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Informationen zum Dokument  BGer 9C_231/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_231/2011 vom 14.09.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_231/2011
 
Urteil vom 14. September 2011
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
S.________, vertreten durch
 
Rechtsanwältin Evalotta Samuelsson,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich,
 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Taggelder),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Januar 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1983 geborene S.________ bezog aufgrund seines Geburtsgebrechens Ziff. 390 (angeborene cerebrale Lähmungen) Leistungen der Invalidenversicherung (medizinische Massnahmen, Pflegebeiträge für Hilflosigkeit, Hilfsmittel, Sonderschulung). Zudem gewährte ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich für den Zeitraum vom 14. August 2000 bis 13. August 2002 Kostengutsprache für eine erstmalige berufliche Ausbildung in Form einer Bürolehre im Ausbildungszentrum X.________ und weitere Leistungszusprachen im Rahmen der "Fortsetzung der erstmaligen beruflichen Ausbildung", welche zum Erwerb des Eidg. Fähigkeitszeugnisses als Kaufmännischer Angestellter im Juli 2005 und des Berufsmaturitätsdiploms, kaufmännische Richtung, im September 2006 führten. Dem am 12. Oktober 2006 gestellten Gesuch des S.________ um Kostengutsprache für die Ausbildung "Passerelle" am Institut Y.________ ab 18. September 2006 für ein Jahr samt Ausrichtung entsprechender Taggelder gab die Verwaltung indessen nur insoweit statt, als sie die Taxikosten vom Wohnort zum Ausbildungsort übernahm; die Ausbildungskosten dagegen seien im Rahmen der Weiterausbildung des angemessen eingegliederten Versicherten nicht als invaliditätsbedingte Mehrkosten einzustufen; ebenso wenig bestehe Anspruch auf Taggelder (Verfügung vom 7. Dezember 2006 respektive - nach deren Aufhebung durch das Versicherungsgericht des Kantons Zürich zwecks Nachholung des Vorbescheidverfahrens [Entscheid vom 19. Februar 2007] - Verfügung vom 18. Juli 2007, bestätigt durch den Entscheid des Bundesgerichts 9C_181/2009 vom 3. November 2009). Am 18. August 2008 ersuchte S.________ um Übernahme der behinderungsbedingten Mehrkosten für den Bachelorstudiengang Wirtschaftsrecht an der Schule M.________. Die IV-Stelle stellte mit Mitteilung vom 3. Oktober 2008 die Übernahme von Transportkosten in Aussicht, verneinte indes nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 4. März 2010 einen Anspruch auf Taggelder (separates Gesuch vom 26. Januar 2009).
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 27. Januar 2011 ab, soweit es darauf eintrat.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, die Kosten des Bachelorstudienganges Wirtschaftsrecht an der Schule M.________, ab 15. September 2008 als erstmalige Ausbildung zu übernehmen und ihm während der Dauer des Studiums das gesetzliche Taggeld auszurichten. Eventualiter sei die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit diese weitere Abklärungen vornehme und hernach nochmals über den Anspruch auf erstmalige Ausbildung entscheide. Zudem lässt S.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersuchen.
 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen oder auf Rüge hin berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG und Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Versicherten auf Taggelder im Rahmen des Bachelorstudienganges Wirtschaftsrecht an der Schule M.________ ab 15. September 2008. Nicht Streitgegenstand bildet die Kostenübernahme für den Studiengang selbst, da die IV-Stelle darüber nicht verfügt hat. Soweit der Beschwerdeführer die Übernahme dieser Ausbildung beantragt, ist auf seine Beschwerde nicht einzutreten.
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen, insbesondere auf Übernahme der invaliditätsbedingten zusätzlichen Kosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung und der - dieser gleichgestellten - beruflichen Neuausbildung oder beruflichen Weiterausbildung (Art. 8 IVG in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 sowie Abs. 2 lit. b und c IVG; SVR 2009 IV Nr. 12 S. 27, 9C_252/2007 E. 5; SVR 2006 IV Nr. 49 S. 179, I 285/05 E. 2) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt bezüglich Begriff und Ermittlung der "zusätzlichen Kosten" im Sinne von Art. 16 IVG (Art. 5 und 5bis IVV). Darauf wird verwiesen.
 
Zu ergänzen ist, dass nach Art. 22 Abs. 1bis IVG Versicherte in der erstmaligen beruflichen Ausbildung und Versicherte, die das 20. Altersjahr noch nicht vollendet haben und noch nicht erwerbstätig gewesen sind, Anspruch auf ein Taggeld haben, wenn sie ihre Erwerbsfähigkeit ganz oder teilweise einbüssen. In diesem Kontext wird auch von einer invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse gesprochen (ULRICH MEYER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 2.A., 2010, S. 249; RZ. 1032 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die Taggelder in der Invalidenversicherung, KSTI). Gemäss Rz. 1033 KSTI sind für die Ermittlung der invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse die Erwerbsverhältnisse der versicherten Person mit jenen einer nichtbehinderten Person zu vergleichen, die das gleiche Berufsziel anstrebt. Dies in Analogie zur Regelung bezüglich der Feststellung der invaliditätsbedingten Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung. Zu einer invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse führen kann gemäss Rz. 1034 KSTI insbesondere ein invaliditätsbedingt reduzierter Ausbildungslohn, der invaliditätsbedingt verzögerte Antritt der Ausbildung (Rückstand bezüglich der Höhe des Ausbildungslohnes), die invaliditätsbedingte Verlängerung der Ausbildung sowie die invaliditätsbedingte Unterbrechung der Ausbildung infolge Durchführung medizinischer Eingliederungsmassnahmen der IV zwischen der Vollendung des 18. und des 20. Altersjahres.
 
3.2 Wie die Vorinstanz festgestellt hat, ist nicht ersichtlich, inwiefern dem Versicherten bei der fraglichen Ausbildung abgesehen von den anerkannten Transportkosten invaliditätsbedingte zusätzliche Kosten im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 IVV erwachsen, und es sind solche auch nicht ausgewiesen. Diese Feststellung ist im Lichte der gesetzlichen Sachverhaltskognition (E. 1 hievor) verbindlich. In der Beschwerde wird nichts vorgebracht, was sie als offensichtlich unrichtig erscheinen lässt.
 
3.3 Zwar bildet nicht die Kostenübernahme für die Eingliederungsmassnahme an sich Streitgegenstand, sondern der Anspruch auf Taggeld. Beim Taggeld handelt es sich indes um eine akzessorische Leistung zur Eingliederungsmassnahme (BGE 120 V 429 E. 1 S. 432). Es kann grundsätzlich nur ausgerichtet werden, wenn und solange Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung zur Durchführung gelangen (Meyer, a.a.O. S. 250). Da wie dargelegt, keine wesentlichen Mehrkosten im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG ausgewiesen und damit die Voraussetzungen für den Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen von vornherein nicht erfüllt sind, entfällt prinzipiell - mangels eines taggeldbegleiteten Tatbestands - auch ein Anspruch auf Taggeld. Damit kann offen bleiben, ob der fragliche Studiengang als erstmalige berufliche Ausbildung im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG zu qualifizieren ist oder nicht.
 
Anzufügen ist an dieser Stelle, dass das Bundesgericht im Urteil 9C_181/2009 vom 3. November 2009 (E. 5.2.1) lediglich erwogen hat, dass ein weiterführendes Studium an einer spezifischen Fachhochschule grundsätzlich als Teil der erstmaligen beruflichen Ausbildung gemäss Art. 16 Abs. 1 IVG in Betracht falle. Ein zwingender Schluss lässt sich daraus nicht ziehen.
 
3.4 Im Weiteren bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Versicherte eine invaliditätsbedingte Erwerbseinbusse im Sinne von Art. 22 Abs. 1bis IVG erleidet. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, dass er bzw. ein jeder Nichtbehinderter, der das gleiche Berufsziel anstrebt, neben dem Besuch der spezialisierten Fachhochschule eine Erwerbstätigkeit ausüben würde (vgl. BGE 124 V 113 E. 4b S. 115 f.). Auch im Rahmen der Untersuchungsmaxime obliegt dem Rechtssuchenden die Pflicht, die rechtserheblichen Tatsachen zu behaupten und zu belegen (9C_211/2011 vom 5. Juli 2011 E. 4.4.2; SVR 2010 EL Nr. 7 S. 19, 9C_724/2009 E. 3.2.3.2; 5P.6/2004 vom 12. März 2004 E. 2.3 in fine). Allenfalls mag die Ausbildung behinderungsbedingt länger dauern, was im Umfang der behinderungsbedingten Verlängerung zu einer invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse führen kann (E. 3.1 hievor). Darüber ist jedoch in Bezug auf den massgebenden Überprüfungszeitpunkt und folglich über die Anwendbarkeit von Rz. 1035 KSTI des Verfügungserlasses (noch) nicht zu entscheiden.
 
4.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwältin Evalotta Samuelsson, Zürich, wird als unentgeltliche Anwältin des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 14. September 2011
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Helfenstein Franke
 
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