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Informationen zum Dokument  BGer I 921/2006  Materielle Begründung
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BGer I 921/2006 vom 16.10.2007
 
Tribunale federale
 
I 921/06 {T 7}
 
Urteil vom 16. Oktober 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
Parteien
 
S._________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt PD Dr. iur. Dieter Kehl, Poststrasse 22, 9410 Heiden,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Kasernenstrasse 4, 9102 Herisau, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts von Appenzell Ausserrhoden vom 31. Mai 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
S._________, geboren 1948, war seit 4. Mai 1992 bei der Firma E._________ als Mitarbeiter Endaufmachung tätig und zusätzlich bis 30. Juni 2003 als Hauswart des auch von ihm bewohnten Mehrfamilienhauses angestellt. Am 19. Februar 2002 meldete er sich unter Hinweis auf eine am 13. Juni 1987 erlittene Fraktur am rechten Fussgelenk bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden führte erwerbliche Abklärungen durch und holte einen Bericht ein des Hausarztes Dr. med. G._________, FMH für Allgemeinmedizin, vom 10. April 2002, dem weitere Berichte beilagen (des Spitals X._________ vom 7. Juni 1987, 29. September 1988, 21. Dezember 1989, 31. Oktober 2001 und 13. November 2001; des SUVA-Kreisarztes Dr. med. O.________, FMH für orthopädische Chirurgie, vom 9. Januar 2002 sowie des Dr. med. B.________, FMH für Innere Medizin/Rheumatologie, vom 2. April 2002). Zudem zog sie die Akten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei.
 
Ab 24. März 2002 konnte S._________ im angestammten Betrieb ein Arbeitsplatz mit leichter, angepasster Arbeit im Umfang von 50 % zugewiesen werden. Nach einem Verkehrsunfall vom 22. Dezember 2002, bei welchem er inbesondere an der linken Schulter verletzt wurde, kehrte er nicht mehr an seine Arbeitsstelle zurück (das Arbeitsverhältnis wurde per 30. Juni 2004 gekündigt). Mit Verfügung vom 23. April 2002 sprach die IV-Stelle S._________ Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche zu und prüfte in der Folge die beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten (Bericht vom 13. August 2002). Mit Vorbescheid vom 29. Oktober 2002 teilte die IV-Stelle mit, sie beabsichtige die Zusprechung einer halben Rente bei einem Invaliditätsgrad von 53 % und verfügte am 6. Mai 2003 entsprechend einem Rentenbeschluss vom 15. Januar 2003. Diese Verfügung wurde indessen lediglich dem Versicherten selbst, nicht aber seinem Rechtsvertreter eröffnet. Mit Schreiben vom 26. September 2003 (in welchem sein Rechtsvertreter zur Frage Stellung nahm, ob der Beschwerdeführer bis 30. Juni 2003 in seiner Funktion als Hauswart wiederholt schwere körperliche Arbeiten verrichtet habe, wie dies die Personalchefin der damaligen Arbeitgeberfirma der IV-Stelle am 21. März 2003 mitgeteilt hatte) liess S._________ um Revision des Rentenbeschlusses vom 15. Januar 2003 ersuchen, da er seit 28. April 2003 vollständig arbeitsunfähig sei. Die IV-Stelle veranlasste eine Abklärung in der Medas (Gutachten vom 10. Mai 2005; Beantwortung der Zusatzfragen am 27. Juni 2005). Am 30. Juni 2004 erliess sie eine der am 6. Mai 2003 nicht korrekt eröffneten identische Verfügung, gegen welche S._________ am 11. August 2004 Einsprache erheben liess. Mit Verfügung vom 23. September 2005 hob die IV-Stelle die Rente auf, da eine adaptierte Tätigkeit vollumfänglich zumutbar sei. Gleichzeitig sistierte sie das Einspracheverfahren gegen die Verfügung vom 30. Juni 2004 bis klar sei, ob S._________ auch gegen die Verfügung vom 23. September 2005 Einsprache erheben würde. Nachdem S._________ auch gegen die Verfügung vom 23. September 2005 Einsprache erhoben hatte, vereinigte die IV-Stelle die beiden Einsprachen und wies sie mit Entscheid vom 8. November 2005 ab.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde des S._________ hiess das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden teilweise gut, soweit es darauf eintrat, und wies die Sache zur weiteren erwerblichen Abklärung an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 31. Mai 2006).
 
C.
 
S._________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides, die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zur neuen medizinischen Abklärung sowie zur Anordnung beruflicher Massnahmen und hernach neuen Beurteilung des Rentenanspruches beantragen.
 
Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht worden, weshalb sich die Kognition nach Art. 132 OG in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung bestimmt (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Das Bundesgericht prüft somit nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.
 
2.
 
Zu prüfen ist zunächst, ob die Verfügung vom 23. September 2005 rechtmässig erlassen wurde.
 
2.1 Vorinstanz und IV-Stelle vertreten die Ansicht, die Verfügung sei in Erledigung des Revisionsgesuches des Beschwerdeführers vom 26. September 2003, auf das hin auch die Medas-Begutachtung durchgeführt worden sei, ergangen. Da einem Revisionsverfahren gemäss Art. 17 ATSG auch die Abänderung zu Ungunsten des Versicherten immanent sei, habe die IV-Stelle die Rentenaufhebung verfügen dürfen, ohne gegen das Verbot der Schlechterstellung zu verstossen.
 
Demgegenüber bringt der Versicherte vor, die IV-Stelle habe gegen das Verbot der reformatio in peius verstossen, indem sie die angefochtene Rentenverfügung vom 30. Juni 2004 zu seinen Lasten in Wiedererwägung gezogen habe. Die Verfügung vom 23. September 2005 sei kein Revisionsentscheid, zumal ein solcher während des Einspracheverfahrens - und damit lite pendente - gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG gar nicht möglich gewesen wäre. Damit seien sowohl die Verfügung vom 23. September 2005 als auch der Einspracheentscheid vom 4. (recte: 8.) November 2005 wegen Verstosses gegen Art. 12 Abs. 2 ATSV ungültig und der angefochtene Entscheid vollumfänglich aufzuheben.
 
2.2 Zu prüfen ist, ob die IV-Stelle mit dem Erlass der Verfügung vom 23. September 2005 gegen das in Art. 12 Abs. 2 ATSV für das Einspracheverfahren normierte Verbot der reformatio in peius verstossen hat. Da die Verfügung vom 6. Mai 2003 mangelhaft eröffnet worden war und davon ausgegangen werden muss, dass der Rechtsvertreter zum Zeitpunkt des "Revisionsbegehrens" vom 26. September 2003 erst Kenntnis vom Vorbescheid sowie vom Rentenbeschluss erhalten hatte, konnte er hiegegen auch (noch) keine Einsprache erheben; dies war ihm erst nach korrekter Eröffnung der Verfügung vom 30. Juni 2004 möglich (vgl. Einsprache vom 11. August 2004). Die IV-Stelle führte im Zuge der Eingabe vom 26. September 2003 - insoweit konsequent - kein Einspracheverfahren durch, sondern erliess am 23. September 2005 die Rentenaufhebungsverfügung, welche unbestrittenermassen eine Schlechterstellung des Versicherten bewirkte. Die hiegegen erhobene Einsprache wies sie in der Folge - da darin keine (weitere) Schlechterstellung lag - ohne Information im Sinne von Art. 12 Abs. 2 ATSV ab.
 
2.3 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 131 V 141 entschieden, dass die in Art. 12 Abs. 2 ATSV geregelte (doppelte) Aufklärungspflicht ihrer Bedeutung entleert wäre, wenn man der Sozialversicherung gestatten würde, ihre mittels Einsprache angefochtene Verfügung ohne die der Sicherstellung eines fairen Verfahrens dienenden Hinweise an den Einsprecher durch Erlass einer Wiedererwägungsverfügung im Sinne einer reformatio in peius aufzuheben oder abzuändern und hernach die Einsprache unter Berufung auf die nicht mehr existierende ursprüngliche Verfügung als gegenstandslos geworden abzuschreiben (E. 1 S. 416 f.). Eine Umgehung der Informationspflicht von Art. 12 Abs. 2 ATSV findet somit keinen Schutz. Zu prüfen ist, wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält. Dass der Versicherte erst am 11. August 2004 Einsprache gegen die Zusprechung der halben Invalidenrente erhob, ist einzig auf die mangelhafte Eröffnung der Verfügung vom 6. Mai 2003 zurückzuführen. In Würdigung, dass er sich in seinem "Revisionsgesuch" auf eine Ende April 2003 eingetretene gesundheitliche Verschlechterung berief, muss angenommen werden, dass er bei korrekter Eröffnung der Verfügung vom 6. Mai 2003 die (behauptete) vollständige Arbeitsunfähigkeit einspracheweise geltend gemacht hätte und die Medas-Begutachtung somit im Rahmen dieses Einspracheverfahrens durchgeführt worden sowie deren Ergebnisse in den Einspracheentscheid eingeflossen wären (zumal dieser Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet; BGE 129 V 167 E. 1 S. 169). Damit hätte die im Zuge der neuen medizinischen Erkenntnisse gewonnene Überzeugung der IV-Stelle, es bestehe entgegen ihrer ursprünglichen Verfügung eine volle Arbeitsfähigkeit in einer adaptierten Tätigkeit, zur Information im Sinne von Art. 12 Abs. 2 ATSV verpflichtet. Dass die Rentenaufhebung nicht in Form eines Einspracheentscheides, sondern als neuerliche Verfügung erging, war somit Folge der fehlerhaften Verfügungseröffnung vom 6. Mai 2003. Daraus aber darf dem Versicherten kein Nachteil erwachsen (Art. 49 Abs. 3 Satz 2 ATSG). Die Vorgehensweise der IV-Stelle verstösst - nach den insoweit zutreffenden Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde - gegen das in Art. 12 Abs. 2 ATSV verankerte Verbot der reformatio in peius, weshalb sowohl die Verfügung vom 23. September 2005 als auch der Einspracheentscheid vom 8. November 2005 als bundesrechtswidrig aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen ist, damit sie - unter Beachtung der ihr im Falle einer beabsichtigten Schlechterstellung obliegenden Informationspflicht - über die Einsprache vom 11. August 2004 befinde. Der Vollständigkeit halber bleibt festzuhalten, dass es der IV-Stelle freisteht, im Anschluss an einen (allfälligen) Einspracherückzug auf die (materiell richterlich unbeurteilt gebliebene) Verfügung zu Lasten des Versicherten zurückzukommen, allerdings nur nach Massgabe der in Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG verankerten Rückkommenstitel (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen) und (weiterhin) grundsätzlich nur mit Wirkung ex nunc et pro futuro (Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV).
 
3.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung). Die Gerichtskosten sind der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Der Versicherte hat Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichtes von Appenzell Ausserrhoden vom 31. Mai 2006 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden vom 8. November 2005 aufgehoben und es wird die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Der geleistete Kostenvorschuss wird dem Beschwerdeführer zurückerstattet.
 
4.
 
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
5.
 
Das Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Ausgleichskasse des Kantons Appenzell Ausserrhoden zugestellt.
 
Luzern, 16. Oktober 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Bollinger Hammerle
 
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