 11 vom 24. September 2010 über Anpassungen bei den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV [SR 831.304]), verfügte. Schliesslich ist die vorinstanzliche Feststellung, wonach weder der Verwaltung noch dem kantonalen Gericht Belege für nach 2008 erfolgte Stellenbewerbungen eingereicht worden seien, für das Bundesgericht verbindlich (E. 2).
 
4.2 Dem Beschwerdeführer ist zwar beizupflichten, dass das Alter, der aktuelle Behinderungs- und Gesundheitszustand, die Ausbildung und der konkrete Arbeitsmarkt grundsätzlich zu berücksichtigen sind (E. 3.2), wenn die Anrechenbarkeit eines hypothetischen Einkommens in Frage steht. Aufgrund der gesetzlich statuierten Vermutung von Art. 14a Abs. 2 lit. b ELV kann aber eine (in grundsätzlicher oder masslicher Hinsicht) fehlende Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit nur angenommen werden, wenn sie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 353 E. 5b S. 360) feststeht. Bei der Feststellung des Sachverhalts hat der Leistungsansprecher trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 Abs. 1 resp. Art. 61 lit. c ATSG) mitzuwirken (Art. 28 Abs. 1 und 2 ATSG).
 
4.3 Was den Gesundheitszustand und die darauf beruhende Arbeitsfähigkeit anbelangt, hat sich das kantonale Gericht zu Recht an die Invaliditätsbemessung durch die Invalidenversicherung gehalten (E. 3.2 und 4.1). Danach würde die Ausschöpfung der Restarbeitsfähigkeit ein Einkommen generieren, das - bei Anrechnung der Nominallohnentwicklung seit 2004 - rund doppelt so hoch ist wie das durch die Ausgleichskasse angerechnete; dabei ist massgeblich, dass auch invalidenversicherungsrechtlich die Ausbildung resp. die Tatsache, dass der ursprünglich erlernte Beruf heute nicht mehr existiert, zu berücksichtigen war. Aus seinem Alter allein kann der Beschwerdeführer ebenfalls nichts für sich ableiten, gilt doch die gesetzliche Vermutung für die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bis zur Vollendung des 60. Altersjahres und war er bei Erlass der leistungsaufhebenden Verfügung erst 54 Jahre alt. Fraglich ist, ob der konkrete Arbeitsmarkt die Erzielung eines Einkommens zulässt, was grundsätzlich auch unter Beachtung der genannten Aspekte zu vermuten ist, oder ob die Aktenlage zur Annahme des Gegenteils zwingt.
 
4.4 Nach Auffassung der Vorinstanz genügen die für die Zeit bis Juni 2008 nachgewiesenen erfolglosen Stellenbemühungen schon allein mangels Aktualität nicht als Nachweis dafür, dass es dem Beschwerdeführer - entgegen der gesetzlichen Vermutung - 2011 auch bei Aufbietung allen guten Willens nicht möglich gewesen sein soll, ein Erwerbseinkommen von Fr. 19'050.- zu erzielen. Der Versicherte macht dagegen geltend, er habe sich bereits anlässlich seines Leistungsbezugs bei der Arbeitslosenversicherung erfolglos um Stellen bemüht; der Nachweis weiterer Bewerbungen sei lediglich "Selbstzweck" und man verlange von ihm "ewigen Beweis", was überspitzten Formalismus darstelle.
 
4.5 Dass die Tatsache der Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit beweisbedürftig ist, wird zu Recht nicht grundsätzlich in Abrede gestellt. Die Vorinstanz hat aus dem Bezug von Leistungen der Arbeitslosenversicherung (vgl. dazu SVR 2001 EL Nr.8, P 55/99 E. 2c; Urteil 9C_416/2011 vom 19. Juli 2011 E. 4.2) resp. aus den bei den Akten liegenden, aus dem ersten Halbjahr 2008 stammenden Stellenbemühungen für die Zukunft, d.h. konkret für die Zeit ab Juli 2011, nicht auf die Unmöglichkeit einer Einkommenserzielung geschlossen. Damit hat sie weder den Rahmen freier Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG) überschritten, noch eine offensichtlich unrichtige Feststellung getroffen oder sonstwie Bundesrecht verletzt.
 
Auch wenn zu bedenken ist, dass mit zunehmendem Alter und längerer Abwesenheit vom Berufsleben die Chancen des Beschwerdeführers auf eine Anstellung tendenziell eher abnehmen, dient es nicht lediglich einem "Selbstzweck", wenn von ihm verlangt wird, sich nach einer gewissen Zeit erneut um eine Anstellung zu bemühen. Der konkrete Arbeitsmarkt verändert sich ständig, und das Finden einer geeigneten Tätigkeit drei Jahre nach Abbruch der erfolglosen Stellensuche erscheint nicht (mehr) von vornherein ausgeschlossen. Dies gilt umso mehr, als dem Beschwerdeführer hinsichtlich des streitigen Anspruchs zwar jede leidensangepasste Tätigkeit - wie etwa leichte Verpackungs- Montage- oder Kontrollarbeit (vgl. Urteile 8C_773/2009 vom 19. Februar 2010 E. 5.4; 9C_190/2009 vom 11. Mai 2009 E. 4.2) - zumutbar ist (vgl. für Leistungen der Arbeitslosenversicherung etwa Art. 16 Abs. 2 lit. b und i AVIG [SR 837.0]), indessen ausschliesslich Bewerbungen für Bürotätigkeiten aktenkundig sind. Es kann daher nicht von "ewigem Beweis" oder überspitztem Formalismus (dazu BGE 135 I 6 E. 2.1 S. 9; 134 II 244 E. 2.4.2 S. 247; 132 I 249 E. 5 S. 253; 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183) gesprochen werden, wenn für die Annahme einer weiterhin andauernden Unverwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit der Nachweis neuer erfolgloser Stellenbewerbungen verlangt wird, zumal dies nicht ununterbrochen bis zur Erfüllung des 60. Altersjahres erforderlich sein wird. Im Übrigen ist nicht nachvollziehbar, weshalb dem Leistungsansprecher die erneute Stellensuche und entsprechende Dokumentation (vgl. Art. 28 Abs. 1 und 2 ATSG) unzumutbar hätte sein sollen: Nach eigener Darstellung verfügt er über geeignete Bewerbungsdossiers, der Aufwand für Bewerbungsschreiben ist in der Regel - auch wenn eine eigene Ausstattung mit Notebook, Drucker und Internetanschluss fehlt - nicht übermässig gross und die Ausgleichskasse hätte laut Auskunft im Einspracheentscheid vom 28. November 2008 bereits eine ernsthafte Bewerbung pro Woche als genügend betrachtet.
 
4.6 Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz zu Recht die Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens und folglich die Aufhebung der Ergänzungsleistungen bestätigt. Die Beschwerde ist unbegründet.
 
5.
 
Mit dem Urteil wird das Gesuch um vorsorgliche Massnahmen, soweit es das bundesgerichtliche Verfahren betrifft, gegenstandslos.
 
6.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 2. März 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann
 
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