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Informationen zum Dokument  BGer 5A_489/2007  Materielle Begründung
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BGer 5A_489/2007 vom 23.11.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
5A_489/2007
 
Urteil vom 23. November 2007
 
II. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Raselli, Präsident,
 
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Marazzi,
 
Gerichtsschreiber Gysel.
 
Parteien
 
Erbengemeinschaft X.________, bestehend aus:
 
1. A.________,
 
2. B.________,
 
3. C.________,
 
Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Hermann Lei,
 
gegen
 
Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Weinfelden als unterer Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen bzw. Gerichtsvorsitzende in einem Rückforderungsprozess.
 
Gegenstand
 
Ausstand,
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 25. Juni 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Am 31. August 2004 versteigerte das Betreibungsamt K.________ das in L.________ gelegene Grundstück Nr. xxxx, das damals im Eigentum der Erben von Y.________ stand. Auf dem Grundstück lasteten verschiedene den Grundpfandrechten nachgehende Dienstbarkeiten, unter anderem auch solche zu Gunsten des angrenzenden Grundstücks Nr. yyyy der Erbengemeinschaft X.________. Auf Begehren der Bank M.________ als Grundpfandgläubigerin kam es zu einem Doppelaufruf. Im zweiten Aufruf wurde das Grundstück für Fr. 8'005'000.-- zugeschlagen. Nach Deckung der pfandversicherten Forderungen und der Kosten des Betreibungsamtes verblieb ein Betrag von Fr. 763'541.49. Die Erbengemeinschaft X.________ machte den ganzen Überschuss als Wert der gelöschten Dienstbarkeiten geltend. Daneben forderten zwei weitere Ansprecher Abfindungen. Das Betreibungsamt wies in der am 16. November 2004 aufgelegten Verteilungsliste den gesamten Überschuss der Erbengemeinschaft X.________ zu und forderte die beiden anderen Ansprecher unter Ansetzung einer Frist von zwanzig Tagen auf, gegebenenfalls Kollokationsklage zu erheben.
 
A.b Mit einer gegen die Verteilungsliste gerichteten betreibungsrechtlichen Beschwerde verlangten die Erben von Y.________, den gesamten Überschuss (der sich nach Abrechnung der Grundstückgewinnsteuern nunmehr auf Fr. 706'981.49 belief) ihnen zuzuweisen. Gestützt auf die von ihr angeordnete Expertise wies die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Weinfelden als untere Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen mit Verfügung vom 20. Oktober 2005 der Erbengemeinschaft X.________ für die gelöschten Dienstbarkeiten den Betrag von Fr. 127'164.20 zu. Die durch die Erbengemeinschaft X.________ gegen diesen Entscheid eingereichte Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Thurgau als (obere) kantonale Aufsichtsbehörde am 19. Dezember 2005 ab.
 
A.c Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts trat mit Urteil vom 13. Juni 2006 (7B.27/2006) auf die von der Erbengemeinschaft X.________ erhobene Beschwerde nicht ein, hob aber den obergerichtlichen Beschluss wegen Nichtigkeit von Amtes wegen auf. Sie kam zum Schluss, dass nicht die Aufsichtsbehörde, sondern - aufgrund einer Kollokations- bzw. Rückforderungsklage - der Richter über die Höhe einer Entschädigung für gelöschte Dienstbarkeiten zu befinden habe (BGE 132 III 539 E. 3.2 und 3.3 S. 542 ff.).
 
B.
 
Die Erben von Y.________ gelangten am 8. März 2007 mit einer Rückforderungsklage an das Bezirksgericht Weinfelden. Im Hinblick auf das damit eingeleitete Verfahren hatte die Erbengemeinschaft X.________ bereits mit Eingabe vom 13. Februar 2007 bei der gleichen Instanz den Ausstand der Vizepräsidentin verlangt, da diese als untere Aufsichtsbehörde schon über die betreibungsrechtliche Beschwerde der Gegenpartei befunden habe.
 
Das Bezirksgericht beschloss am 27. April 2007, das Ausstandsbegehren abzuweisen, und am 25. Juni 2007 wies das Obergericht des Kantons Thurgau auch den durch die Erbengemeinschaft X.________ dagegen erhobenen Rekurs ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 4. September 2007 beantragt die Erbengemeinschaft X.________, den obergerichtlichen Beschluss vom 25. Juni 2007 aufzuheben und das Verfahren dem Präsidenten des Bezirksgerichts Weinfelden zuzuweisen.
 
In seinem Aktenüberweisungsschreiben schliesst das Obergericht auf Abweisung der Beschwerde.
 
Eine Vernehmlassung zur Beschwerde ist im Übrigen nicht eingeholt worden.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Angefochten ist ein selbständig eröffneter, letztinstanzlicher Entscheid über ein Ausstandsbegehren (Art. 92 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 1 BGG). Es handelt sich um einen Zwischenentscheid. Bei solchen folgt der Rechtsweg demjenigen der Hauptsache (Urteil 5A_108/2007 vom 11. Mai 2007, E. 1.2). In dieser geht es hier um ein Rückforderungsbegehren nach Art. 86 SchKG, mithin um eine materiell-rechtliche Leistungsklage. Entgegen der Bestimmung von Art. 112 Abs. 1 lit. d BGG fehlt im angefochtenen Entscheid die Angabe des Streitwertes, und auch die Beschwerde enthält keinen entsprechenden Hinweis. Den Akten zufolge ist die für die Beschwerde in Zivilsachen geltende Streitwertgrenze von 30'000 Franken (Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG) indes überschritten, so dass auf die Eingabe auch aus dieser Sicht einzutreten ist.
 
2.
 
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, ihr Anspruch auf einen unbefangenen Richter (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) wäre verletzt, wenn die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Weinfelden, die in der in Frage stehenden Sache als untere Aufsichtsbehörde eine betreibungsrechtliche Beschwerde beurteilt hatte, beim Entscheid über die Rückforderungsklage mitwirken würde. Schon im kantonalen Verfahren habe sie auf § 51 Ziff. 4 der Thurgauer Zivilprozessordnung (ZPO) hingewiesen, wonach ein Richter sein Amt nicht ausüben darf, wenn er in der streitigen Angelegenheit als Richter in einer anderen Instanz gehandelt hat. Ausserdem sei auch der allgemeine Ausstandsgrund der Befangenheit gemäss § 52 ZPO gegeben. Die Beschwerdeführerin beruft sich schliesslich auf § 31 der Kantonsverfassung, wonach Mitglieder einer Behörde den Ausstand zu wahren haben, wenn sie in einer Angelegenheit ein unmittelbares oder ein erhebliches mittelbares Interesse haben.
 
2.1 Den Vorbringen der Beschwerdeführerin lässt sich nicht entnehmen, dass die von ihr angerufenen kantonalen Verfahrens- und Verfassungsbestimmungen von einem strengeren Begriff der Unabhängigkeit des Richters ausgehen als die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur ebenfalls angerufenen Bundesverfassung und zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Die vorgebrachten Rügen sind daher ausschliesslich im Lichte von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK zu prüfen.
 
Nach diesen beiden Bestimmungen, die im einschlägigen Punkt dieselbe Tragweite haben, hat der Einzelne Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Gericht ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Liegen bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vor, die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit des Gerichts zu begründen vermögen, ist die Garantie des verfassungsmässigen Richters verletzt. Das Bundesgericht prüft die Einhaltung der Garantie frei (BGE 133 I 1 E. 5.2 S. 3 f. mit Hinweisen).
 
2.2 Bei dem von der Beschwerdeführerin angesprochenen Tatbestand der möglichen Befangenheit wegen sogenannter Vorbefassung geht es um die Frage, ob der Richter sich durch seine Mitwirkung an früheren Entscheidungen zur gleichen Streitsache in einzelnen Punkten bereits in einer Art festgelegt hat, die ihn nicht mehr als unvoreingenommen und das Verfahren dementsprechend als nicht mehr offen erscheinen lässt. Wie es sich damit verhält, beurteilt sich nach den konkreten Gegebenheiten. Von Bedeutung ist etwa, unter welchen tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Umständen der Richter sich im früheren Zeitpunkt mit der Sache befasste bzw. später zu befassen hat oder welche Fragen in den beiden Verfahrensabschnitten zu entscheiden und inwiefern sie sich ähnlich sind oder miteinander zusammenhängen. In Betracht zu ziehen sind ferner der Umfang des Entscheidungsspielraums bei der Beurteilung der sich in den beiden Abschnitten stellenden Rechtsfragen und die Bedeutung der Entscheidungen auf den Fortgang des Verfahrens (BGE 114 Ia 50 E. 3d S. 57 und 59; 126 I 68, E. 3c S. 73, und 168, E. 2a S. 169; 131 I 24 E. 1.2 S. 26).
 
2.3 Die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Weinfelden hatte als untere kantonale Aufsichtsbehörde in Schuldbetreibungs- und Konkurssachen über eine Beschwerde der Erben von Y.________ zu befinden. Es war darum gegangen, wem der Überschuss aus der Zwangsverwertung deren Grundstücks zukommen solle. Während die Erben von Y.________ ihn für sich beanspruchten, hatte ihn das Betreibungsamt - als Abfindung für die Löschung von Grunddienstbarkeiten - der Erbengemeinschaft X.________ (der Beschwerdeführerin im vorliegenden Verfahren) zugewiesen. Die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts hiess die Beschwerde teilweise gut und erkannte der Erbengemeinschaft X.________ nur einen kleinen Teil des Überschusses zu (Verfügung vom 20. Oktober 2005). Vom Obergericht des Kantons Thurgau (obere Aufsichtsbehörde) wurde dieser Entscheid bestätigt (Beschluss vom 19. Dezember 2005). Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts trat auf die von der Beschwerdeführerin gegen den obergerichtlichen Beschluss erhobene Beschwerde nicht ein, hob jenen aber von Amtes wegen auf, weil auf die von den Erben von Y.________ eingereichte Beschwerde, die eine materiellrechtliche Frage zum Gegenstand gehabt habe, nicht hätte eingetreten werden dürfen und mit den Entscheiden der Aufsichtsbehörden in die Kompetenz des Richters eingegriffen worden sei (Urteil 7B.27/2006 vom 13. Juni 2006).
 
Sodann ist zur Zeit - ebenfalls beim Bezirksgericht Weinfelden - eine von den Erben von Y.________ gegen die Beschwerdeführerin eingereichte Klage auf Rückforderung im Sinne von Art. 86 SchKG hängig. Die klagenden Erben machen geltend, vom Überschuss aus der Verwertung ihrer Liegenschaft, den das Betreibungsamt vollumfänglich (d.h. im Betrag von etwas mehr als 700'000 Franken) der Beschwerdeführerin zuerkannte, stünden Fr. 584'372.04 ihnen zu. Nach den Feststellungen des Obergerichts wird die Verfahrensleitung - von Gesetzes wegen - bei der Vizepräsidentin liegen.
 
2.4 Im Rückforderungsprozess wird es nach dem Ausgeführten hauptsächlich um den Wert der im Rahmen der Grundstücksverwertung gelöschten Dienstbarkeiten, die zu Gunsten der Beschwerdeführerin im Grundbuch eingetragen waren, bzw. um die Abfindung der Beschwerdeführerin für deren Verlust gehen. Mit der Höhe dieser Entschädigung hatte sich die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts Weinfelden - in Missachtung der Kompetenzordnung - ebenfalls in ihrem Beschwerdeentscheid vom 20. Oktober 2005 befasst. Letzterer fiel mit dem bundesgerichtlichen Urteil vom 13. Juni 2006 dahin. Zu dem vom Obergericht angestellten Vergleich der gegebenen Sachlage mit dem Fall, da die Rechtsmittelinstanz eine Streitsache zur neuen Beurteilung an die untere Instanz zurückweise, ist zu bemerken, dass die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer im erwähnten Entscheid sich in keiner Weise in materiellrechtlicher Hinsicht zum Gegenstand eines gegebenenfalls einzuleitenden Rückforderungsverfahrens geäussert und auch sonst keine Anweisungen erteilt hat. Indessen zu Recht weist die Vorinstanz darauf hin, dass im neuen Verfahren der Prozessstoff insofern erweitert sein wird, als sich etwa die Frage der Einhaltung der Klagefrist stellt. Von entscheidender Bedeutung ist ferner vor allem der Unterschied hinsichtlich der Verfahrensregeln: Während im betreibungsrechtlichen Beschwerdeverfahren der Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen ist (Art. 20a Abs. 2 Ziff. 2 SchKG), gilt für den Rückforderungsprozess die Verhandlungsmaxime. Den Parteien wird damit eine erhöhte Verantwortung zukommen, und die Beschwerdeführerin wird frei sein, die für ihren Standpunkt dienlichen (neuen) Beweise anzubieten.
 
Angesichts der dargelegten Umstände lässt sich nicht sagen, der Ausgang des Rückforderungsprozesses erscheine nicht mehr als offen, wenn in diesem auch die Vizepräsidentin des Bezirksgerichts mitwirke. Von einer unzulässigen Vorbefassung dieser Richterin kann mit anderen Worten keine Rede sein.
 
3.
 
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen. Ausgangsgemäss ist die Gerichtsgebühr der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde in Zivilsachen wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. November 2007
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Raselli Gysel
 
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