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Informationen zum Dokument  BGer 9C_200/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_200/2011 vom 01.07.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_200/2011
 
Urteil vom 1. Juli 2011
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
N.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Marco Bivetti,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Februar 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1955 geborene N.________ meldete sich im Oktober 2007 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 22. Januar 2009 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen ab November 2007 eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 55 % zu.
 
B.
 
Dagegen liess N.________ Beschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der Verfügung vom 22. Januar 2009 sei ihr eine ganze Rente, eventualiter eine Dreiviertelsrente zuzusprechen. Mit ihrer Vernehmlassung beantragte die IV-Stelle nebst Abweisung des Rechtsmittels die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin keinen Rentenanspruch habe. Nachdem das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen der Versicherten aufgrund einer drohenden reformatio in peius Gelegenheit zum Beschwerderückzug eingeräumt hatte, wies es die Beschwerde mit Entscheid vom 18. Februar 2011 ab.
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, unter Aufhebung des Entscheids vom 18. Februar 2011 sei festzustellen, dass die Versicherte keinen Rentenanspruch habe.
 
N.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit resp. die Zulässigkeit der bei ihm erhobenen Rechtsmittel von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 135 II 94 E. 1 S. 96; Urteil 8C_264/2009 vom 19. Mai 2009 E. 1; je mit Hinweisen).
 
1.2 Der Verwaltung (als beschwerte Partei im Prozess; vgl. Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG) ist es nicht verwehrt, letztinstanzlich die fehlende Bundesrechtskonformität des Rentenentscheids geltend zu machen - selbst wenn das kantonale Gericht damit die von ihr selbst erlassene Verfügung bestätigt hat (Urteil 9C_959/2009 vom 19. Februar 2010 E. 2.2). Ausserdem stellte die Beschwerdeführerin den Antrag auf Verneinung des Rentenanspruchs bereits im vorinstanzlichen Verfahren, weshalb er nicht neu im Sinne von Art. 99 Abs. 2 BGG ist (Urteil 8C_144/2010 vom 4. August 2010 E. 1.2).
 
1.3 Weiter schadet nicht, dass der Antrag der Beschwerdeführerin auf Feststellung lautet, wird doch auch damit sinngemäss (vgl. Anwaltsrevue 2009 8 S. 393, 9C_251/2009 E. 1.3 mit Hinweisen) die Aufhebung des die Verfügung vom 22. Januar 2009 bestätigenden kantonalen Entscheides verlangt. Weiter hätte die IV-Stelle wohl eine wiedererwägungsweise Rentenaufhebung verfügen können (Art. 53 Abs. 3 ATSG [SR 830.1]), was indessen vom rechtlichen Gehalt her lediglich einem Antrag an das kantonale Gericht gleichgekommen wäre (UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 47 zu Art. 53 ATSG), welcher denn auch gestellt wurde. Andere Möglichkeiten, mittels Verfügung (insbesondere auf dem Weg der Revision nach Art. 17 Abs. 1 oder Art. 53 Abs. 1 ATSG) auf die bislang noch nicht rechtskräftige Rentenverfügung zurückzukommen, fallen nicht in Betracht. Auf die Beschwerde der IV-Stelle ist daher einzutreten.
 
2.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
3.
 
Die Vorinstanz hat dem Gutachten der MEDAS vom 10. Juli 2008 Beweiskraft beigemessen. Danach sei aus somatischer Sicht und bezogen auf adaptierte Tätigkeiten jede Arbeitsunfähigkeit verneint worden und beruhe die angegebene Einschränkung von 50-60 % ausschliesslich auf einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit. Weiter hat sie einen Prozentvergleich durchgeführt und vom Invalideneinkommen einen Abzug von 5 % berücksichtigt. Bei einem resultierenden Invaliditätsgrad von (gerundet) 57 % hat sie den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente bestätigt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert des MEDAS-Gutachtens in Bezug auf die Arbeitsfähigkeitsschätzung und macht geltend, es liege kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor.
 
4.
 
4.1 Bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, welche von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.). Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).
 
4.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1). Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).
 
4.3
 
4.3.1 Der psychiatrische Teilgutachter diagnostizierte eine mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10: F33.11) und Angstreaktionen (ICD-10: F41.1) und hielt fest, das klinische Zustandsbild werde "von einer Depression dominiert begleitet von Angst mit Tendenz zur Somatisierung". Laut Angabe der Versicherten stehen Schmerzen, insbesondere Kopf- und Bauchschmerzen im Vordergrund. Inwiefern die psychiatrischen Diagnosen damit - und mit den im Hauptgutachten genannten, auf Schmerzen beruhenden Diagnosen - im Zusammenhang stehen oder aber davon losgelöste, eigenständige Leiden darstellen, wurde weder im psychiatrischen Teil- noch im Hauptgutachten nachvollziehbar dargelegt. Insofern ist nicht ersichtlich, ob die Versicherte unter einem ätiologisch-pathogenetisch unklaren syndromalen Zustand leidet, welcher mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung bei weitgehendem Fehlen eines somatischen Befundes vergleichbar ist.
 
4.3.2 Ist dies zu bejahen, ist die Arbeitsfähigkeit unter Anwendung der einschlägigen Rechtsprechung (BGE 130 V 352 E. 2.2.2 und 2.2.3 S. 353 ff.; 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281 f.) zu beurteilen. Entgegen der Annahme des kantonalen Gerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass die angegebene Arbeitsunfähigkeit von 55 % auf einer Anwendung der massgeblichen Kriterien beruht: So ist insbesondere nicht erkennbar, in welchem Verhältnis die psychiatrischen Diagnosen zueinander stehen und welche Schwere, Intensität, Ausprägung ihnen jeweils beizumessen ist. Weiter ist weder eine die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit beeinträchtigende chronische körperliche Begleiterkrankung noch ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens ausgewiesen. Ausserdem fehlt es an einem verfestigten, therapeutisch nicht mehr angehbaren innerseelischen Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn), zumal der psychiatrische Gutachter die Weiterführung der psychiatrischen Behandlung empfahl und eine gute Prognose stellte. Schliesslich sind konsequent durchgeführte Behandlungsbemühungen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person zu verneinen: Zwar befand sich die Versicherte in (stationärer und ambulanter) ärztlicher Behandlung, im Gutachten wurde aber festgehalten, dass die Einnahme der Antihypertensiva und Antidepressiva nicht der ärztlichen Empfehlung resp. den eigenen Angaben der Versicherten entspreche; sodann wurde eine Optimierung und Kontrolle der Medikamenteneinnahme und die Erwägung einer stationären Behandlung empfohlen.
 
4.3.3 Selbst wenn man die Rechtsprechung zu somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352 E. 2.2.2 und 2.2.3 S. 353 ff.; 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281 f.) nicht anwenden wollte, ist eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Umfang von insgesamt 50-60 % bereits nach dem Gesagten nicht nachvollziehbar. Zudem wurde eine fachärztliche psychiatrische Behandlung erst am 30. Juli 2007 mit dem bis 7. September 2007 dauernden Klinikaufenthalt aufgenommen; seither finden nach Angaben der Versicherten psychiatrische Konsultationen lediglich monatlich statt. Schliesslich ist eine Abgrenzung der ärztlichen Arbeitsfähigkeitsschätzung von der "sehr tiefen Selbsteinschätzung der körperlichen Fähigkeiten", welche sich anlässlich der Untersuchungen ("PACT-Test") zeigte, insbesondere angesichts der knappen Darlegung der objektiven Untersuchungsbefunde durch den psychiatrischen Gutachter nicht plausibel.
 
4.4 Unter diesen - den Beweiswert aus rechtlichen Gründen schmälernden - Umständen bildet das MEDAS-Gutachten keine genügende Grundlage für die vorinstanzlichen Feststellungen betreffend den Gesundheitszustand in psychischer Hinsicht resp. die daraus resultierende Arbeits(un)fähigkeit. Nachdem das kantonale Gericht in nicht offensichtlich unrichtiger Beweiswürdigung den Berichten der Dres. med. M.________ und K.________ die Beweiskraft abgesprochen hat und die übrigen medizinischen Unterlagen die Feststellung des massgeblichen Sachverhalts (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG) ebenfalls nicht erlauben, wird die Verwaltung ergänzende Abklärungen zu treffen haben.
 
5.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle als obsiegende Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). Das Ergebnis ist ohne Einfluss auf die vorinstanzliche Kostenverlegung, weshalb sich eine diesbezügliche Rückweisung der Sache an die Vorinstanz erübrigt.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Februar 2011 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 22. Januar 2009 aufgehoben werden, soweit damit ein Rentenanspruch bejaht wurde. Die Sache wird an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf eine Invalidenrente neu verfüge.
 
2.
 
Die Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 1. Juli 2011
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Dormann
 
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