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Informationen zum Dokument  BGer I 275/2006  Materielle Begründung
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BGer I 275/2006 vom 31.05.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 275/06
 
Urteil vom 31. Mai 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger,
 
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold.
 
Parteien
 
P.________, 1966, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Fürsprecher Cristoforo Motta, Aarbergergasse 21, 3011 Bern,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 13. Februar 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
P.________ (geboren 1966) hat einen 1996 geborenen Sohn und arbeitete ab August 1999 temporär als Packerin in der Bäckerei X.________. Am 29. Oktober 2001 musste sie wegen einer akuten Darmentzündung (bei seit 1997 bekannter Colitis ulcerosa) notfallmässig hospitalisiert werden. Seither ist sie keiner Arbeit mehr nachgegangen. Am 14. Februar 2003 meldete sie sich zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Im März 2003 musste sie sich einer Nephrektomie links unterziehen. Im August 2004 wurde eine Osteoporose im Bereich der LWS und eine Osteopenie des Schenkelhalses und der Tibiaepiphyse festgestellt. Gestützt auf ein Gutachten des Instituts Z.________ vom 24. Juni 2004 verneinte die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 11. Februar 2005, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 12. August 2005, einen Rentenanspruch.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 13. Februar 2006 ab.
 
C.
 
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache zu erneuter Abklärung und Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen; eventualiter sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihr ab 1. Oktober 2002 eine Viertelsrente auszurichten.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 13. Februar 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 1. Juli 2006 bereits hängig war, sind auch die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen, für Streitigkeiten um Leistungen der Invalidenversicherung geltenden Anpassungen von Art. 132 und Art. 134 OG gemäss Ziff. III. des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG nicht anwendbar (Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG; AS 2006 2003, 2004). Die Beurteilung hat daher mit voller Kognition zu erfolgen und ist kostenfrei (Art. 132 und 134 OG, je in der bis 30. Juni 2006 geltenden Fassung).
 
2.
 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Anwendbarkeit des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 und der Änderungen des IVG infolge der 4. IV-Revision (vgl. auch BGE 129 V 1 E. 1.2 S. 4, 130 V 343 und 445, je mit Hinweisen) sowie die Begriffe der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG; BGE 130 V 343) und Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung; Art. 8 Abs. 1 ATSG; BGE 130 V 343) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 in der bis 31. Dezember 2003 und der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung), die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung; Art. 16 ATSG; BGE 128 V 29 E. 1 S. 30) und den Beginn des Rentenanspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG). Ebenfalls richtig sind die Ausführungen über die Aufgabe des Arztes bei der Ermittlung der Invalidität (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261 mit Hinweisen) und die beweisrechtlichen Anforderungen an einen ärztlichen Bericht (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
3.1 Frau Dr. med. B.________, Fachärztin für Allgemeine Medizin, diagnostizierte in ihrem Bericht vom 30. Juni 2003 mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine seit 1997 bekannte Colitis ulcerosa mit schwerem Verlauf sowie ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Nephrektomie links im März 2003. In der zuletzt ausgeübten Tätigkeit als Packerin in einer Bäckerei sei die Versicherte seit 29. Oktober 2001 bis auf weiteres voll arbeitsunfähig. Die Colitis habe immer wieder schwere Schübe verursacht. Am 29. Oktober 2001 habe die Versicherte deshalb hospitalisiert werden müssen. Seither sei sie nicht mehr arbeitsfähig. Im weiteren Verlauf seien unklare Beinschmerzen, chronische Müdigkeit und häufig Kopfschmerzen aufgetreten. Es gebe keine aktuelle Koloskopie, da dies vom Gastroenterologen nicht als nötig erachtet worden sei. Die Versicherte sei physisch und psychisch stark geschwächt. Bei physischen oder psychischen Belastungen komme es immer wieder zu Schüben der Colitis ulcerosa. Die Nephrektomie habe sie zusätzlich geschwächt. Die Patientin könne nicht lange stehen und keine schweren Lasten tragen. Die bisherige Tätigkeit sei nicht mehr zumutbar. Da sie bereits bei den täglichen Verrichtungen im Haushalt überfordert und auf weitgehende Hilfe des Ehemannes angewiesen sei, sei keine andere Tätigkeit zumutbar. Eine vermehrte Belastung bewirke zudem vermehrte Symptome der Colitis.
 
3.2 Im Gutachten des Instituts Z.________ vom 24. Juni 2004 wurde mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine Colitis ulcerosa (ICD-10: K 51.0) und eine Anpassungsstörung (ICD-10: F 43.23) bei Colitis ulcerosa und Status nach Nephrektomie links diagnostiziert. Da in Verweistätigkeiten keine höhere Arbeitsfähigkeit als im angestammten Bereich zu erwarten sei, werde die medizinisch-theoretische Arbeitsfähgikeit zusammenfassend beurteilt. Von den internistischen Problemen beeinflusse nur die Colitis die Arbeitsfähigkeit. Aktuell bestehe nur eine leichte und erst noch unbehandelte Eisenmangelanämie. Die Versicherte habe sich gegenüber dem Gastroenterologen und bei der allgemeinen Befundaufnahme nicht einheitlich über Behandlung und Frequenz der Colitis geäussert. Sofern ihre Angaben stimmen würden, bestehe aus gastroenterologischer Sicht eine Einschränkung von 10 bis 20 %. Die Therapie werde von der Versicherten wohl nicht optimal durchgeführt, wäre noch verbesserbar, so auch die Schubfrequenz. Es bestehe unter Einbezug sämtlicher Einschränkungen, sowohl der täglichen Leistungseinschränkung als auch über die Zeit gemittelten Einschränkungen, eine maximale Einschränkung von 30 % der Leistungsfähigkeit, sämtliche Bereiche miteinbezogen.
 
3.3 Auf Nachfrage der IV-Stelle äusserte sich Frau Dr. med. B.________ am 18. November 2004 zur Osteoporose und den Rückenschmerzen. Wegen der andauernden Kortisontherapie sei am 6. August 2004 im Inselspital eine Knochendensitometrie durchgeführt worden. Dabei habe sich eine Osteoporose im Bereich der LWS und eine Osteopenie des Schenkelhalses und der Tibiaepiphyse ergeben. Seit August 2004 klage die Versicherte über thorakale Rückenschmerzen. Eine physiotherapeutische Behandlung habe kurzfristig eine Besserung gebracht. Radiologisch habe man eine leichtgradige Skoliose der BWS und degenerative Veränderungen vor allem im Bereich der mittleren BWS festgestellt. Eine Prognose sei im Moment nicht möglich und sie könne sich auch nicht zur Arbeitsfähigkeit äussern. Eine Abklärung durch einen IV-Arzt sei allenfalls sinnvoll.
 
4.
 
Das Gutachten des Instituts Z.________ vermag in verschiedener Hinsicht nicht zu überzeugen: Einerseits wird auf die von der Versicherten geklagten Bein- beschwerden, insbesondere mit Schmerzen im OSG-Bereich, im Rahmen der Begutachtung nicht weiter eingegangen. Zwei Monate nach der Begutachtung wurde jedoch anlässlich einer Knochendensitometrie eine Osteoporose und Osteopenie des Schenkelhalses und der Tibiaepiphyse festgestellt. Andererseits hält der Gastroenterologe fest, die Colitis ulcerosa sei ungefähr ein Viertel der Zeit aktiv (Ziff. 4.1.3) und die Versicherte sei während eines aktiven Schubs der Colitis nicht arbeitsfähig (Ziff. 4.1.4). Seine Schlussfolgerung, wonach von Seiten der Colitis ulcerosa eine Arbeitsunfähigkeit von 10 bis 20 % resultiere (Ziff. 4.1.4), ist somit schwer nachvollziehbar. Zudem wird in der Gesamtbeurteilung festgehalten, die Versicherte führe die Therapie bezüglich der Colitis wohl nicht optimal durch, was verbesserbar sei und auch die Schubfrequenz verbessere (Ziff. 6.1.2). Diese Aussage in der Gesamtbeurteilung steht in Gegensatz zur Einschätzung des Gastroenterologen (Ziff. 4.1.5), gemäss welchem es fraglich ist, ob mit der noch möglichen Intensivierung der medizinischen Therapie eine Reduktion der Colitisschübe erreicht werden könne, weshalb dies die Arbeitsfähigkeit kaum beeinflussen dürfte. Unzutreffend ist auch der Vorwurf an die Hausärztin, es sei ihrem Bericht nicht zu entnehmen, auf welche Tätigkeiten sich ihre Einschätzung der Arbeitsfähigkeit beziehe. Frau Dr. med. B.________ hielt in ihrem Bericht vom 30. Juni 2003 unter Lit. B als zuletzt ausgeübte Tätigkeit "Packerin in einer Bäckerei" sowie eine Arbeitsunfähigkeit von "100 % vom 29. Oktober 2001 bis auf weiteres" fest und schränkte die noch zumutbaren Tätigkeiten auf dem Beiblatt zum Arztbericht ein, indem die Versicherte nicht mehr lange stehen und keine schweren Lasten tragen könne. Unter Einbezug der im Fragebogen des Arbeitgebers enthaltenen (und des Insituts Z.________ ebenfalls zur Verfügung gestandenen) Angaben zur bisherigen Tätigkeit (Gewicht heben/tragen max. 15 kg; Anteil stehen 80 %, gehen 20 %) kann nicht gesagt werden, es sei unklar, auf welche Tätigkeiten sich die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit durch die Hausärztin beziehe. Die Vorinstanz ist auf all diese Ungereimtheiten nicht eingegangen. Zudem haben es das kantonale Gericht und die Verwaltung unterlassen, einen (fachärztlichen) Bericht über die Feststellung und das Ausmass der Osteoporose einzuholen; dabei interessiert insbesonders, inwiefern die geklagten Bein- und Rückenschmerzen dadurch erklärbar werden und einen allfälligen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit haben. Problematisch ist diesbezüglich, dass die Auskunft von Frau Dr. med. B.________ im November 2004 unter formellen Gesichtspunkten nicht einwandfrei eingeholt wurde (vgl. dazu die vorinstanzlichen Ausführungen in E. 3.3), was vom kantonalen Gericht dadurch gerechtfertigt wurde, diese sei beweismässig unerheblich, die allfällige Bedeutung der Osteoporose aber gerade gestützt auf diesen Bericht verneint wurde. Auch findet sich bei den Akten kein Bericht der die Colitis ulcerosa behandelnden Fachärzte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass dem Institut Z.________ verschiedene Berichte über die Hospitalisation im Herbst 2001 sowie zur Nephrektomie als auch seitens des behandelnden Gastroenterologen zur Verfügung standen, diese aber im Gutachten weder zusammengefasst wurden noch sich bei den IV-Akten befinden.
 
Nach dem Gesagten basiert die Ermittlung des Invaliditätsgrades auf einem ungenügend abgeklärten Sachverhalt. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 13. Februar 2006 sowie der Einspracheentscheid der IV-Stelle vom 12. August 2005 sind somit aufzuheben und die Sache zu ergänzender Abklärung und erneuter Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 13. Februar 2006 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 12. August 2005 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf eine Invalidenrente neu verfüge. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Panvica, Bern, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 31. Mai 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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