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Informationen zum Dokument  BGer 8C_48/2007  Materielle Begründung
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BGer 8C_48/2007 vom 19.07.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_48/2007
 
Urteil vom 19. Juli 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Widmer, Leuzinger,
 
Gerichtsschreiber Flückiger.
 
Parteien
 
M.________, 1961, Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Advokat André M. Brunner, Hauptstrasse 34, 4102 Binningen,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 29. Januar 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Verfügung vom 17. August 1999 setzte die IV-Stelle Bern die dem 1961 geborenen M.________ seit 1. Januar 1994 zuerkannte ganze Rente (Invaliditätsgrad 100 %) mit Wirkung ab 1. März 1999 auf eine halbe (Härtefall-)Rente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 44 % herab. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die dagegen erhobene Beschwerde teilweise gut und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese weitere medizinische Abklärungen vornehme und über den Rentenanspruch neu verfüge (Entscheid vom 2. November 2000).
 
Nach Einholung eines Gutachtens der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) des Spitals X.________ vom 26. August 2002 verfügte die Verwaltung am 17. Februar 2004 erneut die Herabsetzung der ganzen auf eine halbe (Härtefall-)Rente per 1. März 1999. Mit Verfügung vom 5. Mai 2004 hielt sie ausserdem fest, zufolge veränderter Rechtsgrundlagen (4. IV-Revision) stehe dem Versicherten ab 1. Mai 2004 nur noch eine ordentliche Viertelsrente zu.
 
Der Versicherte liess gegen die Verfügungen vom 17. Februar und 5. Mai 2004 Einsprache erheben. Die IV-Stelle vereinigte die beiden Verfahren und hiess mit Entscheid vom 11. Mai 2005 die Einsprachen insoweit gut, als sie die beiden Verfügungen aufhob und weitere medizinische Abklärungen sowie alsdann eine neue Verfügung in Aussicht stellte.
 
Am 1. Juli 2005 teilte die IV-Stelle dem Versicherten mit, sie beabsichtige, ihn in der MEDAS Y.________ begutachten zu lassen. Dieser ersuchte in der Folge um unentgeltliche Verbeiständung, was die Verwaltung mit Verfügung vom 31. Oktober 2005 ablehnte.
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 29. Januar 2007). Das überdies gestellte Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung im Beschwerdeverfahren wurde wegen Aussichtslosigkeit ebenfalls abgewiesen.
 
C.
 
M.________ lässt Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm für das bei der IV-Stelle Bern hängige Verfahren die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Ferner wird um unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale und das bundesgerichtliche Verfahren ersucht.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmung (Art. 37 Abs. 4 ATSG; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV) und die Grundsätze zum Anspruch einer versicherten Person auf unentgeltliche Verbeiständung im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren (BGE 125 V 32 E. 4b und c S. 35 f.; vgl. auch BGE 132 V 200 E. 4.1 S. 201 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist insbesondere, dass die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung nicht primär davon abhängt, ob ein Verfahren streitige Elemente aufweist, und sich der Anspruch nicht generell zeitlich beschränken lässt (BGE 125 V 32 E. 4c S. 36), sowie dass ein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren für die Zeit vor Erlass des Vorbescheids nicht generell ausscheidet, wobei jedoch an die sachliche Gebotenheit der Verbeiständung ein strenger Massstab anzulegen ist (AHI 2000 S. 162 ff. E. 2b und 3a S. 164 f., I 69/99). Eine anwaltliche Verbeiständung drängt sich hier nur in Ausnahmefällen auf, in denen ein Rechtsanwalt beigezogen wird, weil schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen und eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 132 V 200 E. 4.1 S. 201 mit Hinweisen).
 
2.
 
2.1 Die Vorinstanz verneinte den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung mit der Begründung, der Beizug eines Anwalts sei im aktuellen Verfahrensstadium nicht erforderlich. Am 1. Juli 2005 habe die IV-Stelle den Versicherten über ihre Absicht orientiert, eine Begutachtung bei der MEDAS Y.________ anzuordnen. Da eine derartige Anordnung keinen Verfügungscharakter aufweise und deshalb nicht anfechtbar sei (BGE 132 V 93 E. 5.2.10 S. 106), könne die Verbeiständung vorderhand lediglich die Unterstützung bei der Wahrnehmung der im Zusammenhang mit der Begutachtung bestehenden Mitwirkungsrechte (Art. 44 ATSG) bezwecken. Allein für eine Stellungnahme zum Fragenkatalog für die Begutachtung sei eine Verbeiständung durch einen Anwalt jedoch nicht erforderlich, zumal der Beschwerdeführer sehr gut in Deutsch kommunizieren könne und allfällige Ergänzungsfragen auch nach dem Vorliegen der Expertise noch gestellt werden könnten. Weiter erwog die Vorinstanz, ob die Erforderlichkeit der Verbeiständung in einem späteren Verfahrensstadium zu bejahen sein werde, könne offen bleiben, denn die kumulative Voraussetzung der fehlenden Aussichtslosigkeit sei zurzeit nicht abschätzbar. Damit erübrige sich auch eine Prüfung der Prozessarmut.
 
Der Beschwerdeführer lässt demgegenüber geltend machen, angesichts der Komplexität des Falles und der Dauer des Verfahrens sei die Erforderlichkeit einer anwaltlichen Verbeiständung zu bejahen. Dies gelte insbesondere auch mit Blick auf den Gesundheitszustand des Versicherten, welcher ihn - wie im kantonalen Beschwerdeverfahren vorgebracht worden sei - ausser Stand setze, seine Interessen selbst zu wahren.
 
2.2 Rein formell betrachtet bezieht sich das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung auf ein Verwaltungsverfahren im Stadium vor dem Erlass des Vorbescheids. Diese vom kantonalen Gericht betonte Sichtweise wird jedoch den Besonderheiten des Falls nur unzureichend gerecht, denn die Abklärungen befinden sich keineswegs in einer frühen Phase. Vielmehr hat die IV-Stelle bereits mit Verfügung vom 17. August 1999 erstmals über den nach wie vor streitigen Rentenanspruch ab 1. März 1999 entschieden. Schon damals war sie offensichtlich der Auffassung, den Sachverhalt hinreichend abgeklärt zu haben. Die seinerzeitige Verfügung basierte jedoch gemäss dem kantonalen Gerichtsurteil vom 2. November 2000 auf unzureichenden medizinischen Abklärungen. Die IV-Stelle selbst gelangte im Einspracheentscheid vom 11. Mai 2005, beinahe sechs Jahre nach dem Erlass der ersten Verfügung, zum Ergebnis, auch das zwischenzeitlich eingeholte Gutachten der MEDAS Z.________ vermöge keine ausreichende Basis für die Anspruchsbeurteilung zu liefern. Wie aus diesem Ablauf deutlich wird, hat sich die Ermittlung des medizinischen Sachverhalts bisher als ausserordentlich schwierig erwiesen. Insbesondere auf diese Tatsache ist auch die weit überdurchschnittliche Dauer des Verfahrens zurückzuführen. Unter diesen Umständen erscheint es als besonders wichtig, dass nunmehr innert nützlicher Frist eine Begutachtung stattfinden kann, welche rechtlich verwertbare Ergebnisse zeitigt. Zu diesem Zweck ist es angezeigt, dass der Beschwerdeführer frühzeitig Gelegenheit erhält, seinen Standpunkt zu vertreten und allfällige Einwände - auch gegen die vorgesehenen Fragen - vorzubringen. Dies setzt eine fachliche Kompetenz voraus, welche der Versicherte selbst nicht aufweist und welche ihm nur durch die Beiordnung eines Rechtsvertreters verschafft werden kann. Die Notwendigkeit des Beizugs eines Anwalts ist daher mit Blick auf die dargelegten Grundsätze (E. 1 hievor am Ende) zu bejahen. Angesichts des langwierigen Verfahrens kann der Rechtsstandpunkt des Beschwerdeführers überdies nicht als aussichtslos bezeichnet werden. Die Sache ist deshalb an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die verbleibende Voraussetzung der Bedürftigkeit prüfe und anschliessend erneut über die Gewährung oder Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung verfüge.
 
3.
 
In Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege kann auf die Erhebung von Gerichtskosten verzichtet werden (Art. 66 Abs. 1 BGG; Urteil 9C_167/2007 vom 21. Juni 2007, E. 5). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu Lasten der IV-Stelle (Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren gegenstandslos. Gleiches gilt für das entsprechende Gesuch bei der Vorinstanz (Art. 68 Abs. 5 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29. Januar 2007 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 31. Oktober 2005 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 19. Juli 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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