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Informationen zum Dokument  BGer I 375/2006  Materielle Begründung
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BGer I 375/2006 vom 28.08.2007
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 375/06
 
Urteil vom 28. August 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
 
Parteien
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
R.________, 1942, Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. April 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 25. Februar 2004 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) dem 1942 geborenen R.________ zwei Hörgeräte im Gesamtbetrag von Fr. 4'220.05 zu. Am 13. Juli 2005 reichte der Hörgerätelieferant einen Kostenvoranschlag für den Ersatz eines der Hörgeräte ein. R.________ gab gegenüber der IV-Stelle an, er habe das Hörgerät am 26. Juni 2005 um ca. 22.00 Uhr abgelegt, wisse aber nicht mehr wo. Als er am Morgen wie gewohnt die Hörgeräte einsetzen wollte, habe er das eine Hörgerät nicht mehr gefunden. Die Haftpflichtversicherung verweigerte die Deckung der Kosten. Die IV-Stelle verpflichtete R.________ mit Verfügung vom 14. Dezember 2005 zur Bezahlung von Fr. 1'649.50; dabei legte sie infolge Amortisation 70 % des Neuwertes des einen Hörgerätes zu Grunde. Mit einer zweiten Verfügung vom 14. Dezember 2005 sprach sie R.________ Ersatz für das verlorene Gerät zu. In seiner Einsprache vom 21. Dezember 2005 gegen die erste Verfügung vom 14. Dezember 2005 ergänzte R.________ seine Darstellung dahingehend, dass er am Tag, an welchem er das Hörgerät verloren habe, Besuch gehabt habe und dass er das Hörgerät aus dem Ohr genommen habe, weil es bei Gruppengesprächen eher störe. Mit Einspracheentscheid vom 13. Februar 2006 reduzierte die IV-Stelle ihre Forderung auf Fr. 1'477.-.
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 11. April 2006 gut und hob den Einspracheentscheid vom 13. Februar 2006 auf.
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Das kantonale Gericht und R.________ schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen beantragt deren Gutheissung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 N 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 11. April 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Bundesgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
 
3.
 
Streitig ist einerseits die gesetzliche Grundlage von Art. 6 Abs. 2 der Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung vom 29. November 1976 (HVI) sowie andererseits - bei Bejahung der gesetzlichen Grundlage - ob dem Versicherten eine schwere Verletzung der Sorgfaltspflichten anzulasten ist.
 
4.
 
Es trifft zu, dass sich das Eidgenössische Versicherungsgericht in seinem Urteil I 250/05 vom 30. September 2005 (publiziert in SVR 2006 IV Nr. 22 S. 77), nicht zur gesetzlichen Grundlage von Art. 6 Abs. 2 HVI geäussert hat. Diese ist nunmehr zu prüfen.
 
4.1 Die Vorinstanz untersucht in ihrem Entscheid, ob Art. 21 ATSG gesetzliche Grundlage von Art. 6 Abs. 2 HVI sein kann. Sie verneint dies bezüglich Art. 21 Abs. 1 ATSG, kommt aber zum Schluss, dass Art. 21 Abs. 4 ATSG grundsätzlich auch auf Hilfsmittel angewendet werden könne. Die in Satz 2 des Art. 21 Abs. 4 ATSG enthaltene Regelung mache im strittigen Zusammenhang jedoch keinen Sinn, weshalb von einer auslegungsbedürftigen Lücke auszugehen sei. Diese Lücke füllte die Vorinstanz unter Berufung auf Art. 21 Abs. 1 ATSG dahingehend, dass nach Art. 6 Abs. 2 HVI nur die vorsätzliche Zerstörung eines Hilfsmittels sanktioniert werden dürfe.
 
4.2 Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. Art. 21 Abs. 4 ATSG bezieht sich auf die Widersetzlichkeit gegenüber Eingliederungsmassnahmen sowie auf mangelnde Selbsteingliederung (vgl. auch KIESER, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, N 66 zu Art. 21) und ersetzt u.a. die bis zum Inkrafttreten des ATSG gültig gewesenen Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 IVG (BBl 1999 4567, 4775 und 4778). Art. 21 Abs. 4 ATSG umfasst auch Sachleistungen, wozu an sich auch die Hilfsmittel zu zählen sind (Art. 14 ATSG; vgl. auch KIESER a.a.O., N 73 zu Art. 21); dies ändert nichts daran, dass der in dieser Bestimmung umschriebene Sachverhalt (Widersetzlichkeit und mangelnde Selbsteingliederung) sich nicht mit dem hier zu beurteilenden (Beteiligung an den Ersatzkosten von Hilfsmitteln infolge schwerer Verletzung der Sorgfaltspflichten) vergleichen lässt. Die Vorinstanz hält denn auch selbst fest, dass das in Art. 21 Abs. 4 ATSG vorgesehene Mahn- und Bedenkverfahren im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 HVI (Ersatz eines bereits zerstörten oder verlorenen Hilfsmittels) keinen Sinn macht. Insofern ist der Titel (Kürzung und Verweigerung von Leistungen) zu weit gefasst, da es nebst den beiden in Art. 21 ATSG geregelten Tatbeständen (vorsätzliches Herbeiführen des Versicherungsfalles; Weigerung zur Behandlung oder Eingliederung) noch weitere gesetzlich vorgesehene Gründe zur Leistungskürzung oder -verweigerung gibt (z.B. Überentschädigung; vgl. KIESER, a.a.O., N 2 zu Art. 21).
 
4.3 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz, welche sich nicht näher mit Art. 21 Abs. 4 IVG auseinandergesetzt hat, ist diese Norm eine genügende gesetzliche Grundlage für Art. 6 Abs. 2 HVI. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass Art. 21 Abs. 1 und 4 IVG dem Bundesrat bzw. Art. 14 IVV dem zuständigen Departement einen weiten Spielraum der Gestaltungsfreiheit einräumen (BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 9 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil I 566/03 vom 1. Juni 2004, E. 4.3). Dieser Spielraum bezieht sich nicht nur auf die Auswahl des Hilfsmittels als solches. Denn wenn es dem Verordnungsgeber grundsätzlich freisteht, ob er einen Gegenstand, dem Hilfsmittelcharakter zukommt, in die Liste im Anhang überhaupt aufnehmen will, kann er umso mehr im Rahmen des Gesetzes die Abgabe an weitere Bedingungen und Auflagen knüpfen (BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 9 mit Hinweisen). Art. 6 Abs. 2 HVI ist ohne Weiteres als "nähere Vorschrift" über die Hilfsmittelabgabe im Sinne von Art. 21 Abs. 4 IVG zu verstehen. Angesichts der im ganzen Bereich der Sozialversicherung geltenden Schadenminderungspflicht hält sich die Regelung von Art. 6 Abs. 2 HVI zudem "im Rahmen des Gesetzes" (vgl. BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 10 in fine). Die Schadenminderungspflicht wird etwa verletzt, wenn ein Hilfsmittel durch Fehlverhalten der versicherten Person seinen Eingliederungszweck nicht mehr erfüllen kann, indem es vorzeitig gebrauchsuntauglich wird, sei dies durch Zerstörung oder durch Verlust.
 
5.
 
Zu prüfen bleibt, ob dem Versicherten grobfahrlässiges Verhalten im Sinne von Art. 6 Abs. 2 HVI vorzuwerfen ist.
 
5.1 Gemäss Art. 6 Abs. 2 HVI hat die versicherte Person eine angemessene Entschädigung zu leisten, wenn ein Hilfsmittel wegen schwerer Verletzung der Sorgfaltspflichten oder Nichtbeachtung besonderer Auflagen vorzeitig gebrauchsuntauglich wird. Entgegen der Vorinstanz genügt ein grobfahrlässiges Verhalten zur Mitbeteiligung an den Ersatzkosten. Denn eine "schwere Verletzung der Sorgfaltspflicht" kann nicht nur durch absichtliches Verhalten begangen werden. Grobfahrlässig handelt nach ständiger Rechtsprechung, wer jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte, um eine nach dem natürlichen Lauf der Dinge voraussehbare Schädigung zu vermeiden (vgl. für die Invalidenversicherung BGE 111 V 186 E. 2c S. 189 mit Hinweisen). In seinem Urteil I 250/05 vom 30. September 2005 ist das Eidgenössische Versicherungsgericht zum Schluss gekommen, dass bei der Beurteilung der Grobfahrlässigkeit bei vorzeitiger Gebrauchsuntauglichkeit eines leihweise abgegebenen Hilfsmittels wie bei der privatrechtlichen Gebrauchsleihe (Art. 305 ff. in Verbindung mit Art. 97 ff. OR) ein strenger Massstab zu gelten hat, da der versicherten Person zugemutet werden kann, einen von der Invalidenversicherung leihweise erhaltenen Gegenstand so sorgfältig zu behandeln, wie wenn sie bei dessen Ersatz infolge Verlust oder Beschädigung selbst für die (Ersatz-)Kosten aufzukommen hätte. In diesem Zusammenhang hat das Eidgenössische Versicherungsgericht das offene Herumliegenlassen eines Hörgerätes als massgebliche Verletzung der Sorgfaltspflicht gewertet.
 
5.2 Ebenfalls zu bestätigen sind die im bereits erwähnten Urteil I 250/05 gemachten Ausführungen über die Angemessenheit der Entschädigung. Die unter Berücksichtigung der üblichen Lebensdauer des abgegebenen Hörgeräts von sechs Jahren abgestufte Beteiligung gemäss Tarifvertrag (Amortisation) steht in Einklang mit der Rechtsprechung zur vorzeitigen Neuabgabe von Hilfsmitteln (BGE 119 V 255). Da die Kostenbeteiligung keinen pönalen Charakter aufweist, sondern lediglich dem finanziellen Ausgleich dient, spielt es keine Rolle für die Höhe der Mitbeteiligung, ob die versicherte Person vorsätzlich oder nur grobfahrlässig gehandelt hat. Die Ausführungen der Vorinstanz vermögen diese Rechtsprechung somit nicht in Zweifel zu ziehen.
 
5.3 Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im erwähnten Urteil I 250/05 ausgeführt hat, stellt das offene Herumliegenlassen eines Hörgerätes eine schwere Verletzung der Sorgfaltspflichten nach Art. 6 Abs. 2 HVI dar. Dies hat auch hier zu gelten, zumal sich der Versicherte zu Hause aufhielt und das Hörgerät ohne Weiteres am üblichen Aufbewahrungsort hätte deponieren können. Daran ändern auch die Darlegungen des Versicherten nichts: Abgesehen davon, dass ein Zusammenhang zwischen der in letzter Instanz erstmals geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit und der Fähigkeit zu sorgfältigem Umgang mit dem Hörgerät nicht ersichtlich ist, stellt der Einwand der Arbeitsunfähigkeit eine Schutzbehauptung dar, zumal der Versicherte trotz der geltend gemachten gesundheitlichen Einschränkung in der Lage war, abends um zehn Uhr noch mit seinem Besuch Gespräche zu führen, anlässlich derer ihn das Hörgerät gestört und er dieses aus dem Ohr genommen und irgendwo abgelegt hatte. Die IV-Stelle hat somit den Versicherten zu Recht zur Mitbeteiligung an den Ersatzkosten für das verlorene Hörgerät verpflichtet.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. April 2006 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse Baumeister und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 28. August 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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