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Informationen zum Dokument  BGer 9C_889/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_889/2011 vom 08.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_889/2011
 
Urteil vom 8. Februar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
E.________, vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(Invalidenrente; Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 19. Oktober 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1953 geborene E.________ bezog ab 1. September 2000 eine halbe Rente der Invalidenversicherung (Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 15. Juli 2004). Im Rahmen des auf ihr Gesuch hin eingeleiteten Revisionsverfahrens durch die neu zuständige IV-Stelle des Kantons Thurgau wurde sie am 26. Mai und 3. Juni 2009 im Institut Y.________ untersucht und begutachtet (Expertise vom 9. Juli 2009). Nach durchgeführtem Vorbescheid verfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 21. Juni 2011 die halbe Rente auf Ende Juli 2011 auf.
 
B.
 
Die Beschwerde der E.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 19. Oktober 2011 ab.
 
C.
 
E.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 19. Oktober 2011 und die Verfügung vom 21. Juni 2011 seien aufzuheben und ihr weiterhin im Minimum die bisherige halbe Rente auszurichten.
 
Das kantonale Gericht und die IV-Stelle beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der in diesem Verfahren eingereichte Bericht der Klinik X.________ vom 1. November 2011 hat aufgrund des Novenverbots (Art. 99 Abs. 1 BGG) sowie der Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) und der Beschränkung der Prüfung in tatsächlicher Hinsicht auf die in Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG festgelegten Beschwerdegründe unbeachtet zu bleiben (Urteil 9C_126/2011 vom 8. Juli 2011 E. 4.3 mit Hinweis).
 
2.
 
Der vorinstanzliche Entscheid bestätigt die Aufhebung der halben Invalidenrente durch die IV-Stelle gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG auf Ende Juli 2011. Die Beschwerdeführerin bestreitet das Vorliegen eines Revisionsgrundes. Sie rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und eine Bundesrecht verletzende Anwendung der Rechtsprechung zur Rentenrevision durch die Vorinstanz (Art. 95 lit. a und 97 Abs. 1 BGG).
 
3.
 
3.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen (Revisionsgrund; BGE 133 V 545; 130 V 343 E. 3.5 S. 349; Urteil 9C_126/2011 vom 8.Juli 2011 E. 1.1).
 
3.2 Referenzzeitpunkt für die Prüfung einer anspruchserheblichen Änderung bildet die letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Ermittlung des Invaliditätsgrades (bei Anhaltspunkten für eine Änderung in den Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigung im erwerblichen oder im Aufgabenbereich) beruht (BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114; Urteil 9C_882/2010 vom 25. Januar 2011 E. 1.1).
 
Im vorliegenden Fall bildet somit der Einspracheentscheid vom 15. Juli 2004 zeitliche Vergleichsbasis, wie die Beschwerdeführerin richtig vorbringt, und nicht die erste, auf Beschwerde hin aufgehobene Verfügung vom 26. Juni 2002, wie die Vorinstanz angenommen hat. Diese Diskrepanz ist indessen nicht entscheidend.
 
4.
 
Die Vorinstanz hat festgestellt, der Gesundheitszustand habe sich seit Zusprechung der halben Rente verbessert. Im Gutachten des Instituts Y.________ seien keine psychiatrischen Einschränkungen festgehalten worden. Ebenfalls hätten sich die erwerblichen Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen verändert. Die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit habe von 50 % auf 80 % zugenommen.
 
4.1 Die Beschwerdeführerin bringt richtig vor, dass bei der Zusprechung der halben Rente eine psychiatrische Diagnose nicht zur Diskussion stand. Die Vorinstanz hat die festgestellte Verbesserung des psychischen Gesundheitszustandes denn auch nicht näher begründet, insbesondere nicht mit diesbezüglichen fachärztlichen Aussagen unterlegt. Die im Gutachten des Instituts Y.________ diagnostizierte Schmerzverarbeitungsstörung hat keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit. Der rheumatologische Gesundheitszustand hat sich aufgrund der Akten im Vergleichszeitraum nicht wesentlich verändert.
 
4.2
 
4.2.1 Ein Revisionsgrund ist auch gegeben und die Rente allenfalls nach unten oder nach oben anzupassen, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustandes erheblich verändert haben (BGE 133 V 545 E. 6.1 S. 546; Urteil 8C_624/2011 vom 2. November 2011 E. 2). In diesem Zusammenhang schliessen selbst identisch gebliebene Diagnosen eine revisionsrechtlich erhebliche Steigerung des Leistungsvermögens (Arbeitsfähigkeit) nicht grundsätzlich aus. Zu denken ist etwa an eine Verringerung des Schweregrades des Gesundheitsschadens oder wenn es der versicherten Person gelungen ist, sich besser an das Leiden anzupassen (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Rz 18 zu Art. 17 ATSG). Ob eine derartige tatsächliche Änderung vorliegt, bedarf mit Blick auf die mitunter einschneidenden Folgen für die versicherte Person einer sorgfältigen Prüfung (Urteil 8C_493/2011 vom 23. November 2011 E. 2.1.3). Dies gilt umso mehr, als eine lediglich andere Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich ist (BGE 112 V 371 E. 2b S. 372; Urteil 8C_972/2009 vom 27. Mai 2010 E. 3.2, nicht publ. in: BGE 136 V 216, aber in: SVR 2011 IV Nr. 1 S. 1; Urteil 9C_896/2011 vom 31. Januar 2012 E. 3.1).
 
4.2.2 Die Vorinstanz hat aus der festgestellten Verbesserung der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit von 50 % gemäss Bericht der Klinik X.________ vom 28. November 2001 auf 80 % gemäss Gutachten des Instituts Y.________ vom 9. Juli 2009 gefolgert, nebst dem psychischen Gesundheitszustand hätten sich auch die erwerblichen Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen klar verändert. Aus psychiatrischer Sicht ist indessen, wie in E. 4.1 hievor dargelegt, im Vergleichszeitraum keine revisionsrechtlich erhebliche Veränderung eingetreten. Sodann kann allein aus der unterschiedlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch die Klinik X.________ und (acht Jahre später) durch die Gutachter des Instituts Y.________ weder auf eine Verringerung der rheumatologischen Befunde im Schulter- und Rückenbereich noch auf eine Angewöhnung und Anpassung an den Gesundheitszustand geschlossen werden, wie auch in der Beschwerde sinngemäss vorgebracht wird. Der Expertise lassen sich keine in diesem Sinne lautende oder einen solchen Schluss stützende Aussagen entnehmen. Im Gegenteil wird sowohl im massgebenden Vergleichszeitpunkt als auch im Gutachten des Instituts Y.________ vom 9. Juli 2009 in der damals und zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Spitalgehilfin resp. in der Alterspflege von einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % ausgegangen. Die von den Gutachtern festgelegte Arbeits- und Leistungsfähigkeit von 80 % bezieht sich auf eine leichte, wechselbelastende Verweisungstätigkeit. Damit entfällt auch der Revisionsgrund der Verbesserung der erwerblichen Auswirkungen des im Wesentlichen gleich gebliebenen Gesundheitszustandes.
 
4.3 Den neu aufgetretenen ophthalmologischen Beschwerden hat die Vorinstanz revisionsrechtlich keine Bedeutung beigemessen, was kein Bundesrecht verletzt. Gemäss Gutachten des Instituts Y.________ wird einerseits die Arbeitsfähigkeit bei einer durchschnittlich belastbaren Tätigkeit für das Sehvermögen um 10 % eingeschränkt; anderseits wirkt sich der geringe Erholungsbedarf aus ophthalmologischer Sicht nicht additiv zum bereits erhöhten Erholungsbedarf aus rheumatologischer Sicht aus. Die Beeinträchtigung des Sehvermögens kann somit als eine im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht bedeutsame geringfügige Änderung des Sachverhalts ohne Auswirkung auf den Umfang des Rentenanspruchs betrachtet werden (BGE 133 V 545).
 
Die Voraussetzungen für die revisionsweise Aufhebung der halben Rente im Sinne der Anpassung an geänderte tatsächliche Verhältnisse sind somit nicht gegeben. Insoweit verletzt der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht. Mangels eines Revisionsgrundes kann auch nicht geprüft werden, ob allenfalls Anspruch auf eine höhere Rente besteht. Der diesbezügliche sinngemässe Antrag in der Beschwerde ist daher abzuweisen.
 
5.
 
Eine zu Unrecht erfolgte Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG kann im Beschwerdeverfahren geschützt werden, wenn die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder prozessuale Revision der rentenzusprechenden Verfügung oder allenfalls des diese ersetzenden Einspracheentscheids gegeben sind (Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG; SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 E. 4; SVR 2010 IV Nr. 25 S. 75, 9C_696/2007 E. 4; SVR 2009 IV Nr. 20 S. 52, 9C_342/2008 E. 5, nicht publ. in: BGE 135 I 1).
 
5.1 Eine Bestätigung der Aufhebung der halben Rente mit der substituierten Begründung der zweifellosen Unrichtigkeit des Einspracheentscheids vom 15. Juli 2004 (Wiedererwägung) fällt ausser Betracht. Diese Zusprechung erfolgte, nachdem das damals zuständige Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich auf Beschwerde hin mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem Entscheid vom 23. Juni 2003 festgestellt hatte, der Invaliditätsgrad habe ab dem 1. September 1999 über 40 % betragen. Daran war die IV-Stelle gebunden (BGE 113 V 159; Urteil 9C_703/2009 vom 30. Oktober 2009 E. 2), und zwar auch hinsichtlich einer allfälligen Wiedererwägung des Einspracheentscheids vom 15. Juli 2004 (BGE 127 V 466 E. 2c S. 469; Urteil 8C_ 329/2010 vom 6. August 2010 E. 4.1). Diese übernahm die erste der zwei vom Gericht diskutierten Varianten der Invaliditätsbemessung, welche einen Invaliditätsgrad von 49,83 % bzw. 50 % (zum Runden BGE 130 V 121) ergab und damit Anspruch auf eine halbe Rente (Art.28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2007 geltenden Fassung; Einspracheentscheid vom 15. Juli 2004).
 
5.2 Ebenso wenig kommt eine prozessuale Revision des Einspracheentscheids vom 15. Juli 2004 in Frage. Das Gutachten des Instituts Y.________ ist keine neue Tatsache zum Beweis, dass damals eine höhere Arbeitsfähigkeit bestanden hatte, was der IV-Stelle auch bei der gebotenen Aufmerksamkeit nicht bekannt sein konnte. Daran ändert nichts, dass sich die Einschätzung der behandelnden Ärzte der Klinik X.________ auf die (konkrete) Tätigkeit einer Hauswirtschaftslehrerin bezog (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 259/98 vom 5. Februar 1999 E. 2b/ cc; anders gelagerter Sachverhalt im Urteil I 423/98 vom 4. März 1999 E. 3). Dieser Umstand könnte lediglich unter dem Gesichtspunkt der Wiedererwägung von Bedeutung sein, die hier jedoch nicht zum Zuge kommen kann (vorne E. 5.1).
 
6.
 
Die Rentenaufhebung verletzt somit unter allen Titeln Bundesrecht. Die Beschwerdeführerin hat somit nach wie vor Anspruch auf eine halbe Rente.
 
7.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Diese ist nicht zu reduzieren, da das Begehren in der Beschwerde, soweit über die Bestätigung der halben Rente hinausgehend ("Überklagen"), den Prozessaufwand nicht wesentlich beeinflusst hat (BGE 117 V 401 E. 2c S.407; Urteil 9C_699/2010 vom 22. Dezember 2010 E. 4).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 19. Oktober 2011 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 26. Juni 2011 werden aufgehoben. Soweit die Zusprechung einer Dreiviertelsrente oder einer ganzen Rente beantragt wird, wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Thurgau auferlegt.
 
3.
 
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. Februar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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