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Informationen zum Dokument  BGer 6B_807/2011  Materielle Begründung
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BGer 6B_807/2011 vom 05.01.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_807/2011
 
Urteil vom 5. Januar 2012
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Mathys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Denys,
 
Gerichtsschreiber C. Monn.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Verletzung von Verkehrsregeln,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 13. September 2011.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, er habe am 1. Oktober 2009 eine Verkehrsangestellte der Stadt St. Gallen, die sich nach einem Gespräch mit ihm hinter seinen Wagen gestellt hatte, beim Rückwärtsfahren an den Beinen touchiert. Der Einzelrichter des Kreisgerichts St. Gallen sprach ihn deswegen sowie wegen einer unumstrittenen Geschwindigkeitsüberschreitung am 6. Dezember 2010 der mehrfachen Verkehrsregelverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 1'200.-- bzw. einer Ersatzfreiheitsstrafe von zwölf Tagen. Das Kantonsgericht St. Gallen wies eine dagegen gerichtete Berufung am 13. September 2011 ab.
 
Der Beschwerdeführer wendet sich ans Bundesgericht und beantragt, der Entscheid des Kantonsgerichts vom 13. September 2011 sei aufzuheben und er in Bezug auf den Vorfall vom 1. Oktober 2009 vom Vorwurf der einfachen Verletzung der Verkehrsregeln freizusprechen.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. d EMRK. Er habe der ihn belastenden Verkehrsangestellten keine Fragen stellen können.
 
Nach der Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat ein Angeschuldigter einen Anspruch darauf, einem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Dieser Anspruch ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist somit grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Angeschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessen und hinreichend Gelegenheit hatte, Fragen an den Zeugen zu stellen (vgl. BGE 133 I 33 E. 3.1). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts hat der Beschuldigte einen Antrag auf Befragung eines Zeugen den Behörden rechtzeitig und formgerecht einzureichen. Andernfalls kann er den Strafverfolgungsbehörden nachträglich nicht vorwerfen, sie hätten durch Verweigerung der Konfrontation oder ergänzender Fragen an den Belastungszeugen seinen Grundrechtsanspruch verletzt. Ob ein Antrag auf Befragung von Belastungszeugen unter dem Gesichtswinkel von Treu und Glauben rechtzeitig vorgebracht wurde, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab (Urteil 6B_373/2010 vom 13. Juli 2010, E. 3.3).
 
Dem Beschwerdeführer (bzw. seinem damaligen Verteidiger) wurde am 19. Februar 2010 durch die Staatsanwaltschaft Gelegenheit gegeben, zum hier interessierenden Tatvorwurf Stellung zu nehmen oder allenfalls eine nochmalige Einvernahme zu verlangen (KA act. V9). Er wies den Vorwurf am 15. März 2010 zwar zurück, stellte indessen weiter fest, es sei nicht ersichtlich, welche zusätzlichen Untersuchungshandlungen zu einer Klärung beitragen könnten (KA act. V10). Am 21. April 2010 wurde ihm erneut eine Frist für Beweisanträge eingeräumt (KA act. V11). Am 26. April 2010 hielt er nur am Antrag fest, das Verfahren einzustellen, ohne dass er Beweisanträge gestellt hätte (KA act. V12). Auch in der Begründung seiner Einsprache gegen den Strafbescheid der Staatsanwaltschaft machte er nur geltend, die Aussagen der Verkehrsangestellten seien unzuverlässig, eine Konfrontation mit ihr verlangte er nicht (KA act. V16). Das Kreisgericht gab dem Beschwerdeführer schliesslich am 9. August 2010 erneut Gelegenheit, Beweisanträge zu stellen (KA act. G1), worauf dieser am 24. August 2010 ausdrücklich auf das Recht verzichtete (KA act. G2).
 
Unter den gegebenen Umständen verstösst der erst im Berufungsverfahren gestellte Antrag auf Konfrontation mit der Verkehrsangestellten gegen Treu und Glauben. Die Vorinstanz durfte den Beweisantrag ablehnen (angefochtener Entscheid S. 4 E. II/3), ohne gegen die Grundrechte des Beschwerdeführers zu verstossen.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer machte im kantonalen Verfahren geltend, im Sinne der Unschuldsvermutung sei davon auszugehen, dass er die Verkehrsangestellte weder erfasst noch gefährdet habe. Die Vorinstanz stützt sich demgegenüber zum einen auf die Aussagen des Beschwerdeführers sowie auf diejenigen der Verkehrsangestellten. Zum anderen stellt sie fest, dass unmittelbar nach dem Vorfall auf der Rückseite des Personenwagens des Beschwerdeführers auf einer Höhe von ca. 50 bis 60 Zentimetern Stellen erkennbar gewesen seien, an denen keine Verschmutzungen mehr sichtbar waren, während sich auf gleicher Höhe an der Hose der Verkehrsangestellten Verschmutzungen befunden hätten (vgl. angefochtenen Entscheid S. 6/7 E. IV/1).
 
Der Beschwerdeführer macht unter Hinweis auf den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" geltend, es habe "an diesem Tag und Ort keinen Zusammenstoss mit den Beinen der Politesse" gegeben (Beschwerde S. 6). Er rügt damit die Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel. Ob die Unschuldsvermutung in diesem Sinne verletzt wurde, prüft das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür. Willkür liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid im bemängelten Punkt offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dass eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint, genügt nicht (BGE 137 I 1 E. 2.4). Die angebliche Willkür ist in der Beschwerde präzise zu rügen, und die Rüge ist zu begründen (Art. 106 Abs. 2 BGG). Kritik, wie sie vor einer Instanz mit voller Kognition vorgebracht werden kann, genügt nicht.
 
Aus den Vorbringen des Beschwerdeführers folgt nicht, dass die Vorinstanz in Willkür im umschriebenen Sinn verfallen wäre. So macht er geltend, die Aussagen der Verkehrsangestellten seien widersprüchlich. Die Vorinstanz stellt indessen fest, die Verkehrsangestellte habe ihre erste Aussage in einer zweiten Einvernahme bestätigt (angefochtener Entscheid S. 6 unten). In welchen für den Ausgang der Sache entscheidenden Punkten die Aussagen vom 1. Oktober 2009 und 23. Dezember 2009 widersprüchlich sein sollen, legt der Beschwerdeführer in seiner Eingabe vor Bundesgericht nicht dar.
 
Der Beschwerdeführer rügt, dass die Vorinstanz seinen Antrag auf die Einvernahme einer weiteren Augenzeugin abgelehnt hat. Die Zeugin wurde am 3. Dezember 2009 durch den Untersuchungsrichter befragt (angefochtener Entscheid S. 7 oben). Inwieweit sie zusätzlich "nützliche Hinweise zur Klärung der Aussagevarietät" der Verkehrsangestellten hätte geben können (Beschwerde S. 2), die für den Ausgang der Sache wichtig sein könnten, ergibt sich aus der Beschwerde nicht.
 
Schliesslich rügt der Beschwerdeführer, dass die Vorinstanz seinen Antrag auf Besichtigung und Beurteilung der sichergestellten Diensthose der Verkehrsangestellten abgelehnt hat. Inwieweit "die fehlende Verdichtung des Staubes an der Uniformhose" ein Anstossen des Autos ausschliessen sollte (Beschwerde S. 5 unten), ist allerdings nicht ersichtlich.
 
Gesamthaft gesehen kann von Willkür nicht die Rede sein.
 
4.
 
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das nachträglich gestellte Begehren um Erlass des Kostenvorschusses ist als Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege entgegenzunehmen. Es ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers (vgl. act. 8) ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 5. Januar 2012
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Mathys
 
Der Gerichtsschreiber: Monn
 
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