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Informationen zum Dokument  BGer I 699/2006  Materielle Begründung
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BGer I 699/2006 vom 05.11.2007
 
Tribunale federale
 
I 699/06 {T 7}
 
Urteil vom 5. November 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
Parteien
 
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4002 Basel, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
S.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch das Behindertenforum, Rechtsdienst für Behinderte, Klybeckstrasse 64, 4057 Basel.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 22. Juni 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1969 geborene S.________ meldete sich am 28. Januar 1998 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, nachdem sie ihre Arbeit als Reinigungskraft im Frühjahr 1997 aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben hatte. Eine Begutachtung in der Psychiatrischen Universitätspoliklinik X.________ förderte eine dissoziative Bewegungsstörung (Konversionssyndrom) mit anfallsweise auftretenden Lähmungserscheinungen in den Beinen sowie ein zwischenzeitlich abgeklungenes mittelgradiges bis schweres depressives Syndrom, beides auf der Basis einer kindlich-unreifen Persönlichkeit, zutage; ein früherer Arbeitsunfall vom November 1994 (Kontusion des Oberschenkels) habe eine Schmerzproblematik ausgelöst, die sich - auf dem Wege der unbewussten Abwehr massiver psychischer Konflikte - stark verschlimmert und zu Arbeitsunfähigkeit geführt habe (Expertise vom 20. Februar 1998). Die IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt ordnete eine dreimonatige berufliche Abklärung an (Verfügung vom 15. Oktober 1998), die aber vorzeitig abgebrochen wurde; nach Auffassung der Verantwortlichen im Zentrum Y._________ setze eine berufliche Eingliederung die vorgängige wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustands voraus (Bericht vom 10. November 1998). Der damalige Leitende Arzt der Psychiatrischen Universitätspoliklinik PD Dr. K.________ hielt dazu mit Bericht vom 15. April 1999 fest, die Prognose sei wegen der bereits fortgeschrittenen Chronifizierung ungünstig; im Übrigen bestätigte er die Auffassung, erst nach einer Besserung der Schmerzsituation sei an berufliche Massnahmen (in Form eines Arbeitstrainings) zu denken, welche den Wiedereinstieg in das Berufsleben erleichtern könnten. Die IV-Stelle holte beim Psychiater Dr. F.__________ ein Gutachten vom 18. Juni und 26. November 2001 ein. Dieser Arzt diagnostizierte eine mögliche anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Aus den Akten gehe hervor, dass von Dezember 1996 bis Februar 1998 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bestanden habe, danach noch eine solche im bisherigen Beruf als Reinigungsangestellte. Seit Dezember 1999 schliesslich sei eine schwere Tätigkeit aus psychiatrischer Sicht nicht mehr zumutbar, wohl aber jede leichte bis mittelschwere Arbeit, dies ohne weitere Einschränkungen.
 
Mit Verfügungen vom 25. April 2002 sprach die IV-Stelle S.________ eine auf den Zeitraum von Dezember 1997 bis Mai 1998 befristete ganze sowie eine auf den Zeitraum Juni 1998 bis Dezember 1999 befristete halbe Invalidenrente zu. Seit Ende November 2002 ist die Versicherte im Umfang von zunächst knapp drei Stunden täglich als Teilzeit-Kioskverkäuferin wieder berufstätig. Nach Eingang einer Neuanmeldung am 7. März 2003 holte die IV-Stelle Stellungnahmen der behandelnden Psychiaterin Dr. G._________ und des Rheumatologen Dr. E.________ sowie ein neues Gutachten des Dr. F.__________ vom 13. Juli 2004 ein. Die behandelnden Ärzte attestierten eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit um 50 Prozent, der psychiatrische Gutachter nunmehr eine solche von 30 Prozent. Mit Verfügung vom 9. August 2004 lehnte die IV-Stelle das Gesuch um Ausrichtung einer Invalidenrente mangels eines anspruchsbegründenden Invaliditätsgrades ab. Im Rahmen des Einspracheverfahrens liess die Verwaltung bei Dr. B.________ ein rheumatologisches Gutachten vom 13. Januar 2005 erstellen. Dieser diagnostizierte im Wesentlichen eine Fibromyalgie "vom funktionellen Typ" und kam zum Schluss, aus rheumatologischer Sicht bestehe in leichter bis mittelschwerer Arbeit volle Leistungsfähigkeit; unter Berücksichtigung der psychiatrischen Problematik sei diese um höchstens 25 Prozent eingeschränkt. Die IV-Stelle wies die Einsprache ab (Entscheid vom 4. Februar 2005).
 
B.
 
S.________ führte gegen den Einspracheentscheid Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt. Dieses holte beim Psychiater Dr. M.________ ein gerichtliches Gutachten ein. Der Gutachter erhob komplexe diagnostische Verhältnisse, aufgrund derer - in einer geeigneten Arbeit wie der tatsächlich versehenen Tätigkeit als Kioskangestellte - seit dem Jahr 2001 eine Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent bestehe (Expertise vom 20. März 2006). Das kantonale Gericht sprach der Versicherten in Aufhebung des Verwaltungsaktes mit Wirkung ab dem 1. Mai 2002 eine halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 22. Juni 2006).
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
 
S.________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). Ferner besteht (entgegen aArt. 132 lit. c OG) Bindung an die Parteianträge (Art. 114 Abs. 1 OG).
 
1.3 Das kantonale Gericht hat - unter Berücksichtigung der auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Normen des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) sowie der auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision) - die für den Rentenanspruch (Art. 28 Abs. 1 IVG), die Invaliditätsbemessung bei erwerbstätigen Versicherten (Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG) sowie für den Beginn des Renten- bzw. Nachzahlungsanspruchs (Art. 29 Abs. 1 lit. b und Art. 48 Abs. 2 IVG) geltenden Bestimmungen zutreffend dargelegt. Das Gleiche gilt hinsichtlich der vorinstanzlichen Ausführungen zur Bedeutung der medizinischen Entscheidungsgrundlagen im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261; AHI 2002 S. 70, I 82/01). Darauf wird verwiesen.
 
2.
 
Streitig ist, wie es sich mit der Arbeitsunfähigkeit der Beschwerdegegnerin ab Frühjahr 2001 verhält.
 
2.1 Die Verwaltung hatte der Versicherten mit Verfügungen vom 25. April 2002 eine auf den Zeitraum von Dezember 1997 bis Mai 1998 befristete ganze sowie eine auf den Zeitraum Juni 1998 bis Dezember 1999 befristete halbe Invalidenrente zugesprochen. Bei rückwirkender Zusprechung einer abgestuften oder befristeten Invalidenrente sind die für die Rentenrevision geltenden Bestimmungen analog anzuwenden (BGE 131 V 164 E. 2.2 S. 165). Gegenstand der Verfügungen vom 25. April 2002 bildet denn auch die an die erwähnten Leistungsperioden anschliessende, nach den Grundsätzen der Rentenrevision vorgenommene Aufhebung der Rente (BGE 133 V 263 E. 6.1). Das kantonale Gericht war daher gehalten, dem prozessualen Umstand Rechnung zu tragen, dass das zu beurteilende Leistungsbegehren auf einer Neuanmeldung vom 7. März 2003 beruht.
 
2.2 Die Vorinstanz hat für ihren Entscheid im Wesentlichen auf das im kantonalen Prozess eingeholte psychiatrische Gutachten des Dr. M.________ vom 20. März 2006 abgestellt. Danach entspreche die Arbeitsfähigkeit aus gesamtmedizinischer Sicht derjenigen aus psychiatrischer Sicht, nämlich ungefähr 50 Prozent für eine wechselbelastende Arbeit. Eine längere Arbeitszeit als die effektiv geleisteten drei bis fünf Stunden pro Tag würde "zweifellos" zu einer depressiven Dekompensation führen.
 
2.3
 
2.3.1 Im Rahmen einer Neuanmeldung hängt die Zusprechung einer Invalidenrente davon ab, ob sich der Invaliditätsgrad in anspruchserheblicher Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 4 IVV in Verbindung mit Abs. 3 IVV; Art. 17 Abs. 1 ATSG). Der zuständige Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der Invalidenversicherung hat zunächst gefunden, die umfassende Expertise des Dr. M.________ vom 20. März 2006 gebe - bis auf die retrospektive Beurteilung der Arbeitsfähigkeit - keinen Anlass zur Kritik. Die Differenz zu den von der Verwaltung eingeholten psychiatrischen Gutachten des Dr. F.__________ vom 18. Juni/23. Oktober 2001 und 13. Juli 2004 erkläre sich aus einer seitherigen Verschlechterung des Gesundheitszustands (Stellungnahme vom 5. April 2006). Erst im Hinblick auf die Erhebung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zog der RAD den Beweiswert des Gerichtsgutachtens grundsätzlich in Zweifel. Die beschwerdeführende IV-Stelle stützt sich auf die als "integrierenden Bestandteil" der Rechtsschrift bezeichnete neue Stellungnahme des RAD vom 13. Juli 2006.
 
2.3.2 Das kantonale Gericht erwog anhand des Gerichtsgutachtens des Dr. M.________ zwar, die Arbeitsunfähigkeit betrage seit Januar 2001 unverändert rund 50 Prozent. Es traf jedoch keine Feststellung zur revisionsrechtlichen Frage, ob in der massgebenden Zeitperiode eine anspruchsrelevante Änderung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG eingetreten sei. Es äusserte sich auch nicht dazu, unter welchem Titel auf die den Verfügungen vom 25. April 2002 zugrunde liegenden Tatsachen zurückzukommen sei. Dies ist nachzuholen. In diesem Zusammenhang hätte die Vorinstanz allenfalls zu prüfen, ob Gründe für einen Revisionstatbestand gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG vorliegen könnten. Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war (Art. 53 Abs. 1 ATSG).
 
2.4 Nach dem Gesagten ist nicht abschliessend geklärt, ob ein neuanmeldungsrechtlich erheblicher Revisionstatbestand gegeben ist, und verneinendenfalls unter welchem Titel das Gutachten des Dr. M.________ vom 20. März 2006 Anlass bietet, auf die formell rechtskräftigen Verwaltungsverfügungen vom 25. April 2002 zurückzukommen. Das kantonale Gericht wird sich unter diesem Aspekt mit der Sache befassen und diese nötigenfalls seinerseits mit entsprechenden Direktiven zur neuen Entscheidung an die IV-Stelle zurückweisen.
 
3.
 
Das Verfahren hat Leistungen der Invalidenversicherung zum Gegenstand und ist deshalb kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG, gültig gewesen vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006; vgl. E. 1.2). Die Gerichtskosten sind der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Die unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung; Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG) kann gewährt werden (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu imstande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 22. Juni 2006 wird aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt vom 4. Februar 2005 neu entscheide. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege werden sie einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.
 
3.
 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird dem Behindertenforum (Rechtsdienst für Behinderte), Basel, für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 5. November 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Traub
 
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