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Informationen zum Dokument  BGer 9C_891/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_891/2011 vom 16.01.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_891/2011
 
Urteil vom 16. Januar 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
R.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Jean Baptiste Huber,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
GEMINI Sammelstiftung zur Förderung der Personalvorsorge, c/o Avadis Vorsorge AG, Josefstrasse 53, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Berufliche Vorsorge,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 4. Oktober 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
R.________ (geb. 1953) war seit Januar 2000 als Personalverantwortliche bei der Firma X.________ AG angestellt. In dieser Eigenschaft war sie über die Pensionskasse der Y.________ AG bei der Gemini Sammelstiftung zur Förderung der Personalvorsorge berufsvorsorgeversichert. Am 1. März 2003 erlitt sie bei einem Auffahrunfall ein kraniozervikales Beschleunigungstrauma. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) übernahm die Heilbehandlung, erbrachte ein Taggeld und stellte die Leistungen mit Wirkung ab Oktober 2006 ein; dem Unfall komme keine rechtlich massgebende Bedeutung für die geklagten Beschwerden mehr zu (mit Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 30. Oktober 2008 bestätigter Einspracheentscheid vom 26. Februar 2007). Die IV-Stelle Zug beauftragte die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) mit einer interdisziplinären Begutachtung (Expertise vom 31. Januar 2008). Gestützt darauf lehnte die IV-Stelle den Antrag auf Leistungen der Invalidenversicherung ab; es bestehe kein invalidisierender Gesundheitsschaden (mit Entscheid des Bundesgerichts 9C_714/2010 vom 9. Februar 2011 letztinstanzlich bestätigte Verfügung vom 11. Dezember 2008).
 
Mit Schreiben an die Gemini Sammelstiftung vom 19. Dezember 2008 liess R.________ darum ersuchen, es seien ihr Versicherungsleistungen der beruflichen Vorsorge auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von über 66 2/3 Prozent auszurichten. Die Vorsorgeeinrichtung teilte ihrer Versicherten mit, der berufsvorsorgerechtliche Anspruch richte sich nach dem (abschlägigen) Entscheid der Invalidenversicherung. Sollte das (noch anhängige) Verfahren der Invalidenversicherung einen anderen Ausgang nehmen, werde sie den Leistungsanspruch erneut überprüfen (Schreiben vom 23. April 2009).
 
B.
 
Am 13. Juli 2009 reichte R.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau gegen die Gemini Sammelstiftung Klage ein mit dem Antrag, diese sei zu verpflichten, ihr mit Wirkung ab Oktober 2006 eine Rente von 100 Prozent aus dem Vorsorgevertrag mit der X.________ AG zu entrichten. Das kantonale Versicherungsgericht wies die Klage ab (Entscheid vom 4. Oktober 2011).
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt R.________, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und erneuert das vorinstanzlich gestellte materielle Rechtsbegehren.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Strittig und anhand der Rügen der Beschwerdeführerin zu prüfen ist, ob die Vorinstanz auf das Gutachten der MEDAS vom 31. Januar 2008 abstellen durfte. Dessen Schlussfolgerungen zur Arbeitsunfähigkeit (vollumfängliche Arbeitsfähigkeit in angepassten Tätigkeiten, worunter auch die angestammte Tätigkeit falle) weichen teilweise deutlich von den Einschätzungen in anderen ärztlichen Beurteilungen ab.
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Feststellungen der Vorinstanz hinsichtlich des Grades der Arbeitsunfähigkeit betreffen Tatfragen, soweit sie auf Beweiswürdigung beruhen, und sind insoweit lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel überprüfbar (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397).
 
2.
 
2.1
 
2.1.1 Was den Bereich der Mindestvorsorge nach BVG angeht, so muss sich die versicherte Person eine (für den dortigen Anspruch entscheidende) invalidenversicherungsrechtliche Betrachtungsweise entgegenhalten lassen, wenn die Vorsorgeeinrichtung darauf abgestellt hat. Vorbehalten bleibt die offensichtliche Unhaltbarkeit der Invaliditätsbemessung durch die IV-Stelle (SVR 2007 IV Nr. 3 S. 8, I 808/05 E. 3 mit Hinweis). Über den Leistungsanspruch nach IVG liegt indessen ein rechtskräftiger Entscheid des Bundesgerichts vor, wonach die dortige Vorinstanz die Tatfrage nach der massgebenden Leistungsfähigkeit gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 31. Januar 2008 jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig beantwortet hat (Urteil 9C_714/2010 vom 9. Februar 2011).
 
2.1.2 Für die weitergehende berufliche Vorsorge wäre nur dann eine gesonderte Beurteilung notwendig, wenn der Sachverhalt mit Blick auf einen allenfalls abweichenden Invaliditätsbegriff einen Leistungsanspruch als möglich erscheinen liesse. Mit der Vorinstanz ist jedoch festzuhalten, dass der Begriff in Art. 5 Abs. 4 des Reglements der Pensionskasse der Y.________ AG (gültig ab Januar 2002) kaum weiter gefasst ist als derjenige gemäss IVG; selbst wenn eine Berufsunfähigkeitsrente vorgesehen wäre, führte dies, wie sich aus dem Folgenden ergibt, nicht zu einem Leistungsanspruch der Versicherten.
 
2.2 Nach dem Gesagten bleiben die Anspruchsparameter, wie sie im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren festgelegt worden sind, verbindlich, es sei denn, es träten neue, im IV-Verfahren nicht berücksichtigte Gesichtspunkte zutage, welche die dortige Invaliditätsbemessung als offensichtlich unhaltbar erscheinen liessen. Dies trifft aber nicht zu.
 
2.2.1 Nach BGE 137 V 210 ist die Verwertung administrativgutachtlicher Erkenntnisse der MEDAS im gerichtlichen Verfahren der Invalidenversicherung verfassungs- und EMRK-konform, sofern latente Gefährdungen der Verfahrensgarantien, wie sie sich aus dem institutionellen Verhältnis zwischen der Verwaltung und den auf tarifvertraglicher Grundlage für die Invalidenversicherung tätigen Begutachtungsinstituten ergeben, durch Korrektive auf administrativer und gerichtlicher Ebene insgesamt neutralisiert werden. Die Beschwerdeführerin bringt vor, im Gegensatz zu den IV-Stellen sei die Beschwerdegegnerin als Vorsorgeeinrichtung nicht (nur) ein dem objektiven Gesetzesvollzug verpflichtetes Organ. Mit Blick auf die grosse Bedeutung der weitergehenden Vorsorge handle sie in einem erheblich vom Privatrecht beherrschten Rechtsverhältnis als Partei. In einem solchen Kontext sei die zitierte Rechtsprechung nicht einschlägig.
 
Die Einholung des Gutachtens der MEDAS vom 31. Januar 2008 folgte nicht den Anforderungen, wie sie in BGE 137 V 210 (Entscheid 9C_243/2010 vom 28. Juni 2011) definiert wurden. Der neue Verfahrensstandard ist zwar an sich auch für laufende Verfahren verbindlich (vgl. BGE 132 V 368 E. 2.1 S. 369). Es wäre jedoch nicht verhältnismässig, wenn nach den alten Regeln eingeholte Gutachten ungeachtet ihrer jeweiligen Überzeugungskraft den Beweiswert einbüssten (BGE 137 V 210 E. 6 Ingress S. 266). Ist das zuhanden der Invalidenversicherung erstattete MEDAS-Gutachten für die dortigen Belange beweiswertig (dazu das Urteil 9C_714/2010 vom 9. Februar 2011), so gilt dies gleichermassen im Hinblick auf parallele Fragen im berufsvorsorgerechtlichen Zusammenhang.
 
2.2.2 Sodann wendet die Beschwerdeführerin ein, die zuhanden der Invalidenversicherung erstatteten medizinischen Erhebungen müssten auch bezüglich der Fragestellungen aussagekräftig sein, die sich im überobligatorischen Bereich der beruflichen Vorsorge stellten. Sie beruft sich auf das bundesgerichtliche Urteil 9C_8/2009 vom 30. März 2009. Nach dessen E. 3.2 ist die Vorsorgeeinrichtung an einen von der IV-Stelle ermittelten Invaliditätsgrad, der die gesetzliche Untergrenze von 40 Prozent (Art. 28 Abs. 2 IVG) nicht erreicht, nicht gebunden, weil die Organe in diesem Bereich nicht veranlasst sind, den Invaliditätsgrad genau zu bestimmen.
 
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin muss die Frage, ob sie zu 25 Prozent oder mehr in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei (vgl. Art. 10 Abs. 1 des Pensionskassenreglements), nicht durch ein gerichtlich bestelltes unabhängiges Gutachten geklärt werden. Die mit Blick auf IV-spezifische Anspruchsvoraussetzungen eingeholte MEDAS-Expertise ist auch für berufsvorsorgerechtliche Belange (Relevanz auch von Erwerbsunfähigkeiten von weniger als 40 Prozent) beweistauglich. Die Schlussfolgerungen der Gutachter (vollumfängliche Leistungsfähigkeit in der angestammten und in entsprechenden Tätigkeiten) sind auch für diesen Bereich aussagekräftig und können in den berufsvorsorgerechtlichen Zusammenhang übertragen werden. Die berufsvorsorgerichterliche Schlussfolgerung der Vorinstanz zur Arbeitsfähigkeit beruht denn auch auf einer originären Würdigung des MEDAS-Gutachtens. Ausschlaggebend sind jedoch die Festlegungen im IV-Verfahren (oben E. 2.1.1).
 
2.2.3 Die erneuerten Vorbringen zur beruflichen Qualifikation der neuropsychologischen Teilgutachterin der MEDAS hat das Bundesgericht im die Invalidenversicherung betreffenden Urteil 9C_714/2010 (unter Rückverweisung auf die vorinstanzliche Argumentation) bereits verworfen (E. 2.2). Mangels neuer Aspekte können die Verfahrensgrundrechte der Beschwerdeführerin (rechtliches Gehör, fairer Prozess) im jetzigen Verfahren von vornherein nicht verletzt sein; die versicherte Person muss sich die invalidenversicherungsrechtliche Betrachtungsweise, auf welche die Vorsorgeeinrichtung abgestellt hat, wie erwähnt grundsätzlich entgegenhalten lassen (oben E. 2.1.1). Die Beschwerdeführerin macht nun zusätzlich geltend, die vorinstanzlichen Erwägungen zum fachlichen Status der Neuropsychologin (alleinige Massgeblichkeit der Rahmenvereinbarung zwischen MEDAS und Bundesamt für Sozialversicherungen; Art. 72bis IVV, gültig bis 31. März 2011) bezögen sich "auf eine staatliche Behörde und die von ihr beigezogenen Hilfspersonen" (das heisst nur auf das IV-Verfahren); im Zusammenhang mit der wesentlich von der Privatautonomie beherrschten weitergehenden Vorsorge seien sie aber nicht einschlägig. Dieser Einwand ist schon deswegen nicht stichhaltig, weil Fragen der gutachterlichen Fachkompetenz nicht in dem von der Beschwerdeführerin angedachten Sinn je nach der Rechtsnatur des Versicherungszweigs teilbar sein können (vgl. oben E. 2.2.1).
 
2.2.4 Da somit nichts gegen eine Verwendung der Expertise als Entscheidungsgrundlage auch im hiesigen Zusammenhang spricht, ist der vorinstanzlichen Erkenntnis, auf die Schlussfolgerungen der MEDAS könne abgestellt werden, beizupflichten.
 
3.
 
Bei diesem Verfahrensausgang wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 16. Januar 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Traub
 
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