VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_794/2011  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_794/2011 vom 28.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_794/2011
 
Urteil vom 28. Februar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Helsana Versicherungen AG,
 
Recht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
G.________,
 
vertreten durch Fürsprecher Andreas Danzeisen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Krankenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 21. September 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1928 geborene G.________ ist bei der Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) obligatorisch krankenversichert. Sie bezieht Hauspflegeleistungen der Spitex. Im Mai 2010 ersuchte die Spitex die Helsana um Bewilligung von Pflegeleistungen von 250 Stunden pro Quartal für die Zeit vom 3. Mai bis 2. November 2010. Die Helsana teilte der Versicherten mit, es sei ein Pflegebedarf gemäss BESA-Stufe 3 ausgewiesen; für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2010 könne maximal der Betrag von Fr. 2'421.- pro Monat (Fr. 52.05 x 31 Tage x 1.5) an die Pflegekosten angerechnet werden und ab 1. August 2010 werde maximal der Betrag von Fr. 1'614.- pro Monat (Fr. 52.05 x 31 Tage) vergütet (Schreiben vom 31. Mai 2010). Nachdem die Tochter der Versicherten interveniert hatte, erhöhte die Helsana die Einstufung auf RAI Stufe 4. Sie setzte die Vergütung für die Zeit vom 1. Mai bis 31. Juli 2010 im Sinne einer Übergangslösung auf Fr. 3'228.- pro Monat (Fr. 69.40 x 31 x 1.5) und für die Zeit ab 1. August 2010, entsprechend dem Pflegeheimtarif, auf Fr. 2'152.- pro Monat (Fr. 69.40 x 31) fest. Am 19. Oktober 2010 erliess sie eine entsprechende Verfügung. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Helsana ab (Einspracheentscheid vom 14. März 2011).
 
Es folgten weitere Gesuche um Kostengutsprache für Spitexleistungen (Bedarfsmeldungen für die Zeit vom 3. November 2010 bis 2. Mai 2011 und vom 1. Januar bis 31. Juli 2011).
 
B.
 
Beschwerdeweise beantragte G.________, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und die Helsana zu verpflichten, die Kosten für die von der Spitex erbrachten Leistungen gemäss den eingereichten Bedarfsmeldungen zu übernehmen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde teilweise gut. Es hob die Verfügung und den Einspracheentscheid insoweit auf, als der Versicherten bis Ende September 2010 die volle Übernahme der Spitex-Kosten verweigert worden sei. Die Versicherte habe bis Ende September 2010 Anspruch auf Vergütung der in Rechnung gestellten Spitex-Kosten. Soweit darüber hinausgehend, wies es die Beschwerde ab (Dispositiv-Ziffer 1). Es wurden keine Gerichtskosten erhoben (Dispositiv-Ziffer 2). Der Versicherten wurde eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 978.75 (einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer) zugesprochen (Dispositiv-Ziffer 3; Entscheid vom 21. September 2011).
 
C.
 
Die Helsana erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei soweit aufzuheben, als er sie in Abweichung von der Verfügung vom 19. Oktober 2010 (bestätigt mit Einspracheentscheid vom 14. März 2011) über den 1. Mai 2010 hinaus zur Übernahme der vollen Spitex-Kosten bis Ende September 2010 verpflichte. Dispositiv-Ziffer 3 des kantonalen Entscheides sei aufzuheben.
 
Die Versicherte lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
 
1.2 Im kantonalen Entscheid werden die Voraussetzungen, unter welchen die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der Krankenpflege zu Hause zu übernehmen hat, zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
2.1 Nicht angefochten ist der vorinstanzliche Entscheid insoweit, als die Leistungspflicht der Helsana wegen eines ausgeprägten Missverhältnisses zwischen Spitex- und Pflegeheimkosten grundsätzlich auf die Pflegeheimkosten beschränkt wird. Die Beschwerde der Helsana richtet sich gegen die Übergangsfrist, die der angefochtene Entscheid der Versicherten bis Ende September 2010 einräumt, während welcher diese Anspruch auf Vergütung der in Rechnung gestellten (höheren) Spitex-Kosten habe. Die Vorinstanz stützte sich hiefür auf den allgemeinen Grundsatz der Schadenminderungspflicht und eine analoge Anwendung der zu Art. 6 ATSG ergangenen Rechtsprechung, wonach die Arbeitsunfähigkeit unter Berücksichtigung des bisherigen Berufes festzusetzen ist, solange von der versicherten Person vernünftigerweise nicht verlangt werden kann, ihre restliche Arbeitsfähigkeit in einem anderen Berufszweig zu verwerten, wofür ihr eine gewisse Übergangsfrist eingeräumt wird (BGE 130 V 343 E. 3.1-3.1.2). Die Vorinstanz beabsichtigte damit, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Beschwerdegegnerin ein sofortiger Wechsel von der Haus- zur Heimpflege (mit Wohnungskündigung, Umzug ins Heim etc.) nicht zugemutet werden könne.
 
2.2 Die im Sinne des vorinstanzlichen Entscheides auf die Vergütung der tieferen Pflegeheimkosten beschränkte Leistungspflicht der Beschwerdeführerin hat ihren Grund darin, dass die Versicherte verpflichtet ist, sich im Sinne des Schadenminderungsgrundsatzes zu verhalten (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Meyer [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2007, S. 521 f. Rz. 376 f.; Hardy Landolt, Pflegerecht, Band II, 2002, S. 98 Rz. 157 und S. 686 f. Rz. 1295; vgl. auch Brigitte Pfiffner Rauber, Das Recht auf Krankheitsbehandlung und Pflege, Diss. Zürich 2003, S. 270 ff.; Dieselbe, Pflegeheim oder Hauspflege?, Zur Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, in: AJP 2000 S. 1403 ff.). Insofern ist der zu beurteilende Sachverhalt mit der Art. 6 ATSG zugrunde liegenden Konstellation wohl vergleichbar. Die Rechtsprechung gewährt in diesem Zusammenhang eine den Umständen angemessene Anpassungszeit, die mehrere Monate betragen kann (vgl. eine Übersicht zur einschlägigen Rechtsprechung bei Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2009, N. 21 zu Art. 6 ATSG). Sachlich sowie wertungsmässig (teleologisch) und daher für eine Analogie-Anwendung weitaus näher liegend sind jedoch - wenn überhaupt - die Fälle, in welchen Versicherte nach einem Spitalaufenthalt in einem Pflegeheim untergebracht werden müssen; die Praxis gesteht diesfalls eine Übergangszeit von bis zu einem Monat zu, während welcher noch die stationären Leistungen ausgerichtet werden (BGE 124 V 362 E. 2c S. 366 f.; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 20/06 vom 20. Oktober 2006 E. 4.1; K 175/05 vom 12. April 2006 E. 2.2.1; K 44/05 vom 20. Oktober 2005 E. 2.4; K 157/04 vom 14. April 2005 E. 2.3; Eugster, a.a.O., S. 529 Rz. 399; Landolt, a.a.O., S. 618 f. Rz. 1171). Die Einräumung dieser Übergangsfrist wird damit gerechtfertigt, dass die versicherte Person Dispositionen für die Umplatzierung zu treffen hat (BGE 115 V 38 E. 3d S. 53; Urteil K 20/06 vom 20. Oktober 2006 E. 4.1). Sie ist hingegen nicht angezeigt, wenn nach der Hospitalisierung eine Rückkehr nach Hause beabsichtigt und möglich ist (Eugster, a.a.O., S. 529 Rz. 399). Aus derselben Überlegung fällt auch bei der Beschwerdegegnerin eine Übergangsfrist von vornherein ausser Betracht: Nach den für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid (vgl. E. 1.1) wäre der Beschwerdegegnerin ein Heimeintritt möglich gewesen; der Grund, weshalb er nicht erfolgt ist, liegt einzig darin, dass sie weiterhin - unterstützt durch die Leistungen der Spitex - in der Wohnung bleiben wollte. Unter diesen Umständen hatte die Versicherte keine Vorbereitungen für einen Umzug ins Pflegeheim zu treffen, welche allenfalls, was hier offenbleiben kann, die Einräumung einer Übergangsfrist zu rechtfertigen vermöchten (vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 95/03 vom 11. Mai 2004 E. 4, wo eine zwingende Übergangsfrist ebenso wenig zur Diskussion stand). Die von der Beschwerdegegnerin vernehmlassungsweise zu diesem Punkt neu vorgetragenen Vorbringen sind nicht zu hören. Sie sind unzulässig, weil die Beschwerdegegnerin damit nicht auf ein nach Art. 99 Abs. 1 BGG zulässiges Novum antwortet (vgl. Ulrich Meyer/Johanna Dormann, Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 2 zu Art. 102 BGG; Urteil 1B_331/2011 vom 18. Oktober 2011 E. 1.3).
 
2.3 Nach dem Gesagten besteht, entgegen dem angefochtenen Entscheid, kein Anlass für die Einräumung einer bis Ende September 2010 währenden Übergangsfrist, während welcher die Beschwerdeführerin die höheren Spitex-Kosten zu übernehmen hätte. Vielmehr wäre die Helsana berechtigt gewesen, ihre Leistungen ab 1. Mai 2010 auf die dem Pflegeheimtarif entsprechenden Kosten zu beschränken. Ihr Vorgehen, bis Ende Juli 2010 150 % und anschliessend 100 % des Pflegeheimtarifs zu übernehmen, lässt sich nicht beanstanden.
 
3.
 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens werden die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die obsiegende Beschwerdeführerin kann keine Parteientschädigung beanspruchen (Art. 68 Abs. 3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 21. September 2011 aufgehoben.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 28. Februar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).