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Informationen zum Dokument  BGer H 199/2006  Materielle Begründung
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BGer H 199/2006 vom 24.10.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
H 199/06
 
Urteil vom 24. Oktober 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
Parteien
 
Stiftung C.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecherin Marianne Hammer-Feldges, Anshelmstrasse 22, 3005 Bern,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin,
 
betreffend E.________ und H.________.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 28. September 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die Stiftung C.________ bietet unter dem Namen "P.________" (u.a.) eine Suchttherapie an, welche darin besteht, Menschen mit Suchtproblemen bei einer Gastfamilie auf einem Bauernhof im Raum Z.________ zu platzieren und zu betreuen. Das Ehepaar E.________ und H.________ schloss am 24. März 1997 mit der Stiftung C.________ einen Rahmenvertrag ab und betreut seither als Gastfamilie immer wieder Suchtkranke. Das Alters- und Versicherungsamt (AHV-Zweigstelle) qualifizierte das Ehepaar E.________ und H.________ als Unselbstständigerwerbende und verlangte von der Stiftung C.________ mit Verfügung vom 16. November 2005 die Nachzahlung von AHV-Beiträgen für die Jahre 2002 bis 2004. Auf Einsprache der Stiftung C.________ hin bestätigte es die Verfügung mit Einspracheentscheid vom 16. März 2006.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der Stiftung C.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 28. September 2006 ab.
 
C.
 
Die Stiftung C.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, es sei festzustellen, dass den Beigeladenen, E.________ und H.________, selbstständige Stellung zukomme; entsprechend sei die Nachzahlungsverfügung aufzuheben. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das kantonale Gericht sowie die Beigeladenen verzichten auf eine Stellungnahme.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S 395).
 
1.2 Für die materiell-rechtliche Beurteilung sind in zeitlicher Hinsicht diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes (Ausübung einer beitragspflichtigen selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit in den Jahren 2002 bis 2004) Geltung haben (BGE 131 V 9 E. 1 S. 11). Die Beurteilung der Beitragspflicht richtet sich dementsprechend nach den in den Jahren 2002 bis 2004 gültig gewesenen Bestimmungen. Für die Zeit bis 31. Dezember 2002 sind die materiell-rechtlichen Vorschriften des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG somit nicht anwendbar. Die verfahrensrechtlichen Normen des ATSG gelangen dagegen - von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen - mit dem Tag ihres Inkrafttretens sofort und in vollem Umfang zur Anwendung (BGE 130 V 560 E. 3.1 S. 562 mit Hinweisen: dementsprechend wurde richtigerweise das Einspracheverfahren gemäss Art. 52 ATSG durchgeführt).
 
1.3 Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Bundesgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.
 
2.1 Die zur Qualifikation der Tätigkeit als Gastfamilie erforderlichen Rechtsgrundlagen hat das kantonale Gericht zutreffend dargelegt. Es betrifft dies insbesondere Art. 5 und 9 AHVG (Beitragspflicht aus unselbstständiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit) sowie Art. 6 AHVV (Begriff des Erwerbseinkommens; hier anwendbar sowohl in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen als auch in der seit 1. Januar 2004 anwendbaren Form), die Rechtsprechung zur Rechtslage bei mehreren zeitgleich ausgeübten Tätigkeiten (BGE 122 V 168 E. 3b S. 172; 119 V 161 E. 3c S. 65) sowie zur Gewichtung bei gleichzeitigem Vorliegen von Merkmalen selbstständiger wie unselbstständiger Erwerbstätigkeit (BGE 123 V 159 E. 1 S. 163).
 
2.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sich in der jüngeren Vergangenheit mit der beitragsrechtlichen Qualifikation der Betreuung von Pflegekindern befasst und diese - unabhängig davon, ob die Pflegeeltern von einer Behörde beauftragt (und bezahlt) wurden (Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes H 74/04 vom 8. Oktober 2004 E. 2) oder ob der Vertrag zwischen einer privaten Vermittlungsorganisation und der Pflegemutter geschlossen wurde (Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes H 134/05 vom 4. April 2006 E. 2) - als unselbstständige Erwerbstätigkeit qualifiziert. Ausschlaggebend war, dass die Pflegefamilien kein Unternehmerrisiko trugen, zumal sie weder Investitionen tätigen noch das Inkassorisiko übernehmen mussten, sondern so lange die vereinbarte Pauschalentschädigung erhielten, als die Kinder sich in ihrer Pflege befanden. Das Eidgenössische Versicherungsgericht erwog weiter, es sei nicht massgeblich, dass sich die Vormundschaftsbehörde nicht in die tägliche Betreuungsarbeit einmische (was schon wegen der örtlichen Distanz zwischen Behörde und Pflegefamilie und der dem Pflegeverhältnis inhärenten praktischen Gegebenheiten nicht möglich gewesen wäre). Vielmehr falle ins Gewicht, dass die Pflegeeltern in allen über die tägliche Betreuung der ihnen anvertrauten Kinder hinausgehenden Bereichen klar weisungsgebunden seien.
 
3.
 
3.1 Im angefochtenen Entscheid kam die Vorinstanz zum Schluss, die Tätigkeit als Gastfamilie weise mehrheitlich Merkmale einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit auf. In tatsächlicher Hinsicht stellte sie für das Bundesgericht verbindlich fest, die Gastfamilie sei insbesondere weisungsgebunden in allen die suchtkranke Person betreffenden, über den gewöhnlichen Alltag hinausgehenden Belangen. Die Gastfamilie könne die Betreuungsarbeit auch nicht beliebig an andere Personen delegieren, sondern sei durch Rahmen- und Leistungsvertrag verpflichtet, ihre Tätigkeit selbst zu erfüllen. Die Kontaktvermittlung zwischen der Gastfamilie und neuen Klienten gehöre ebenso zu den Aufgaben der Beschwerdeführerin wie die Zusammenarbeit mit Versorgern (Kostenträgern); es bestehe eine jährliche Weiterbildungspflicht des Ehepaares E.________ und H.________ und - bei längerer Platzierung eines Klienten - eine Art Ferienanspruch. Das Gericht erwog, die Gastfamilie trage kein Unternehmerrisiko und es liege in der Natur der Betreuungsarbeit, dass die Gastfamilie ihre Aufgabe nicht in den Geschäftsräumlichkeiten der Beschwerdeführerin, sondern im eigenen Betrieb erfülle. Soweit das Ehepaar E.________ und H.________ nur im Hinblick auf die Aufnahme von Suchtkranken ein Bad eingebaut habe, liege darin keine erhebliche Investition. Einzig die Tatsache, dass die Gastfamilie nicht verpflichtet sei, einen Klienten aufzunehmen, könne als Indiz für eine selbstständige Erwerbstätigkeit gewertet werden, zumal dem Umstand, dass die Kündigungsbestimmungen nicht den Vorschriften des Arbeitsvertragsrechtes entsprechen, keine ausschlaggebende Bedeutung zukomme.
 
3.2 Die Beschwerdeführerin opponiert dieser Betrachtungsweise mit den Argumenten, zwischen der Betreuungsleistung und dem (unbestritternermassen) selbstständig geführten Bauernbetrieb bestehe ein sehr enger Zusammenhang, indem der Landwirtschaftsbetrieb unverzichtbarer Teil der zu qualifizierenden Tätigkeit bilde. Der Entscheid, Suchtkranke im Sinne eines Nebenerwerbes aufzunehmen, habe betriebswirtschaftliche Bedeutung und entsprechende Folgen (Zweckbindung bestimmter Räumlichkeiten). Das Erfordernis der therapieunterstützenden Kommunikation (Teilnahme an Gesprächsrunden, Überwachung des Klienten in Zusammenhang mit seiner Therapiesituation) könne nicht als gewichtige Subordination oder wesentliche Weisungsabhängigkeit betrachtet werden.
 
4.
 
4.1 Nach den zutreffenden Erwägungen des kantonalen Gerichtes ist bei mehreren gleichzeitig ausgeübten Tätigkeiten (auch) im selben Betrieb jedes Erwerbseinkommen gesondert auf seinen beitragsrechtlichen Charakter hin zu prüfen (BGE 122 V 169 E. 3b S. 172). Soweit die Beschwerdeführerin unter Hinweis darauf, der (unbestrittenermassen selbstständig bewirtschaftete) Bauernhof bilde Voraussetzung für die Tätigkeit als Gastfamilie, eine AHV-rechtliche Qualifikation im Sinne einer Gesamtbetrachtung vornehmen will, kann ihr nicht gefolgt werden. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat es ausdrücklich verworfen, bei mehreren, zeitgleich verrichteten Tätigkeiten eine Beurteilung nach dem überwiegenden Charakter der Gesamttätigkeit vorzunehmen (BGE 104 V 126 E. 3b S. 127). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen besteht kein Anlass.
 
4.2 Die selbstständige landwirtschaftliche Tätigkeit steht somit einer Qualifikation der von dieser gesondert zu beurteilenden Betreuungsarbeit als unselbstständige Arbeit ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass der Landwirtschaftsbetrieb die Aufnahme von Suchtkranken im Rahmen des Konzepts "P.________" erst ermöglicht(e). Investitionen in den Bauernbetrieb sind von der Nebenerwerbstätigkeit als Gastfamilie klar zu trennen und spielen für die beitragsrechtliche Qualifikation der letzten keine Rolle. Soweit die Beschwerdeführerin im Einbau eines neuen Bades (im Jahre 1996) eine erhebliche Investition sieht, erwog die Vorinstanz zutreffend, dass die mit dem Badeinbau verbundenen Investitionen (in Höhe von rund Fr. 7'500.-) zum einen nicht erheblich sind und zum anderen das Bad auch anderweitig (privat) genutzt werden kann. Schliesslich sind zwischen dem Entscheid einer Gastfamilie, suchtkranke Menschen aufzunehmen (und nicht eine andere Nebenerwerbstätigkeit auszuüben) und demjenigen einer Pflegefamilie, für ein Kind zu sorgen, im Hinblick auf die betriebswirtschaftliche Bedeutung keine grundsätzlichen Unterschiede auszumachen. Die Erwägungen, wie sie in den angeführten Entscheiden (H 74/04 vom 8. Oktober 2004 und H 134/05 vom 4. April 2006; E. 2.2 hievor) bezüglich der beitragsrechtlichen Qualifizierung der Pflegekindbetreuung ihren Niederschlag gefunden haben, gelten somit hier analog.
 
4.3 Wenn das kantonale Gericht in Würdigung aller Umstände zum Schluss gelangte, es liege eine unselbstständige Erwerbstätigkeit vor, ist dies nicht bundesrechtswidrig.
 
5.
 
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Eine Parteientschädigung an die obsiegende öffentlichrechtliche Beschwerdegegnerin wird nicht zugesprochen (Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Das Bundesgericht erkennt:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 900.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 24. Oktober 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Bollinger Hammerle
 
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