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Informationen zum Dokument  BGer I 825/2006  Materielle Begründung
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BGer I 825/2006 vom 14.08.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 825/06
 
Urteil vom 14. August 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
Parteien
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
D.________, 1976, Beschwerdegegner,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Claude Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 21. Juni 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1976 geborene D.________ war vom 25. August 1997 bis 31. August 2001 als Betriebsmitarbeiter/Hilfskraft bei der Firma P.________ AG angestellt. Ab 1. September 2001 bis 31. März 2002 arbeitete er als Chauffeur bei der Firma Q.________. Ab April 2002 war er während neun Monaten als selbstständiger Gerüstbauer tätig. Ab 1. Januar bis Ende Juni 2003 führte er eine Bar. Am 15. August 2003 meldete er sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Zur Abklärung der Verhältnisse holte die IV-Stelle des Kantons Aargau diverse Arztberichte ein. Der behandelnde Arzt Dr. med. S.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin spez. Rheumaerkrankungen, stellte im Bericht vom 4./5. September 2003 folgende Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit: lumbospondylogenes Syndrom bei leichter Fehlform der Wirbelsäule mit Abflachung der Lordose lumbal, sowie leichter Dorsionsskoliose linkskonvex tief lumbal und asymmetrischer Übergangsanomalie mit Neoarthrose L6 links. Am 27. Januar 2004 wurde der Versicherte im Spital X.________ operiert (Sakralblock mit 80 mg Kenakort). Mit Verfügungen vom 19. Mai 2004 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf eine Invalidenrente und auf berufliche Massnahmen. Dagegen erhob der Versicherte Einsprache. Am 3. November 2004 reichte er ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten des Rheumatologen Dr. med. R.________, Rheuma- und Reha-Zentrum Y.________, vom 18. August 2004 ein, der ein chronisches lumbospondylogenes Syndrom mit Beckenkammtendinosen links diagnostizierte. Mit Entscheid vom 19. September 2005 wies die IV-Stelle die Einsprache ab. Dem Versicherten sei eine angepasste leichte Arbeit während 8 Stunden pro Tag zumutbar. Aus dem Einkommensvergleich resultiere kein rentenbegründender Invaliditätsgrad.
 
B.
 
Hiegegen erhob der Versicherte beim Versicherungesgericht des Kantons Aargau Beschwerde. Dabei reichte er einen Bericht des Dr. med. R.________ vom 23. März 2005 und Zeugnisse des Dr. med. S.________ vom 18. Oktober sowie 9. November 2005 ein. Die IV-Stelle legte eine Verordnung des Dr. med. S.________ zur Einweisung des Versicherten in die Rheuma- und Rehaklinik Z.________ vom 2. Mai 2006 auf. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde hob das kantonale Gericht den Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung sowie anschliessenden Neuverfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 21. Juni 2006).
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung des kantonalen Entscheides und Bestätigung des Einspracheentscheides.
 
Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2997, S. 10 N 75). Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Entscheid am 21. Juni 2006 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
2.1 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft ab 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
2.2 Im Hinblick darauf, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 21. September 2006 der Post übergeben wurde und am 25. September 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht einging, ist Art. 132 Abs. 2 OG anwendbar, obwohl der angefochtene Entscheid vom 21. Juni 2006 datiert und somit vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung ergangen ist. Die massgebliche Übergangsbestimmung (lit. c von Ziff. II der Gesetzesänderung vom 16. Dezember 2005) erklärt bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens beim Eidgenössischen Versicherungsgericht anhängigen Beschwerden für anwendbar. Das trifft hier nicht zu (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
3.
 
Es ist zwischen frei überprüfbarer Rechtsfrage (Art. 104 lit. a OG) einerseits und lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel zu prüfender Tatfrage (Art. 104 lit. b OG und Art. 105 Abs. 2 OG) anderseits zu unterscheiden (E. 2.1 hievor). Beim Gesundheitszustand (Befund, Diagnose, Prognose etc.) und bei der trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit als unverzichtbare Grundlage für die Bemessung der Invalidität (SVR 2006 IV Nr. 42 S. 151 E. 6.2, I 156/04) handelt es sich grundsätzlich um Tatfragen. Ebenfalls stellt die richtige Beweiswürdigung eine Tatfrage dar und unterliegt lediglich einer eingeschränkten Überprüfung. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes (BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f. mit Hinweisen) und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 und E. 4 S. 399; Urteile des Bundesgerichts I 701/06 vom 5. Januar 2007, E. 3.2, und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 697/06 vom 23. November 2006, E. 1).
 
4.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG; BGE 115 V 133 E. 2), die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG; BGE 121 V 326 E. 3b S. 331) und die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG; Art. 4 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt zu dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Untersuchungsgrundsatz (BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.), zum Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen) sowie zum Beweiswert von Arztberichten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352; SVR 2006 IV Nr. 27 S. 92 E. 3.2.4, I 3/05). Darauf wird verwiesen.
 
Zu ergänzen ist, dass die im ATSG enthaltenen Formulierungen der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7), der Invalidität (Art. 8) und der Einkommensvergleichsmethode (Art. 16; Art. 28 Abs. 2 IVG) den bisherigen von der Rechtsprechung dazu entwickelten Begriffen in der Invalidenversicherung entsprechen (BGE 130 V 343 ff.); hieran hat die am 1. Januar 2004 in Kraft getretene 4. IV-Revision nichts geändert.
 
5.
 
Auf Grund der Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde (vgl. BGE 132 V 393 E. 2.2 S. 396) ist streitig und zu prüfen, ob die Vorinstanz zu Unrecht davon ausgegangen ist, der Sachverhalt sei in Bezug auf die Frage der Arbeits- bzw. Erwerbs(un)fähigkeit des Versicherten nicht genügend ermittelt.
 
5.1 Die Vorinstanz hat im Wesentlichen erwogen, im Bericht vom 4./5. September 2003 habe Dr. med. S.________ eine 100%ige Arbeitsfähigkeit des Versicherten in einer angepassten Erwerbstätigkeit festgestellt. Wenn er im Zeugnis vom 18. Oktober 2005 für die Zeit ab 19. August 2005 bis auf Weiteres nur noch von 50%iger Arbeitsfähigkeit in angepasster Arbeit ausgegangen sei, könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, der Versicherte sei im Zeitpunkt des Einspracheentscheides (19. September 2005) noch zu 100 % arbeitsfähig gewesen. Die Angaben des Dr. med. S.________ vom 18. Oktober 2005 reichten zwar nicht aus, um ohne weiteres auf 50%ige Arbeitsunfähigkeit in angepasster Arbeit zu schliessen, genügten jedoch zur Begründung erheblicher Zweifel an der Aktualität seines Berichts vom 4./5. September 2003. Nicht abgestellt werden könne auch auf die Beurteilung des Dr. med. R.________ vom 18. August 2004, wonach der Versicherte in angepasster Tätigkeit anfänglich zu 50 % und später zu 100 % arbeitsfähig gewesen sei. Denn Dr. med. R.________ habe diese Einschätzung im Bericht vom 23. März 2005 relativiert und mangels Kenntnis des Verlaufs nicht ausgeschlossen, dass keine Besserung oder sogar eine Verschlechterung der Arbeitsfähigkeit eingetreten sei. Weiter führte die Vorinstanz aus, im Lichte der Untersuchungsmaxime bestünden nicht die notwendigen Grundlagen, um über die streitigen Leistungsbegehren, insbesondere die beantragten beruflichen Eingliederungsmassnahmen, zu befinden.
 
Diese vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung kann nicht als offensichtlich unrichtig oder unvollständig bezeichnet werden. Ebenso wenig liegt eine Verletzung von Bundesrecht oder wesentlicher Verfahrensvorschriften vor (vgl. E. 2.1 und 3 hievor).
 
5.2
 
5.2.1 Die IV-Stelle macht letztinstanzlich geltend, gestützt auf die Berichte des Dr. med. S.________ sei davon auszugehen, der Versicherte sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von September 2003 bis 15. August 2005 in leichter und angepasster Arbeit voll arbeitsfähig gewesen und erst ab 16. August 2005 in einem für einen möglichen Leistungsanspruch erheblichen Ausmass arbeitsunfähig geworden. Die Wartezeit für eine Invalidenrente habe damit erst einen Monat vor Erlass des Einspracheentscheides (19. September 2005) zu laufen begonnen. Die Berichte des Dr. med. R.________ vom 18. Augsut 2004 und 23. März 2005 seien nicht schlüssig, da er den Krankheitsverlauf nicht kenne. Hievon abgesehen würden von zusätzlichen rückwirkenden Abklärungen betreffend Beginn und Grad der Arbeitsunfähigkeit nur spekulative Annahmen resultieren, was dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nicht zu genügen vermöchte.
 
5.2.2 Die IV-Stelle übersieht zunächst, dass sich die von Dr. med. S.________ ab 16. August 2005 attestierte 50%ige Arbeitsunfähigkeit auf eine leidensangepasste Tätigkeit (Zeugnis vom 18. Oktober 2005) bezog. Demgegenüber bedeutet die für die Bestimmung des Rentenbeginns im Wartejahr nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG massgebende Arbeitsunfähigkeit eine Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich (BGE 130 V 97 E. 3.2 S. 99, 343 E. 3.1 S. 345 f., je mit Hinweisen; vgl. Art. 6 ATSG).
 
Hievon abgesehen ist das Bestehen einer Wartezeit nicht Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs auf berufliche Eingliederungsmassnahmen (Art. 10 und Art. 15 ff. IVG), der gemäss vorinstanzlichem Entscheid ebenfalls zu prüfen ist.
 
5.2.3 Weiter kann vorliegend nicht im Sinne einer antizipierten Beweiswürdigung (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 1 E. 2.3, M 1/02) gesagt werden, dass von einer zusätzlichen, medizinisch nachvollziehbar und schlüssig begründeten Beurteilung keine verwertbaren entscheidrelevanten Erkenntnisse zum Beginn und Grad der Arbeitsunfähigkeit zu erwarten sind.
 
5.3 In diesem Lichte ist der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid nicht zu beanstanden.
 
6.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der seit 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung; vgl. E. 1 hievor). Die Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). Der obsiegende Beschwerdegegner hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 14. August 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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