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Informationen zum Dokument  BGer 9C_815/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_815/2011 vom 22.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_815/2011
 
Urteil vom 22. Februar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
1. D.________,
 
2. S.________,
 
beide vertreten durch
 
Rechtsanwältin Dr. Marianne Klöti-Weber,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Einwohnergemeinde X.________,
 
handelnd durch den Gemeinderat,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Berufliche Vorsorge,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Personalrekursgerichts des Kantons Aargau
 
vom 25. März 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
D.________ (geboren 1948) und M.________ (geboren 1948) arbeiteten bei der Einwohnergemeinde X.________. Bis 31. Dezember 2007 waren die Angestellten der Einwohnergemeinde für die berufliche Vorsorge bei der Aargauischen Pensionskasse, seit 1. Januar 2008 bei der Transparenta Sammelstiftung für berufliche Vorsorge (im Folgenden: Transparenta) versichert. Da mit dem Wechsel der Vorsorgeeinrichtung ein Systemwechsel vom Leistungs- zum Beitragsprimat verbunden war, wurde von der Einwohnergemeinde X.________ eine teilweise Besitzstandsgarantie beschlossen. D.________ und M.________ liessen sich per 30. April 2010 vorzeitig pensionieren. Gestützt auf die Besitzstandsgarantie erhielten D.________ und M.________ Zusatzgutschriften, über deren Höhe die Versicherten und die Einwohnergemeinde X.________ nicht einig waren.
 
Am 17. März 2010 liessen D.________ und M.________ Klage beim Personalrekursgericht des Kantons Aargau einreichen mit dem Antrag, die Einwohnergemeinde X.________ sei zu verpflichten, diejenigen Zusatzgutschriften in die Pensionskasse einzuzahlen, welche notwendig sind, um ihren Besitzstand zu wahren. Am 21. August 2010 verstarb M.________, worauf seine Witwe S.________ in den Prozess eintrat. Mit Entscheid vom 25. März 2011 wies das Personalrekursgericht die Klage ab.
 
B.
 
D.________ und S.________ lassen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen, mit welcher sie den vorinstanzlich gestellten Antrag erneuern; eventuell sei das Verfahren zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Die Einwohnergemeinde X.________ und das Personalrekursgericht äussern sich in ablehnendem Sinne zur Beschwerde, worauf D.________ und S.________ an ihrem Rechtsbegehren festhalten lassen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
C.
 
Mit Verfügung des Präsidenten der II. sozialrechtlichen Abteilung vom 15. November 2011 wurden die Parteien sowie das Personalrekursgericht aufgefordert, im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels dazu Stellung zu nehmen, ob das kantonale Personalrekursgericht in sachlich-funktioneller Hinsicht zuständig gewesen sei, den vorliegend angefochtenen Entscheid zu erlassen.
 
Das Personalrekursgericht und die Parteien liessen sich in der Folge zu dieser Frage vernehmen, wobei alle die Zuständigkeit der Vorinstanz bejahten.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde oder Klage eingetreten ist. Hat die Vorinstanz übersehen, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlte und hat sie materiell entschieden, ist dies im Rechtsmittelverfahren von Amtes wegen zu berücksichtigen mit der Folge, dass der angefochtene Entscheid aufgehoben wird (BGE 128 V 89 E. 2a, 119 V 11 E. 1 S. 12; SVR 2011 KV Nr. 9 S. 39; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts B 91/04 vom 5. Oktober 2005).
 
2.
 
Nach Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BVG in der seit 1. Januar 2005 in Kraft stehenden, vorliegend anwendbaren Fassung bezeichnet jeder Kanton ein Gericht, das als letzte kantonale Instanz über Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet. Nach der Rechtsprechung können unter die Streitigkeiten im Sinne dieser Bestimmung auch solche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer fallen, soweit es dabei um spezifische Fragen der beruflichen Vorsorge geht, wie etwa um die BVG-rechtliche Verpflichtung des Arbeitgebers, den Beitragsanteil des Arbeitnehmers vom Lohn abzuziehen und der Vorsorgeeinrichtung zu überweisen oder um arbeitsvertragliche oder öffentlich-rechtliche Beitragsverpflichtungen des Arbeitgebers zugunsten der Vorsorgeeinrichtung (SZS 1990 S. 201, B 5/87). Im Urteil B 36/99 vom 15. März 2000 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht diese Rechtsprechung bestätigt. Es hielt wiederum fest, dass die sachliche Zuständigkeit der in Art. 73 BVG bezeichneten Gerichte auch gegeben sei, wenn sich im Prozess Arbeitgeber und Arbeitnehmer gegenüberstehen und es um eine spezifische berufsvorsorgerechtliche Frage im engeren oder weiteren Sinn geht. Ebenso als Streitigkeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemäss dieser Bestimmung qualifizierte das Eidgenössische Versicherungsgericht das Begehren um Nachzahlung von Beiträgen, das heisst Meldung eines höheren versicherten Verdienstes und Bezahlung entsprechend höherer Beiträge, wobei es die Passivlegitimation der Gemeinde im Klageverfahren bejahte (SZS 2002 S. 499, B 4/99).
 
3.
 
3.1 Im vorliegenden Fall ist die Höhe der Zusatzgutschriften streitig, auf welche die Beschwerdeführer aufgrund der von der Einwohnergemeinde X.________ dem Personal beim Übergang von der Aargauischen Pensionskasse zur Transparenta und bei dem damit einhergehenden Systemwechsel gewährten teilweisen Besitzstandsgarantie Anspruch haben. Vom Umfang der Zusatzgutschriften, welche die Einwohnergemeinde X.________ der Transparenta zugunsten des Beschwerdeführers 1 als ehemaligem Mitarbeiter und der Beschwerdeführerin 2, Witwe des am 21. August 2010 verstorbenen früheren Mitarbeiters M.________, zu überweisen hat, hängt die Höhe der Altersrente des Beschwerdeführers 1 und der Witwenrente der Beschwerdeführerin 2 ab. Es handelt sich demnach um einen Rechtsstreit zwischen ehemaligen Arbeitnehmern und ehemaliger Arbeitgeberin; zu prüfen sind spezifische Fragen der beruflichen Vorsorge, vergleichbar mit denjenigen, welche vorstehend (vgl. E. 2 hievor) wiedergegeben wurden. Dass sich die eingeklagten Ansprüche nicht gegen die Pensionskasse richten, ist in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit nicht entscheidend, weil von Art. 73 Abs. 1 BVG auch Klagen des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber erfasst werden. Aus diesem Grund lässt sich die Zuständigkeit des Personalrekursgerichts entgegen E. 2 des angefochtenen Entscheides nicht daraus ableiten, dass die Streitfrage, ob die Einwohnergemeinde X.________ den Beschwerdeführern weitere Zusatzgutschriften leisten muss, das Anstellungsverhältnis und nicht das Verhältnis zwischen den Versicherten oder der Gemeinde einerseits und der Transparenta andererseits betrifft.
 
3.2
 
3.2.1 Die im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels von der Vorinstanz und den Parteien vorgetragenen Argumente sind ebenfalls nicht geeignet, die Zuständigkeit des Berufsvorsorgegerichts zur Beurteilung der beim Personalrekursgericht eingereichten Klage vom 17. März 2010 in Zweifel zu ziehen.
 
3.2.2 Ob es sich, wie die Einwohnergemeinde geltend macht, bei den im Zusammenhang mit dem Wechsel der Pensionskasse und dem Übergang zum Beitragsprimat geleisteten Gutschriften, die auf einem von der Einwohnergemeindeversammlung vom 11. September 2007 bewilligten Verpflichtungskredit beruhen, um freiwillige Leistungen der Arbeitgeberin zugunsten des Personals handelt, kann offenbleiben, da sich deswegen an der Zuständigkeit des Gerichts nach Art. 73 BVG nichts ändern würde (BGE 130 V 80 E. 3.3 S. 84 f.)
 
3.2.3 Die von der Vorinstanz zugunsten ihres Standpunktes angeführten Urteile wiederum sind allesamt nicht einschlägig: BGE 122 III 57 betrifft die Auslegung und Anwendung einer arbeitsvertraglichen Klausel; offensichtlich lag keine berufsvorsorgerechtliche Streitigkeit vor. BGE 127 V 29 hatte ein kommunales Reglement zum Gegenstand, das den Übergang zwischen der Aufgabe der Erwerbstätigkeit und dem Eintritt der Beamten ins Rentenalter versichert. In BGE 120 V 26 verneinte das Eidgenössische Versicherungsgericht das Vorliegen eines spezifisch vorsorgerechtlichen Streits und damit die Zuständigkeit der Rechtspflegeorgane nach Art. 73 BVG in einem Fall, in welchem der Arbeitnehmer gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber auf Auszahlung des Differenzbetrages zwischen den Leistungen der Pensionskasse und der höheren Minimalleistung bei Invalidität gemäss Gesamtarbeitsvertrag klagte. In BGE 120 V 340 ging es um die vorsorgerechtliche Durchsetzbarkeit gesamtarbeitsvertraglicher Bestimmungen. Als unzuständig bezeichnet wurde der BVG-Richter auch zur Beurteilung der Frage, ob ein Versicherter gestützt auf einen Gesamtarbeitsvertrag höhere Freizügigkeitsleistungen beanspruchen kann, als ihm nach Gesetz und Reglement zustehen. Diesen Fällen ist gemeinsam, dass ihnen kein berufsvorsorgespezifischer Rechtsstreit zugrunde gelegen hat.
 
3.2.4 Schliesslich bringen auch die Beschwerdeführer keine stichhaltigen Argumente für die sachliche Zuständigkeit des klageweise angerufenen Personalrekursgerichts vor. Es trifft zu, dass sich der eingeklagte Anspruch nicht im Verhältnis zwischen der Einwohnergemeinde X.________ und deren Pensionskasse begründet. Hingegen liegt eine Streitigkeit zwischen ehemaligen Arbeitnehmern und Arbeitgeberin über einen typischen berufsvorsorgerechtlichen Anspruch (behauptetes Recht auf höhere Zusatzgutschriften) vor, deren Beurteilung dem nach Art. 73 Abs. 1 BVG zuständigen Gericht, somit dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, obliegt (§ 1 der Verordnung des Kantons Aargau über die Rechtspflege in der beruflichen Vorsorge vom 2. Juli 1984; SAR 271.133). Dementsprechend ist der angefochtene Entscheid zufolge sachlicher Unzuständigkeit des Personalrekursgerichts, welches auf Nichteintreten auf die Klage hätte erkennen sollen, von Amtes wegen aufzuheben.
 
4.
 
Dieser Verfahrensausgang rechtfertigt weder die Auferlegung von Gerichtskosten noch die Zusprechung von Parteientschädigungen (Art. 66, 68 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen und der Entscheid der Personalrekurskommission des Kantons Aargau vom 25. März 2011 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteientschädigungen zugesprochen.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Personalrekursgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 22. Februar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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