VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1B_483/2011  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1B_483/2011 vom 06.10.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_483/2011
 
Urteil vom 6. Oktober 2011
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Stohner.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8090 Zürich,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. David Gibor,
 
Bezirksgericht Zürich, 9. Abteilung, Badenerstrasse 90, Postfach, 8026 Zürich.
 
Gegenstand
 
Vorzeitiger Strafantritt,
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 15. August 2011 des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich führte gegen X.________ eine Strafuntersuchung wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, einfacher Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Tätlichkeiten. Sie wirft ihm vor, er sei im August 2008 in die Wohnung von A.________ eingedrungen, habe sie verletzt, deren Tochter B.________ geschlagen und C.________ mit einem Messer in den Hals und die Rippen gestochen. X.________ macht geltend, in Notwehr gehandelt zu haben.
 
In ihrer Anklage beantragte die Staatsanwaltschaft den Widerruf der bedingten Entlassung von X.________ aus dem Strafvollzug, seine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren als Gesamtstrafe und die Anordnung einer Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB.
 
Am 25. Mai 2011 fand die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich statt. Dieses beschloss die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens.
 
B.
 
Am 9. Juni 2011 ersuchte X.________ beim Bezirksgericht um Bewilligung des vorzeitigen Strafvollzugs. Diesen Antrag wies der Vorsitzende des Bezirksgerichts mit Verfügung vom 16. Juni 2011 ab.
 
Gegen diesen Entscheid erhob X.________ Beschwerde ans Obergericht des Kantons Zürich mit den Anträgen, die Verfügung vom 16. Juni 2011 aufzuheben und ihm den vorzeitigen Strafvollzug zu gewähren.
 
Mit Beschluss vom 15. August 2011 hiess das Obergericht die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung des Bezirksgerichts vom 16. Juni 2011 auf und bewilligte X.________ den vorzeitigen Strafvollzug.
 
C.
 
Mit Eingabe vom 12. September 2011 führt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des Beschlusses des Obergerichts vom 15. August 2011.
 
X.________ beantragt in seiner Stellungnahme vom 26. September 2011 sinngemäss die Abweisung der Beschwerde und die Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts. Das Bezirks- und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassungen. Die Eingaben wurden der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme zugestellt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG ist gegen den angefochtenen Entscheid die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 BGG zulässig. Die Beschwerdeführerin ist nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
2.
 
2.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Verfahrensleitung des erstinstanzlichen Gerichts stehe bei der Entscheidung, ob sie den vorzeitigen Strafantritt bewillige, ein grosses Ermessen zu. Dieses Ermessen habe die Vorinstanz missachtet. Der Stand des Verfahrens erlaube es nicht, dem Beschwerdegegner den vorzeitigen Strafantritt zu gewähren. Der Beschwerdegegner sei nicht geständig, und es stehe neben einer Freiheitsstrafe auch eine Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1 StGB zur Diskussion. Selbst wenn der Vollzug der Freiheitsstrafe einer Verwahrung vorausgehe (Art. 64 Abs. 2 StGB), sei in einer solchen Konstellation der vorzeitige Strafantritt besonders zurückhaltend zu bewilligen. Werde nämlich neben einer Freiheitsstrafe gleichzeitig auch eine Verwahrung angeordnet, sei der öffentlichen Sicherheit im Rahmen des Strafvollzugs in besonderem Mass Rechnung zu tragen (vgl. Art. 64 Abs. 4 StGB). Des Weiteren stehe auch der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr der Anordnung des vorzeitigen Strafantritts entgegen. Schliesslich könnten die Ergebnisse des angeordneten psychiatrischen Gutachtens weitere Beweismassnahmen notwendig machen.
 
2.2 Die Vorinstanz hat erwogen, das Vorverfahren sei abgeschlossen. Am 25. Mai 2011 habe die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht stattgefunden. Dabei seien der Beschwerdegegner, A.________, B.________ und C.________ einvernommen worden. Ausstehend sei nunmehr einzig das vom Bezirksgericht in Auftrag gegebene psychiatrische Gutachten. Zweck dieses Gutachtens sei, die Schuldfähigkeit, die Massnahmebedürftigkeit, die Massnahmefähigkeit und die Behandlungsbereitschaft des Beschwerdegegners abzuklären. Eine nach Eingang des Gutachtens neu angesetzte Hauptverhandlung habe sich auf die Abnahme dieses Beweises und die Stellungnahmen der Parteien dazu zu beschränken. Eine erneute Befragung der Beteiligten erscheine unter diesen Umständen unwahrscheinlich. Die Kollusionsgefahr bestehe damit jedenfalls nicht in einem Ausmass, welches der Bewilligung des vorzeitigen Strafvollzugs entgegenstehen würde. Daran ändere auch der Einwand der Beschwerdeführerin nichts, der Bruder von B.________ habe ausgesagt, der Beschwerdegegner habe Kollegen beauftragt, ihn anzurufen und zu beeinflussen.
 
2.3 Gemäss Art. 236 Abs. 1 StPO kann die Verfahrensleitung der beschuldigten Person bewilligen, Freiheitsstrafen oder freiheitsentziehende Massnahmen vorzeitig anzutreten, sofern der Stand des Verfahrens es erlaubt.
 
Der vorzeitige Strafantritt stellt seiner Natur nach eine strafprozessuale Zwangsmassnahme auf der Schwelle zwischen Strafverfolgung und Strafvollzug dar. Er soll ermöglichen, dass der beschuldigten Person bereits vor einer rechtskräftigen Urteilsfällung verbesserte Chancen auf Resozialisierung im Rahmen des Strafvollzugs geboten werden können (BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 277). Für eine Fortdauer der strafprozessualen Haft in den Modalitäten des vorzeitigen Strafvollzugs muss weiterhin ein besonderer Haftgrund wie namentlich Kollusionsgefahr gegeben sein. Dieser Haftgrund dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Je weiter das Strafverfahren fortgeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind grundsätzlich an den Nachweis von Kollusionsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2 f. S. 23 f. mit Hinweisen).
 
Für den vorzeitigen Strafvollzug ist, auch wenn er in einer Strafanstalt erfolgt, grundsätzlich das Haftregime der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft massgebend. Die für den ordentlichen Strafvollzug geltenden Vollzugserleichterungen können nach Massgabe der Erfordernisse des Verfahrenszweckes und gemäss den Notwendigkeiten, die sich aus dem besonderen Haftgrund der Kollusionsgefahr ergeben, beschränkt werden (vgl. Art. 236 Abs. 4 StPO; BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 278; Urteile des Bundesgerichts 1B_195/2009 vom 6. November 2009 E. 5 und 1B_84/2010 vom 12. April 2010 E. 2.3.3). Allerdings ist nicht zu verkennen, dass Kollusionshandlungen im Strafvollzug nicht gleich wirksam verhindert werden können wie in der Untersuchungs- und Sicherheitshaft. Der vorzeitige Strafantritt ist deshalb zu verweigern, wenn die Kollusionsgefahr derart hoch ist, dass mit der Gewährung des vorzeitigen Strafantritts der Haftzweck und die Ziele des Strafverfahrens gefährdet würden (Urteil des Bundesgerichts 1B_362/2010 vom 19. November 2010 E. 3.2).
 
2.4 Der Beschwerdegegner bestreitet den Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung nicht, beruft sich aber auf den Rechtfertigungsgrund der Notwehr und beantragt einen Freispruch. Damit ist er nicht vollumfänglich geständig. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin steht jedoch ein fehlendes oder ein nur teilweises Geständnis der Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts von Gesetzes wegen nicht entgegen. Eine solche Voraussetzung wäre auch sachlich nur schwer zu rechtfertigen. Sie stünde in einem Spannungsverhältnis zu fundamentalen Verteidigungsrechten, namentlich dem Recht der beschuldigten Person, sich nicht selbst zu belasten oder die Aussage zu verweigern (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_195/2009 vom 6. November 2009 E. 6). Allerdings kann die fehlende vollumfängliche Geständigkeit bei der Beurteilung der Kollusionsgefahr eine Rolle spielen (MARKUS HUG, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar StPO, 2010, Art. 236 N. 10).
 
2.5 Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, erscheint die Kollusionsgefahr vorliegend trotz fehlender vollumfänglicher Geständigkeit des Beschwerdegegners nicht derart ausgeprägt, dass eine Bewilligung des vorzeitigen Strafvollzugs den Haftzweck und die Ziele des Strafverfahrens gefährden würde. Dabei ist namentlich zu berücksichtigen, dass die Strafuntersuchung abgeschlossen ist und auch die erstinstanzliche Hauptverhandlung stattgefunden hat. Sämtliche notwendigen Konfrontationseinvernahmen sind bereits durchgeführt worden. Ausstehend ist einzig das in Auftrag gegebenen psychiatrische Gutachten, welches sich zur Schuldfähigkeit, zur Massnahmebedürftigkeit, zur Massnahmefähigkeit und zur Behandlungsbereitschaft des Beschwerdegegners äussern soll. Dementsprechend sind nochmalige Einvernahmen der Beteiligten nicht wahrscheinlich, sodass nicht von einer hohen Kollusionsgefahr auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund hat die Vorinstanz dem Beschwerdegegner den vorzeitigen Strafantritt zu Recht gewährt, ohne hierbei das der ersten Instanz zustehende Ermessen zu verletzen.
 
An diesem Ergebnis ändert der Umstand, dass vorliegend eine Verwahrung des Beschwerdegegners zur Diskussion steht, nichts Entscheidendes. Vielmehr kann den Sicherungsbedürfnissen auch im vorzeitigen Strafvollzug hinreichend Rechnung getragen werden, indem die Vollzugsmodalitäten entsprechend ausgestaltet werden, d.h. etwa Aussenkontakte des Beschwerdegegners beschränkt oder untersagt werden. Eine entsprechende differenzierte Behandlung von strafprozessualen Häftlingen und Gefangenen im ordentlichen Strafvollzug ist zulässig, behält doch Art. 84 Abs. 2 Satz 3 StGB strafprozessuale Massnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung ausdrücklich vor (vgl. BGE 133 I 270 E. 3.2.1 S. 278; Urteil des Bundesgerichts 1B_195/2009 vom 6. November 2009 E. 6; siehe zum Ganzen auch MATTHIAS HÄRRI, Basler Kommentar StPO, 2010, Art. 236 N. 8, 17 und 26).
 
3.
 
Die Beschwerde ist demnach abzuweisen. Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Die Beschwerdeführerin hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. Oktober 2011
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Stohner
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).