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Informationen zum Dokument  BGer 9C_707/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_707/2011 vom 20.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_707/2011
 
Urteil vom 20. Februar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
ASSURA Kranken- und Unfallversicherung, avenue C.-F. Ramuz 70, 1009 Pully,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________, vertreten durch
 
Advokat Dr. Claude Schnüriger,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Krankenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft
 
vom 3. August 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.________, geboren 1976, stürzte am 19. März 1984 beim Rollschuhlaufen und brach sich die oberen Frontzähne ab. Die damalige Krankenversicherung kam für die zahnärztliche Behandlung auf (Kunststoff-Aufbauten), ebenso für die Versorgung mit sog. Veneers (Porzellan-Zahnschalen) im Jahre 1993. Zwischen 22. Juni und 8. Juli 2010 begab sich B.________ zur Versorgung mit neuen Veneers bei Dr. med. H.________, eidg. dipl. Zahnarzt, in Behandlung. Am 5. August 2010 ersuchte B.________ die Assura Kranken- und Unfallversicherung, Pully (im Folgenden: Assura), unter Bezugnahme auf einen Befund/Kostenvoranschlag des Dr. med. H.________ vom 23. Juni 2010, um Übernahme der Kosten für diese Behandlung (in Höhe von Fr. 2'399.70) und machte geltend, die alten Schalen seien stark gelb verfärbt und insuffizient (gewesen). Die Assura teilte B.________ am 15. September 2010 mit, gestützt auf die Einschätzung ihres Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. S.________ könne sie "keine medizinische Notwendig- und Wirtschaftlichkeit für die Neuversorgung" erkennen, Röntgen- und Fotoaufnahme liessen auf vorwiegend ästhetische Gründe der Behandlung schliessen. Nach Einwänden des B.________ hielt die Assura am 22. Oktober 2010 an ihrer Beurteilung fest und erliess am 30. November 2010 eine leistungsablehnende Verfügung. Die hiegegen erhobene Einsprache des B.________ wies sie mit Einspracheentscheid vom 18. Januar 2011 ab.
 
B.
 
In Gutheissung der Beschwerde des B.________ hob das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, den Einspracheentscheid mit Entscheid des Präsidenten vom 3. August 2011 auf und verpflichtete die Assura, B.________ für die Zahnbehandlung den Betrag von Fr. 2'399.70 zu bezahlen sowie ab 28. Januar 2011 Verzugszinsen von 5 % zu leisten.
 
C.
 
Die Assura führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Feststellung, dass die zahnärztliche Behandlung keine Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung darstelle.
 
B.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
2.1 Letztinstanzlich steht ausser Frage, dass der Beschwerdeführer am 19. März 1984 einen Unfall erlitten und sich dabei die oberen Frontzähne abgebrochen hat. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie eine Leistungspflicht der Beschwerdeführerin für den im Sommer 2010 erfolgten Ersatz der Zahnschalen (sog. Veneers) bejahte. Dabei fällt als Anspruchsgrundlage für die fragliche Kostenübernahme einzig Art. 31 Abs. 2 KVG in Betracht, da eine unmittelbar gestützt auf Art. 17 ff., insbesondere Art. 17 lit. b der Verordnung des EDI über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vom 29. September 1995 (KLV; SR 832.112.31) leistungspflichtige (Vor-)Erkrankung der oberen Frontzähne anerkanntermassen nicht besteht.
 
2.2 Nach der Rechtsprechung bleibt die Krankenversicherung bei unfallbedingten Zahnschäden auch für Spätfolgen des Unfalls leistungspflichtig (BGE 126 V 319 E. 4a S. 321; Urteil K 69/02 vom 21. Juli 2004 E. 3.2). Der Anspruch beschränkt sich somit nicht auf eine einmalige zahnärztliche Versorgung, sondern umfasst später notwendig werdende Behandlungen unter anderem dann, wenn die erstmalige Versorgung zufolge normaler Abnützung oder Alterung nicht mehr zweckmässig ist (Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Ulrich Meyer [Hrsg.], SBVR XIV, 2007, Rz. 455).
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht erwog, angesichts des bereits erfolgten Ersatzes der Veneers sei eine zusätzliche medizinische Beurteilung entbehrlich. Die sich bei den Akten befindlichen, beweismässig im Vordergrund stehenden Fotos (vom 23. Juni 2010) wiesen zwar einen Rotstich auf, liessen aber gleichwohl eine deutliche Verfärbung der oberen Frontzähne erkennen. Die Schilderung des Versicherten, er sei von Personen aus seinem Umfeld (Freundin, Geschäftspartner etc.) auf die Zahnverfärbung angesprochen worden, erscheine glaubhaft. Ästhetische Gründe seien wohl Anlass für die zahnärztliche Konsultation gewesen. Unter Berücksichtigung, dass die Lebensdauer der Veneers (von 15 bis 20 Jahren) ohnehin bald abgelaufen wäre, rechtfertige sich die Anwendung eines "geringeren" Massstabes. Zudem bestehe im Bereich der Frontzähne eine grössere ästhetische Sensibilität, welcher die Rechtsprechung Rechnung trage, indem sie eine Leistungspflicht der Krankenversicherung nicht erst bei einem entstellenden, sondern bereits bei einem unbefriedigenden Zustand bejahe. Ein unbefriedigender Zustand sei im Fall des Beschwerdeführers gestützt auf die Fotos und die Äusserungen aus seinem Umfeld eingetreten, so dass die zahnärztliche Behandlung aus ästhetischer Sicht indiziert gewesen sei.
 
3.2 Die Beschwerde führende Krankenversicherung hält fest, die Frontzähne seien in ihrer Funktionalität nicht beeinträchtigt gewesen. Sie rügt im Wesentlichen, das kantonale Gericht habe sich über das Kriterium der "entstellenden" Abweichung von der Norm hinweggesetzt und eine Leistungspflicht bereits als gegeben erachtet, obwohl es sich nur um eine "unbefriedigende" Abweichung gehandelt habe. Damit setze die Vorinstanz den strengeren bundesgerichtlichen Massstab in unzulässiger Weise auf ein Niveau herab, welches dazu führe, dass faktisch jede ästhetische Behandlung im Gesicht zu Lasten der Krankenversicherung gehe. Rein subjektive Faktoren (Äusserungen des Umfeldes, subjektiv empfundene Notwendigkeit der Behandlung) könnten nicht ausschlaggebend sein und negative Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit seien weder vom Versicherten geltend gemacht noch vorinstanzlich geprüft worden. Schliesslich verstosse der angefochtene Entscheid gegen Art. 26 ATSG, indem die Verzugszinspflicht ab Rechnungsstellung bejaht werde.
 
3.3 Der Beschwerdegegner bringt insbesondere vor, es gehe nicht nur um einen ästhetischen Faktor, sondern es sei an den Rändern der Veneers Karies festgestellt worden. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gehöre im Bereich der oberen Frontzähne bereits die Herstellung eines ästhetisch befriedigenden Zustandes zur Pflichtleistung der sozialen Krankenversicherung. Das von der Beschwerdeführerin zitierte Urteil K 135/04 vom 17. Januar 2006 betreffe eine Fettschürze und sei für den vorliegenden Fall nicht einschlägig. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung sei nicht zu beanstanden.
 
4.
 
4.1 Es steht fest, dass der Versicherte im Jahre 2010 seinen Zahnarzt nicht aufsuchte, weil die Funktionsfähigkeit der Keramikschalen nachgelassen hätte, sondern weil er sich durch die Gelbfärbung seiner Frontzähne beeinträchtigt fühlte. Die nachträglich geltend gemachte Karies am Rand der Fugen diagnostizierte der Zahnarzt erst anlässlich der Entfernung der Veneers. Der Beschwerdegegner bestreitet nicht, dass die Veneers - während beschränkter Zeit - ihre Funktion weiterhin hätten erfüllen können. Indes macht er geltend, die Funktionsfähigkeit dieser im Zeitpunkt der Entfernung 17-jährigen Schalen wäre bei einer Lebensdauer von höchstens 20 Jahren nicht mehr allzu lange gewährleistet gewesen.
 
4.2 Die Beschwerdeführerin stellt nicht in Abrede, dass die Zahnschalen in nächster Zukunft hätten ersetzt werden müssen. Zwar kann daraus allein auch im Rahmen der Ansprüche gegenüber der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei unfallbedingten Zahnschäden keine Leistungspflicht abgeleitet werden, da dies eine unzulässige Anspruchsausdehnung bedeutete. Wenn und soweit eine Behandlung rein vorsorglich im Hinblick auf eine bloss mögliche künftige Schädigung durchgeführt wird (vgl. BGE 118 V 107 E. 7c S. 117 mit Hinweisen [betreffend methadonunterstützte Langzeitbehandlung]), fällt eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung auch im Rahmen zahnärztlicher Behandlungen ausser Betracht.
 
4.3
 
4.3.1 Das Vorgehen des Beschwerdegegners, welcher die Beschwerdeführerin erst nach bereits erfolgtem Ersatz der Veneers um Kostenübernahme ersuchte, als die Erhebung weiterer Beweise nicht mehr möglich war, weckt gewisse Bedenken. Dies gilt umso mehr, weil keine medizinische Dringlichkeit für die Behandlung bestand, zumal der Kariesbefall erst nachträglich entdeckt wurde (E. 4.1 hievor). In Anbetracht der besonderen Umstände hält die vorinstanzlich bejahte Leistungspflicht der Beschwerdeführerin im Ergebnis aber aus nachfolgend dargelegten Gründen vor Bundesrecht stand.
 
4.3.2 Welches Ausmass die Verfärbung der oberen Frontzähnen des Beschwerdegegners erreichte, lässt sich nicht mehr mit letzter Sicherheit feststellen, weil das Leistungsgesuch erst nach erfolgtem Austausch erfolgte (E. 4.3.1 hievor). Die vorinstanzliche Feststellung, die Verfärbung sei "deutlich sichtbar" gewesen, kann mit Blick auf die im Recht liegenden Fotos - die zwar einen deutlichen Rotstich aufweisen, eine Verfärbung aber eindeutig belegen - und der glaubhaft gemachten Äusserungen von Personen aus dem Umfeld des Versicherten, aber nicht als offensichtlich unrichtig, geschweige denn willkürlich, bezeichnet werden. Sie ist daher letztinstanzlich verbindlich. Ohne dass geprüft werden müsste, ob das Ausmass dieser Verfärbung bereits für sich allein eine (ausnahmsweise) Leistungspflicht der Krankenversicherung begründete (hiezu Urteil 9C_126/2008 vom 30. Oktober 2008 E. 4.1), kann die Verfärbung der Zahnschalen jedenfalls als Indiz gewertet werden, dass diese von Dr. med. H.________ am 23. Juni 2010 zu Recht als "alte, insuffiziente Veneer" bezeichnet wurden, deren Funktionstauglichkeit in absehbarer Zeit nicht mehr gegeben gewesen wäre, zumal die Verfärbungen nach unbestritten gebliebener Darstellung des Beschwerdegegners (gestützt auf die Angaben des Dr. med. H.________) auf Veränderungen an den Klebefugen zurückzuführen waren. Mit Blick auf diesen Umstand, hauptsächlich aber unter Berücksichtigung des Alters der Zahnschalen (17 Jahre im Zeitpunkt des Ersatzes bei einer unbestritten gebliebenen Lebensdauer von längstens 20 Jahren), lässt sich die absehbar gewesene Leistungspflicht (Art. 31 Abs. 2 KVG) der Beschwerdeführerin nicht einzig deswegen verneinen, weil der Versicherte den Austausch der Zahnschalen vornehmen liess, bevor deren Funktionstauglichkeit eindeutig verloren gegangen war. Dies gilt umso mehr, als der vorinstanzlich angewandte "mildere Massstab" für die Begründung der Leistungspflicht auch deshalb Bundesrecht nicht verletzt, weil an den oberen Frontzähnen bereits leichte Verfärbungen augenfällig werden und deshalb nachvollziehbar ist, dass sich der Beschwerdegegner beeinträchtigt fühlte (vgl. z.B. Urteile 9C_126/2008 vom 30. Oktober 2008 E. 4.2 mit Hinweisen, und 9C_179/2011 vom 16. Mai 2011 E. 3.3).
 
5.
 
Zu Recht macht die Beschwerdeführerin hingegen geltend, die Vorinstanz habe gegen Bundesrecht verstossen, indem sie eine Verzugszinspflicht auf der geschuldeten Leistung ab dem Datum der Rechnungsstellung durch den behandelnden Zahnarzt (28. Januar 2011) bejahte. Gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG sind die Sozialversicherungen verpflichtet, für ihre Leistungen nach Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruches, frühestens aber 12 Monate nach dessen Geltendmachung Verzugszinsen zu bezahlen, sofern die versicherte Person ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen ist. Eine Verzugszinspflicht kann daher vor Ende Januar 2012 nicht entstanden sein, insoweit ist die Beschwerde begründet.
 
6.
 
Die Beschwerdeführerin unterliegt mit ihrem Hauptantrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und obsiegt in einem Nebenpunkt (Verzugszinspflicht). Diesem Prozessausgang entsprechend werden die Gerichtskosten verhältnismässig verlegt (Art. 65 und Art. 66 Abs. 1 BGG). Der teilweise obsiegende Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheides des Kantonsgerichts Basel-Landschaft wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Von den Gerichtskosten werden Fr. 400.- der Beschwerdeführerin und Fr. 100.- dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft Abteilung Sozialversicherungsrecht und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. Februar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle
 
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