VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_935/2011  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_935/2011 vom 25.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_935/2011
 
Urteil vom 25. Februar 2012
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
 
Gerichtsschreiberin Weber Peter.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
S.________,
 
vertreten durch seinen Vater,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
beco Berner Wirtschaft, Arbeitslosenkasse, Lagerhausweg 10, 3018 Bern,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Arbeitslosenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungs-gerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungs-rechtliche Abteilung, vom 3. November 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1984 geborene S.________ meldete sich am 16. August 2009 zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung an. Auf den Formularen "Angaben der versicherten Person" betreffend die Kontrollperioden Juli und August 2009 gab er an, in diesen Monaten je einen Tag für die Temporärfirmen X.________ bzw. Y.________ gearbeitet zu haben. Mit Schreiben vom 15. September 2009 forderte ihn das beco, Berner Wirtschaft, Arbeitslosenkasse (nachfolgend: beco) unter anderem auf, bis spätestens 31. Oktober 2009 die Bescheinigung über die im Juli und August 2009 erzielten Zwischenverdienste einzureichen. Im Zusammenhang mit später einverlangten Unterlagen hielt der Vater des Versicherten als dessen Vertreter in einer E-mail fest, dass der Versicherte das genannte Schreiben vom 15. September 2009 nie erhalten habe, und er deshalb die offenbar beigelegten Formulare betreffend Zwischenverdienst nicht termingerecht habe einsenden können. Mit Verfügung vom 19. März 2010 lehnte das beco die Anspruchsberechtigung ab 1. Juli bis 31. August 2009 zufolge unvollständiger Akten ab und bestätigte dies mit Einspracheentscheid vom 29. April 2010.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 3. November 2011 ab.
 
C.
 
Die als "Revision/Fristwiederherstellung/Wiedererwägung des Urteils vom 3. November 2011" bezeichnete Eingabe des Versicherten vom 26. November 2011 wurde vom Verwaltungsgericht ans Bundesgericht überwiesen. Auf Rückfrage des Bundesgerichts lässt S.________ mit ergänzter Eingabe vom 14. Dezember 2011 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen unter anderem mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
 
Das beco schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung, insbesondere dessen rechtzeitige und korrekte Geltendmachung (Art. 20 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 und 2 AVIV) sowie die diesbezüglichen Säumnisfolgen (Art. 20 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 29 Abs. 3 AVIV) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Wie im angefochtenen Entscheid zudem richtig ausgeführt wurde, handelt es sich bei der in Art. 20 Abs. 3 Satz 1 AVIG für die Geltendmachung des Entschädigungsanspruchs gesetzten Frist um eine Verwirkungsfrist. Sie ist weder der Erstreckung noch der Unterbrechung zugänglich (Art. 40 Abs. 1 ATSG), kann aber unter gewissen - hier nicht zur Diskussion stehenden - Voraussetzungen wiederhergestellt werden (Art. 41 ATSG; BGE 117 V 244 E. 3a S. 245). Nach der Rechtsprechung tritt die Verwirkungsfolge auch dann ein, wenn der Anspruch zwar innert der Anmeldefrist geltend gemacht wird, die versicherte Person aber innerhalb dieses Zeitraums oder einer ihr allenfalls - gestützt auf Art. 29 Abs. 3 AVIV - gesetzten Nachfrist nicht alle für die Anspruchsbeurteilung erforderlichen Unterlagen beibringt. Dies gilt jedoch - da die Verweigerung der Leistungen im Säumnisfall eine für den Betroffenen schwerwiegende Rechtsfolge darstellt - nur, wenn die Arbeitslosenkasse die Antrag stellende Person ausdrücklich und unmissverständlich auf die Verwirkungsfolge bei verspäteter Einreichung der für die Beurteilung des Leistungsanspruchs wesentlichen Unterlagen hingewiesen hat (ARV 2002 S. 186, C 312/01 E. 3c; Urteil 8C_85/2011 E. 3 vom 10. Mai 2011 mit Hinweis).
 
3.
 
Streitig und zu prüfen ist vorliegend die Frage, ob der Anspruch des Versicherten auf Arbeitslosenentschädigung für die Monate Juli und August zu Recht zufolge Aktenunvollständigkeit als verwirkt abgelehnt wurde.
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass der Beschwerdeführer entsprechend den von ihm ausgefüllten Formularen "Angaben der versicherten Person" in den Kontrollperioden Juli und August 2009 einen Zwischenverdienst erzielt hat und er trotz des Schreibens vom 15. September 2009, mit welchem ihn das beco aufgefordert hat, dies nachzuholen, andernfalls der entsprechende Leistungsanspruch verfalle, die diesbezüglichen Bescheinigungen nicht eingereicht hat. Das kantonale Gericht hat erwogen, dem Beschwerdeführer habe bereits aufgrund der Angaben in den Formularen "Angaben der versicherten Person" klar sein müssen, welche Unterlagen er einzureichen hatte und dass er ohne fristgerechte Einreichung derselben seines Anspruchs für die fraglichen Kontrollmonate verlustig ging. Damit sei die Verwaltung ihrer Informationspflicht genügend nachgekommen, ganz abgesehen davon, dass auch von den Versicherten allgemein ein gewisses Minimum an Achtsamkeit verlangt werden könne. Unter den gegebenen Umständen spiele es letztlich keine Rolle, ob der Beschwerdeführer das Schreiben vom 15. September 2009 erhalten habe oder nicht. Dieses sei im Sinne einer Dienstleistung seitens der Arbeitslosenkasse zu verstehen, dessen Erhalt sei indessen für die Auslösung des Fristenlaufs hinsichtlich der Geltendmachung des Entschädigungsanspruches nicht von entscheidender Bedeutung. Die Nichteinhaltung der - dem Versicherten aus den genannten Formularen sowie dem Besuch des vom beco regelmässig durchgeführten Infotages bekannten - dreimonatigen Frist habe somit zur Verwirkung des Anspruchs für die betreffenden Kontrollperioden geführt, ohne dass diese Rechtsfolge von der Arbeitslosenkasse nochmals habe angedroht werden müssen.
 
4.2 Mit Blick auf die geltende Rechtsprechung (E. 2 hievor) kann dieser Auffassung der Vorinstanz nicht beigepflichtet werden. Mit Ausnahme des Schreibens vom 15. September 2009 ist entsprechend der Aktenlage kein den rechtsprechungsgemässen Anforderungen nur annähernd genügender Hinweis auf die Verwirkungsfolgen bei verspäteter Einreichung der konkret eingeforderten Unterlagen erfolgt. Entgegen der Vorinstanz vermögen die Formulare "Angaben der versicherten Person" bzw. der Besuch des Infotages diesen Anforderungen in keiner Weise zu genügen. Lediglich das Schreiben vom 15. September 2009 enthielt eine Androhung der gesetzlichen Verwirkungsfolge (Art. 20 Abs. 3 Satz 1 AVIG) für den Fall dass die einverlangten, vom Arbeitgeber (X.________/Y.________) ausgefüllten Zwischenverdienstbescheinigungen nicht rechtzeitig bis spätestens 31. Oktober 2009 eingereicht würden. Der Beschwerdeführer macht diesbezüglich in seiner ausführlichen Eingabe erneut geltend, das besagte Schreiben nicht erhalten zu haben, womit er sinngemäss eine Verletzung von Art. 20 Abs. 3 AVIG i.V. mit Art. 29 Abs. 3 AVIV rügt. Zudem bemängelt er weiter u.a. eine unvollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts sowie eine unzulässige antizipierte Beweiswürdigung.
 
4.3 Im Bereich des vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Sozialversicherungsrechts besteht zwar keine Beweisführungslast, doch haben die Parteien die Beweislast insofern zu tragen, als der Entscheid im Falle der Beweislosigkeit zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte, sofern es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (SVR 2009 UV Nr. 43 S. 150, 8C_770/2008 E. 5.5.3; vgl. auch Urteil 9C_961/2008 vom 30. November 2009 E. 3.1 mit Hinweis). Nachdem das Schreiben vom 15. September 2009 unbestrittenermassen nicht eingeschrieben zugestellt worden ist und der Beschwerdeführer dessen Erhalt bestreitet, ist aufgrund der bestehenden Aktenlage nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt, dass der Versicherte rechtsprechungsgemäss tatsächlich je explizit aufgefordert worden war, die benötigten Unterlagen einzureichen mit der erforderlichen Androhung der Verwirkungsfolge bei verspäteter Einreichung. Nachdem auch keine weiteren verhältnismässigen Abklärungsmassnahmen ersichtlich sind, welche diese Frage klären könnten, hat die Folgen der nicht bewiesenen Zustellung des Schreibens vom 15. September 2009 nach dem Gesagten die Beschwerdegegnerin zu tragen. Somit kann dem Versicherten nicht vorgeworfen werden, die benötigten Unterlagen auf Aufforderung hin nicht rechtzeitig eingereicht zu haben. Dem Beschwerdeführer darf aus seinem Versäumnis kein Rechtsnachteil erwachsen. Die Ablehnung des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung für die Zeit vom 1. Juli bis 31. August 2009 zufolge unvollständiger Akten erfolgte daher in Verletzung von Bundesrecht. Demnach sind der Einsprache- und der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und die Sache ist an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie in Nachachtung der entsprechenden Vorschriften (E. 2) über den Entschädigungsanspruch für die besagte Zeit erneut befinde. Bei dieser Ausgangslage erübrigt es sich, auf die zahlreichen weiteren Einwendungen des Beschwerdeführers näher einzugehen.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der obsiegende Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung, da er nicht anwaltlich vertreten ist und keine besonderen Verhältnisse vorliegen, die eine Entschädigung für weitere Umtriebe rechtfertigten (Art. 1 und 11 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht, SR 173.110.210.3; StR 65/2010 S. 84; Urteil 9C_1094/2009 vom 31. Mai 2010 E. 4 mit Hinweis). Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 3. November 2011 und der Einspracheentscheid des beco Berner Wirtschaft vom 29. April 2010 aufgehoben werden und die Sache an die beco zurückgewiesen wird, damit sie über den Taggeldanspruch neu entscheide.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 25. Februar 2012
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Die Gerichtsschreiberin: Weber Peter
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).