VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_81/2011  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_81/2011 vom 28.03.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_81/2011
 
Urteil vom 28. März 2011
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
G.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dean Kradolfer,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau,
 
St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 8. Dezember 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1949 geborene G.________ meldete sich im Mai 1996 erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 27. September 1996 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau einen Leistungsanspruch. Auf eine Neuanmeldung des Versicherten trat die IV-Stelle mit Verfügung vom 21. November 1997 nicht ein. Im August 2008 beantragte G.________ erneut Invalidenleistungen. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 13. September 2010 einen Rentenanspruch.
 
B.
 
Die Beschwerde des G.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 8. Dezember 2010 ab.
 
C.
 
G.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 8. Dezember 2010 sei die Sache zu weiteren Abklärungen, insbesondere unabhängiger Begutachtung, an das kantonale Gericht bzw. die Verwaltung zurückzuweisen; eventualiter sei ihm eine halbe Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen.
 
Die IV-Stelle und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Die Vorinstanz hat festgestellt, der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers habe sich seit Erlass der Verfügung vom 27. September 1996 nicht massgeblich verändert. Sie hat folglich schon deshalb für fraglich gehalten, ob ein Revisionstatbestand in analoger Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG (SR 830.1) zu bejahen sei. Zudem hat sie die degenerativen Veränderungen, welche sie als einziges gesundheitliches Problem erachtete, "im Grundsatz" nicht für einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden gehalten. Auf die diesbezüglichen Rügen des Beschwerdeführers ist nicht einzugehen, weil das kantonale Gericht dennoch (unter Einbezug der degenerativen Veränderungen) eine materielle Prüfung des Rentenanspruchs mit Sachverhaltsfeststellung, Beweiswürdigung und Durchführung eines Einkommensvergleichs vorgenommen hat.
 
Gestützt auf die Einschätzung des Dr. med. B.________ (Bericht vom 17. November 2009) hat die Vorinstanz eine um maximal 30 % eingeschränkte Arbeitsfähigkeit in einer leichten Tätigkeit festgestellt. Weiter hat sie für das Jahr 2009, entsprechend dem zuletzt erzielten Verdienst, ein Valideneinkommen von Fr. 59'219.- angenommen. Das Invalideneinkommen hat sie auf Fr. 39'171.85 festgesetzt, wobei sie den Tabellenlohn der schweizerischen Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE 2008 Tabelle TA3, total Männer, Anforderungsniveau 4) herangezogen und die betriebsübliche Wochenarbeitszeit, die Nominallohnentwicklung sowie einen Abzug (BGE 126 V 75) von 10 % berücksichtigt hat. Beim daraus resultierenden Invaliditätsgrad von 33,85 % hat sie einen Rentenanspruch verneint.
 
3.
 
3.1 Bei der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, welche von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Aufgabe des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.). Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).
 
3.2 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1). Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).
 
3.3
 
Die vorinstanzliche Beweiswürdigung ist nicht offensichtlich unrichtig und beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung: Das kantonale Gericht hat nicht offensichtlich unrichtig (E. 1) festgestellt, der Versicherte leide an einem belastungsabhängigen chronischen lumbovertebralen und cervico-cephalen Schmerzsyndrom bei degenerativen Veränderungen der Lenden- und Halswirbelsäule ohne radikuläre Ausfälle; ein eigentliches neurologisches Krankheitsbild sei verneint worden. Weiter hat es nachvollziehbar dargelegt, weshalb es nicht auf die Arbeitsfähigkeitsschätzung des Dr. med. T.________ von 50 % abgestellt hat. Diesbezüglich hat es auf die Verschiedenheit von Behandlungs- und Begutachtungsauftrag (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353; Urteil 9C_842/2009 vom 17. November 2009 E. 2.2) verwiesen und festgestellt (E. 1), die Einschätzung erscheine "subjektiv gefärbt". Zudem genügt - im Kontext der weiteren Aktenlage - der Bericht des Dr. med. B.________, Facharzt für Neurologie, vom 17. November 2009 den Beweisanforderungen (E. 3.1). Zwar schätzte dieser die Einschränkung im Bericht vom 10. März 2009 auf 50 %. Aus der Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Art. 59 Abs. 2bis IVG und Art. 49 Abs. 1 IVV [SR 831.201]) vom 24. August 2009 geht hervor, dass diese Einschätzung keine (genügende) Grundlage in der Befunderhebung findet, weshalb der ergänzende Bericht vom 17. November 2009 eingeholt wurde. Der RAD-Stellungnahme vom 1. Dezember 2009 ist zu entnehmen, dass Dr. B.________ die degenerativen Veränderungen als ursächlich für Schmerzen mit einer daraus resultierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 30 % betrachtete. Sodann lässt sich aus dem Gutachten des Dr. med. R.________ vom 10. Dezember 2008 nichts für den Beschwerdeführer ableiten. Danach wäre dieser vollständig arbeitsfähig in einer "sehr leichten Tätigkeit in sitzender oder stehender Haltung, ohne die Notwendigkeit Gegenstände vom Boden aufzuheben oder mittelschwere Lasten zu heben (Bürojob)". Diesem Anforderungsprofil genügende Tätigkeiten stehen aber nicht nur als (den Versicherten intellektuell überfordernde) "Bürojobs" zur Verfügung; ebenso fallen etwa einfache Überwachungs-, Kontroll-, Kleinmontage- oder leichte Verpackungsarbeiten in Betracht (Urteile 9C_124/2010 vom 21. September 2010 E. 2.2; 9C_82/2009 vom 9. Oktober 2009 E. 5.5 mit Hinweisen). Schliesslich besteht - entgegen der Auffassung des Versicherten - auch im Rahmen der Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen (Art. 61 lit. c und Art. 43 Abs. 1 ATSG) kein Anspruch auf eine multidisziplinäre Begutachtung (Urteil 9C_689/2010 vom 19. Januar 2011 E. 3.2). Das kantonale Gericht hat daher in pflichtgemässer antizipierender Beweiswürdigung (BGE 122 V 157 E. 1d S. 162) auf weitere Abklärungen verzichtet, zumal eine gesundheitliche Verschlechterung seit der Begutachtung durch Dr. med. B.________ weder ersichtlich ist, noch geltend gemacht wurde.
 
3.4 Nach dem Gesagten kann in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit von Willkür in der Sachverhaltsfeststellung (vgl. BGE 134 II 124 E. 4.1 S. 133; 133 I 149 E. 3.1 S. 153 mit Hinweisen) - die zu treffen im Übrigen Aufgabe des kantonalen Gerichts ist (Art. 61 lit. c ATSG; E. 1 und 3.2) - nicht die Rede sein, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich (E. 1) bleibt.
 
4.
 
4.1 Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Durchschnittswerten ermittelt, ist der entsprechende Ausgangswert (Tabellenlohn) allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad (vgl. LSE 94 S. 51) Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323) und je nach Ausprägung die versicherte Person deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 126 V 75 E. 5b/aa in fine S. 80). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb-cc S. 80; 134 V 322 E. 5.2 S. 327 f.; Urteil 9C_368/2009 vom 17. Juli 2009 E. 2.1).
 
4.2 Ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, stellt eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage dar (Urteil 8C_652/2008 vom 8. Mai 2009 E. 4 in fine, nicht publiziert in: BGE 135 V 297). Die Frage nach der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzuges vom Tabellenlohn dagegen ist eine Ermessensfrage. Deren Beantwortung ist letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung (vgl. zu diesen Rechtsbegriffen Urteil I 793/06 vom 4. Oktober 2007 E. 2.3, in: Plädoyer, 2008/1 S. 69; BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_368/2009 vom 17. Juli 2009 E. 2.1).
 
4.3 Beim Abzug vom Tabellenlohn hat die Vorinstanz den Beschäftigungsgrad (70 %) und das Alter (Jahrgang 1949) berücksichtigt. Sie ist der Auffassung, mit der Annahme einer Arbeitsfähigkeit von 70 % sei den medizinisch begründeten Einschränkungen des Beschwerdeführers grosszügig Rechnung getragen worden. Weiter hat sie nicht offensichtlich unrichtig festgestellt (E. 1), das zuletzt erzielte Einkommen sei in keiner Weise unterdurchschnittlich. Unter den gegebenen Umständen kann hinsichtlich der Höhe des Abzugs von 10 % nicht von rechtsfehlerhafter Ermessensausübung gesprochen werden: Die Tatsache einer gesundheitlichen Einschränkung rechtfertigt für sich allein noch keinen Tabellenlohnabzug (E. 4.1). Die weiteren invaliditätsfremden Faktoren wie mangelnde Ausbildung und Deutschkenntnisse sind als invaliditätsfremde Faktoren entweder überhaupt nicht oder dann bei beiden Vergleichseinkommen gleichmässig zu berücksichtigen (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 326; 129 V 222 E. 4.4 S. 225). Nachdem sie offenbar ohne Auswirkungen auf das Valideneinkommen blieben, besteht auch keine Veranlassung für eine Berücksichtigung beim Invalideneinkommen. Was den Ausländerstatus anbelangt, ist ebenfalls kein Abzug angezeigt, verdienen doch Männer mit Niederlassungsbewilligung (Kategorie C, was auf den Beschwerdeführer zutrifft) im Anforderungsniveau 4 zwar weniger als Schweizer, aber dennoch mehr als das für die Invaliditätsbemessung herangezogene Durchschnittseinkommen (LSE 2008, Tabelle TA12, Medianwert).
 
4.4 Die übrigen Faktoren der Invaliditätsbemessung werden weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht beanstandet. Es besteht kein Anlass für eine nähere Prüfung von Amtes wegen (BGE 125 V 413 E. 1b und 2c S. 415 ff.; BGE 110 V E. 4a S. 53). Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz bei einem resultierenden Invaliditätsgrad von (gerundet) 34 % einen Rentenanspruch zu Recht verneint (Art. 28 Abs. 2 IVG).
 
5.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Pensionskasse Post, Bern, schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 28. März 2011
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Dormann
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).