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Informationen zum Dokument  BGer 9C_958/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_958/2011 vom 03.02.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_958/2011
 
Urteil vom 3. Februar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
J.________,
 
vertreten durch Advokat Dr. Alex Hediger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 3. November 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
J.________, geboren 1959, war seit 1983 bei der Firma F.________ AG, als Einrichter angestellt. Bei einem Arbeitsunfall vom 24. Februar 2000 verletzte er sich am linken Fuss. In der Folge mussten an den Zehen II bis IV Amputationen durchgeführt werden. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) erbrachte als obligatorische Unfallversicherung die gesetzlichen Leistungen. Mit Verfügung vom 6. Februar 2004 sprach sie J.________ eine Invalidenrente bei einem IV-Grad von 25 % sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 8 % zu (bestätigt mit Einspracheentscheid vom 26. April 2006). Das Anstellungsverhältnis mit der Firma F.________ AG endete am 30. Juni 2004.
 
Am 4. Januar 2005 meldete sich J.________ unter Hinweis auf den Unfall sowie auf eine Lumboischialgie bei linksseitiger Diskushernie L4/L5 bis L5/S1 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung, Rente) an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau führte erwerbliche Abklärungen durch. Sie holte einen Bericht ein des Dr. med. M.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 27. Januar 2005, dem weitere medizinische Unterlagen beigefügt waren, und zog die Akten der SUVA bei. Mit Entscheid vom 19. Dezember 2007 hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau eine Beschwerde des J.________ gegen den Einspracheentscheid der SUVA vom 26. April 2006 teilweise gut und änderte diesen dahingehend ab, dass es J.________ eine Invalidenrente bei einem IV-Grad von 28 % zusprach. Die IV-Stelle holte weitere medizinische Beurteilungen ein und veranlasste eine Abklärung im ABI Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH, (nachfolgend ABI; Gutachten vom 4. Januar 2011). Mit Verfügung vom 31. Mai 2011 wies sie das Leistungsbegehren des J.________ ab bei einem IV-Grad von 25 %.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des J.________ wies das kantonale Versicherungsgericht mit Entscheid vom 3. November 2011 ab.
 
C.
 
J.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. Januar 2005 (bei einem IV-Grad von mindestens 70 %) beantragen.
 
Mit Eingabe vom 4. Januar 2012 legt er einen (weiteren) Bericht der Klinik X.________ vom 19. Oktober 2011 ins Recht.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Rechtsgrundlagen zur Invalidität sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Personen (Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 7 f. ATSG; Art. 28a IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; Art. 28 IVG sowohl in der bis Ende 2007 gültig gewesenen wie auch in der seit 1. Januar 2008 anwendbaren Form) ebenso zutreffend dargelegt wie die Rechtsprechung zur Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) und zum Beweiswert medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a-c S. 352 ff.). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht erwog im Entscheid betreffend UVG vom 19. Dezember 2007, der Versicherte sei in einer angepassten Tätigkeit vollumfänglich arbeitsfähig. Die Arbeitsfähigkeit könne aber bei der bisherigen Arbeitgeberin nicht voll ausgeschöpft werden, weshalb das Invalideneinkommen gestützt auf Tabellenlöhne festzusetzen sei. Ausgehend von der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2004, Tabelle TA1, Zentralwert, ermittelte es ein Invalideneinkommen von Fr. 57'258.- (bei einer betriebsüblichen Wochenarbeitszeit von 41,6 Stunden) bzw. von Fr. 51'532.- unter Gewährung eines leidensbedingten Abzuges von 10 %.
 
3.2 Im hier angefochtenen Entscheid vom 3. November 2011 erwog die Vorinstanz mit eingehender Begründung, weshalb sie auf die Beurteilung der ABI-Gutachter abstellte und nicht den hievon abweichenden Beurteilungen der Dres. med. R.________, FMH für Psychiatrie und Psychotherapie und C.________, Kardiologie FMH folgte. Das kantonale Gericht stellte fest, zwischen den subjektiven Beschwerdeschilderungen und den klinischen Befunden bestünden deutliche Diskrepanzen. Der Versicherte leide zwar an verschiedenen objektivierbaren gesundheitlichen Problemen, die aber gut kompensiert oder gut eingestellt bzw. im Anforderungsprofil berücksichtigt worden seien. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit in der Metallbaufirma könne im Umfang von 75 %, eine körperlich leichte, wechselbelastende Tätigkeit ohne stereotype Rotationsbewegung der Lendenwirbelsäule (LWS) vollumfänglich zugemutet werden. Von weiteren Abklärungen sei in antizipierter Beweiswürdigung abzusehen. Die Berechnung der Beschwerdegegnerin sei insoweit zu korrigieren, als sie nicht auf Tabellenlöhne abgestellt und keinen Leidensabzug vorgenommen habe. Aus "koordinationsrechtlichen Gründen" und weil der Beschwerdeführer keine entsprechende Tätigkeit mehr aufgenommen habe, könne auf die Berechnung (im UVG-Bereich) für das Jahr 2004 abgestellt werden (vgl. E. 3.1 hievor). Bei einem unbestritten gebliebenen Valideneinkommen von Fr. 1'628.- (recte: 71'628.-) und einem Invalideneinkommen von Fr. 51'532.-, nach Berücksichtigung eines Leidensabzuges von 10 %, resultiere ein IV-Grad von 28 %. Wegen des gleichen Anforderungsprofils und der in einer Verweistätigkeit auch von den Ärzten am ABI attestierten vollen Arbeitsfähigkeit fielen die gegenüber dem UVG-Verfahren zusätzlich zu berücksichtigenden lumbalen Beschwerden nicht ins Gewicht.
 
3.3 Der Versicherte hält fest, die Invaliditätsbemessung im Verfahren betreffend Leistungen der Unfallversicherung, welche einen Invaliditätsgrad von 28 % ergab, habe weder die Rückenproblematik noch die zwischenzeitlich aufgetretenen psychischen Probleme berücksichtigt. Er rügt, die Vorinstanz gehe im IV-Verfahren zu Unrecht von der gleichen Zumutbarkeitsbeurteilung aus. Nach Beurteilung der SUVA sei die Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit nicht eingeschränkt, das ABI-Gutachten habe aber eine 25%ige Einschränkung in einer angepassten Tätigkeit ergeben. Das vorinstanzlich angenommene Invalideneinkommen von Fr. 57'258.- sei somit um 25 % kürzen, zusätzlich müsse ein leidensbedingter Abzug von 25 % gewährt werden. Bei einem IV-Einkommen von Fr. 32'208.- resultiere ein Invaliditätsgrad von über 60 % und damit Anspruch auf eine Dreiviertels-Rente. Sodann macht er geltend, das ABI-Gutachten sei nicht beweistauglich, namentlich nicht hinsichtlich der psychiatrischen Beurteilung, wie Dr. med. R.________ einleuchtend und überzeugend dargelegt habe (Schreiben vom 24. Mai 2011). Mit Blick auf den wechselhaften Verlauf depressiver Krankheiten sei eine Untersuchungsdauer von 20 Minuten klar unzureichend. Das ABI-Gutachten könne daher und auch wegen offensichtlicher Fehler in der Anamneseerhebung nicht als lege artis erstellt bezeichnet werden. Gestützt auf die Beurteilungen des Dr. med. R.________ vom 24. Mai 2011 und des Dr. med. C.________ vom 6. April 2011 sei von einer die Arbeitsfähigkeit massiv einschränkenden psychiatrischen Diagnose auszugehen. Die abweichenden Feststellungen im angefochtenen Entscheid seien offensichtlich unrichtig und verletzten Bundesrecht; allenfalls seien weitere Abklärungen in die Wege zu leiten.
 
4.
 
Die gegen die Beweistauglichkeit des ABI-Gutachtens vorgebrachten Einwände vermögen weder eine offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung noch eine Bundesrechtswidrigkeit der Beweiswürdigung darzutun.
 
4.1 Soweit der Beschwerdeführer mit seinem nicht näher substantiierten Hinweis auf Ungenauigkeiten in der Anamnese den vorinstanzlich zu Recht als offensichtlichen Verschrieb bezeichneten Fehler bezüglich des Todesalters der Mutter (85 Jahre anstelle 58 Jahre) und den Gesundheitszustand der Ehefrau meint, kann auf das im angefochtenen Entscheid Gesagte verwiesen werden. Allein daraus ist keine die Beweiskraft herabsetzende Ungenauigkeit der Expertise abzuleiten. Andere Fehler in der Anamnese, welche geeignet wären, den Beweiswert der Expertise zu beeinträchtigen, macht der Beschwerdeführer nicht (mehr) geltend und es sind auch keine solchen ersichtlich.
 
4.2 Die psychiatrische Exploration durch Dr. med. Z.________, FMH Psychiatrie/Psychotherapie, umfasst eine ausführliche Anamnese, eine Darstellung der Befunde, eine psychiatrische Beurteilung, eine begründete Einschätzung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht sowie eine Stellungnahme zur Selbsteinschätzung, zu Inkonsistenzen und zur abweichenden Beurteilung des Dr. med. R.________ (vom 13. Oktober 2010). Dr. med. Z.________ erhob in Anamnese und Klinik keine auffälligen, weitere Abklärungen erfordernde Befunde, so dass der Kritik an der psychiatrischen Exploration - soweit sie nicht appellatorischer Natur ist und demzufolge ausser Acht bleiben muss - nicht gefolgt werden kann. Dass die Begutachtung wesensgemäss nicht auf einer einen längeren Zeitraum abdeckenden Begleitung des Exploranden beruht, spricht nicht grundsätzlich gegen deren Beweiswert (Urteil 9C_24/2008 vom 27. Mai 2008).
 
4.3 Dr. med. R.________ diagnostizierte am 13. Oktober 2010 zwar - abweichend vom Gutachten des ABI - eine schwere depressive Episode (ohne psychotische Symptome, ICD-10 F32.2) und hielt als ärztlichen Befund Folgendes fest: "Ich konnte wiederholt alle Symptome (vom 1 bis 7) nach ICD feststellen. Die Dauer und die Schwere berechtigen die Diagnose einer schweren Episode zu stellen." Weiter führte Dr. med. R.________ aus, die Prognose hänge von der "sozialen Problematik" ab; es bestehe eine depressive Grundstimmung, eine Konzentrationsstörung, Verzweiflung (der Versicherte unterdrücke während den Sitzungen mit Mühe die Tränen) sowie extreme Müdigkeit infolge der Schlafstörung. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung, gemäss welcher der Beurteilung des behandelnden Psychiaters kein höherer Beweiswert beizumessen sei als der Expertise des ABI, verstösst indes nicht gegen Bundesrecht. Abgesehen davon, dass die Diagnosebegründung des Dr. med. R.________ nicht nachvollziehbar ist, konnten namentlich die Ärzte an der Klinik X.________ eine solch schwere psychische Beeinträchtigung nicht bestätigen (Bericht vom 28. Mai 2010 [bezogen auf die Behandlung bis 9. Februar 2007]), nicht einmal im - letztinstanzlich ins Recht gelegten, nach Verfügungserlass datierenden, und damit grundsätzlich unbeachtlichen (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354) bzw. unzulässigen (Art. 99 Abs. 1 BGG) - Bericht vom 19. Oktober 2011 (betreffend eine Hospitalisation vom 2. August bis 13. September 2011). Darin hielten sie zwar fest, der Beschwerdeführer leide an einer Angst und Depression gemischt (ICD-10 F41.2), attestierten eine Arbeitsunfähigkeit aber nur bis 13. September 2011 (anschliessend habe eine Neubeurteilung durch die nachbehandelnden Ärzte zu erfolgen). Im Übrigen ist die Diagnose "Angst und depressive Störung, gemischt" gemäss ICD-10 F41.2 ganz allgemein im Grenzbereich dessen zu situieren, was überhaupt noch als krankheitswertig im Sinne des Gesetzes und potentiell invalidisierendes Leiden gelten kann (Urteil 8C_437/2011 vom 13. Juli 2011 E. 3.2.3 mit Hinweis).
 
5.
 
5.1 Das Vorbringen des Beschwerdeführers, die ABI-Gutachter hätten in einer angepassten Tätigkeit eine Einschränkung von 25 % attestiert, ist klar aktenwidrig. Die Gutachter kamen vielmehr zu folgendem Ergebnis: "Zusammengefasst ist der Explorand aus polydisziplinärer Sicht für eine körperlich leichte, wechselbelastende Tätigkeit ohne Zwangshaltung der Wirbelsäule zu 100 % arbeits- und leistungsfähig. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit, wie auch andere körperlich mittelschwere Tätigkeiten wären ihm noch zu 75 % zumutbar, in einem ganztägigen Pensum mit verminderter Leistung." Für die beantragte Kürzung des Tabellenlohnes um 25 % besteht mangels entsprechend verminderter Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit, von welcher die Vorinstanz in ihrem auf Tabellenlöhne abgestützten Einkommensvergleich ausging (E. 3.2 hievor), kein Raum.
 
5.2 Was schliesslich die Höhe des leidensbedingten Abzuges betrifft, ist ein solcher unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen (BGE 126 V 75 E. 5b/aa-cc S. 79 ff.; Urteile 8C_778/2007 vom 29. Mai 2008 E. 5.2.2 und 9C_603/2007 vom 8. Januar 2008, E. 4.2.3, mit Hinweis). Ermessensfragen sind als solche letztinstanzlich aber nicht (mehr) zu überprüfen (Art. 95 und 97 BGG), sondern von der bundesgerichtlichen Kognition einzig im Hinblick auf rechtsfehlerhafte Ermessensüberschreitung, -unterschreitung oder -missbrauch erfasst (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_382/2007 vom 13. November 2007, E. 4.1). Davon kann hier keine Rede sein. Damit hat es beim angefochtenen Entscheid sein Bewenden; für weitere Abklärungen besteht kein Anlass.
 
6.
 
Der unterliegende Beschwerdeführer hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 3. Februar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle
 
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