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Informationen zum Dokument  BGer U 139/2006  Materielle Begründung
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BGer U 139/2006 vom 18.04.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
U 139/06
 
Urteil vom 18. April 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger,
 
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
 
Parteien
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Recht,
 
Mythenquai 2, 8002 Zürich, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Adelrich Friedli, Stationsstrasse 66a, 8907 Wettswil,
 
gegen
 
S.________, 1944, Beschwerdegegnerin,
 
vertreten durch Fürsprecher Rolf P. Steinegger, Hirschengraben 2, 3011 Bern.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 14. Februar 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1944 geborene S.________ arbeitete seit dem 10. Juni 1991 im Restaurant Q._________ und war bei der Zürich Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Zürich) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 25. Februar 1994 wurde sie auf dem Fussgängerstreifen von einem Auto angefahren. Dabei zog sie sich gemäss Bericht der Klinik und Poliklinik für Orthopädische Chirurgie, Spital X.________ vom 14. März 1994 eine stark dislozierte Zweietagenfraktur des linken Unterschenkels, eine Ober- und Unterkieferfraktur links, eine Commotio cerebri, eine Riss-/Quetschwunde frontal links und ein Monokelhämatom links zu. Am 14. März 1994 wurde sie mit reizlosen Wundverhältnissen und weitgehend beschwerdefrei in die Höhenklinik Y.________ verlegt, wo sie bis 12. April 1994 blieb. Nachdem am 3. Mai 1994 eine Reosteosynthese durchgeführt worden war, zeichnete sich in orthopädischer Hinsicht ein komplikationsloser Verlauf ab. Am 5. September 1994 nahm die Versicherte ihre Arbeit im Umfang von 50 % eines Vollpensums wieder auf, musste jedoch zufolge depressiver Verstimmungszustände am 13. September 1994 notfallmässig in die Sozialpsychiatrische Klinik Z.________ eingewiesen werden. Seit dem 3. Oktober 1994 hielt sie sich wiederholt und jeweils für längere Zeit in der Psychiatrischen Klinik Z.________ und in der Nervenklinik A.________ auf.
 
Zur Abklärung ihrer weiteren Leistungspflicht holte die Zürich unter anderem die Expertise des PD Dr. med. R.________, Chefarzt-Stellvertreter, Psychiatrische Poliklinik, Spital X.________, vom 7. Mai 1996 und den Bericht der Frau Dr. med. H.________, Spezialärztin für Neurologie FMH, vom 12. Oktober 1996 ein. Mit Verfügung vom 24. Oktober 1996 stellte sie die Heilkosten- und Taggeldleistungen rückwirkend auf den 1. Mai 1996 ein, verneinte den Anspruch auf eine Rente der Unfallversicherung und sprach der Versicherten eine Integritätsentschädigung von Fr. 19'440.-, entsprechend einer Integritätseinbusse von 20 %, zu. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 12. Mai 1997).
 
B.
 
S.________ liess dagegen beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde einreichen und beantragen, die Zürich sei anzuweisen, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen; eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Zürich zurückzuweisen. Das kantonale Gericht hob den Einspracheentscheid vom 12. Mai 1997 in Gutheissung der Beschwerde auf und wies die Sache an die Zürich zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen vorgehe (Entscheid vom 21. März 2001). In teilweiser Gutheissung der dagegen von der Zürich eingereichten Verwaltungsgerichtsbeschwerde hob das damals zuständige Eidgenössische Versicherungsgericht den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. März 2001 auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Leistungsanspruch der S.________ neu entscheide (Urteil vom 22. Februar 2002, U 167/01). Dieses Urteil wurde vom damals zuständigen Eidgenössischen Versicherungsgericht in Gutheissung des Revisionsgesuches der S.________ insoweit aufgehoben, als sich die Rückweisung der Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern im Sinne der Erwägungen auf die Durchführung der Adäquanzprüfung nach den in BGE 117 V 369 ff. festgelegten Grundsätzen bezog, und durch folgende Bestimmung ersetzt: "In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. März 2001 aufgehoben und es wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie ergänzende Abklärungen im Sinne der Erwägungen vornehme und über den Leistungsanspruch der Beschwerdegegnerin neu entscheide." (Urteil vom 24. Dezember 2002, U 189/02). Nach zusätzlichen Erhebungen, insbesondere nach Einholung eines Gutachtens des Prof. Dr. med. K.________, Chefarzt Neurologische Abteilung der Klinik C.________, Facharzt für Neurologie FMH sowie für Physikalische Medizin/Rehabilitation FMH, vom 14. Juni 2004 und eines Zusatzgutachtens zu den Ergänzungsfragen der Parteien vom 14. September 2004 hob das kantonale Gericht den Einspracheentscheid vom 12. Mai 1997 in Gutheissung der Beschwerde auf und wies die Akten zur Bestimmung und Auszahlung der Leistungen ab 1. Mai 1996 an die Zürich zurück (Entscheid vom 14. Februar 2006).
 
C.
 
Die Zürich lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid vom 14. Februar 2006 sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 12. Mai 1997 sei im Ergebnis "(Leistungseinstellung per 1. Mai 1996)" zu bestätigen.
 
S.________ lässt beantragen, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei abzuweisen und die Sache sei zur Bestimmung und Auszahlung der Leistungen ab 1. Mai 1996 an die Zürich zurückzuweisen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Stellungnahme.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vor dem 1. Januar 2007 ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach dem bis zum 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; Art. 131 Abs. 1 und Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die Grundsätze über den für die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Gesundheitsschaden (BGE 119 V 335 E. 1 S. 337, 118 V 286 E. 1b S. 289; vgl. auch BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181, 402 E. 4.3.1 S. 406) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur überdies erforderlichen Adäquanz des Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (vgl. BGE 129 V 177 E. 3.2 S. 181, 402 E. 2.2 S. 405, 125 V 456 E. 5a S. 461) sowie bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.) und Unfällen mit Schleudertrauma der Halswirbelsäule, Schädel-Hirntrauma oder gleichgestellter Verletzung im Besonderen (BGE 117 V 359, 369; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 E. 2).
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz und die Beschwerdeführerin gehen davon aus, dass die bei der Versicherten festgestellte Hirnläsion nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückzuführen sei. Dabei stützt sich das kantonale Gericht auf das Gutachten des Prof. Dr. med. K.________ vom 14. Juni 2002 und das Zusatzgutachten desselben Experten vom 14. September 2004.
 
Demgegenüber kommt die Beschwerdegegnerin zum Schluss, die nachgewiesene organische Hirnschädigung sei überwiegend wahrscheinlich auf den Unfall vom 25. Februar 1994 zurückzuführen. Dies werde unter anderem durch die Stellungnahmen des Dr. med. T.________, Spezialarzt für Medizinische Radiologie und Neuroradiologie FMH, vom 10. April 2002 und 3. November 2004 sowie die Berichte des Dr. med. J.________, Spezialarzt für Neurologie FMH, vom 15. April 2002 und 18. November 2004 bestätigt.
 
3.2 Prof. Dr. med. K.________ bezeichnet die links-frontale Läsion mit einer posttraumatischen Veränderung "vereinbar" und einen Zusammenhang mit dem Unfall als "wahrscheinlich". Die schon vor dem Unfall diagnostizierte Persönlichkeitsstörung gehe sicher nicht auf eine solche Schädigung zurück (Expertise vom 14. Juni 2004, S. 16). Im Ergänzungsgutachten vom 14. September 2004 gibt er an, eine geburtstraumatische oder frühkindliche Hirnläsion sei ebenso wahrscheinlich (50 %) wie eine Schädigung durch den Unfall vom 25. Februar 1994. Dr. med. J.________ führt die Läsion fronto-basal "deutlich überwiegend wahrscheinlich" auf das Unfallereignis zurück (Bericht vom 18. November 2004). Nach Dr. med. T.________ "dürften wohl posttraumatische und auch perinatale Folgeschäden am Hirn vorliegen" (Stellungnahme vom 3. November 2004). Im Vergleich mit den Angaben von Herrn Prof. Dr. med. K.________ fällt auf, dass sich Dres. med. T.________ und J.________ in ihren Berichten vom 10. und 15. April 2002 sowie vom 3. und 18. November 2004 mit der Frage nach der Ursache der Hirnläsion vertiefter und sicherer auseinandersetzen. Das kantonale Gericht hält zwar dafür, dass auf die Beurteilung des Dr. med. T.________ nicht abgestellt werden könne, einerseits, weil seine Berichte vom 10. April 2002 und vom 3. November 2004 nicht gleich ausgefallen seien, und andererseits, weil das Fehlen einer Contre-coup-Läsion gegen das Bestehen einer traumatischen Läsion spreche. Gleiches gelte für die Stellungnahme des Dr. med. J.________ vom 18. November 2004, weil er sich der Auffassung von Dr. med. T.________ angeschlossen habe. Dagegen ist einzuwenden, dass die beiden Berichte des Dr. med. T.________ sich nicht widersprechen. Der zweite Bericht vom 3. November 2004 ist lediglich spezifischer. Sowohl Dr. med. T.________ als auch Dr. med. J.________ weisen sodann darauf hin, dass aus dem Fehlen einer Contre-coup-Läsion nicht auf das Nichtvorhandensein einer traumatischen Läsion geschlossen werden darf. Selbst Prof. Dr. med. K.________ äussert sich in diesem Zusammenhang vorsichtig. Er findet das Fehlen einer Contre-coup-Läsion "für eine traumatische Genese dieser Läsion etwas ungewöhnlich" und schwächt seine Aussage, wonach eine Schädigung durch den Unfall ebenso in Frage komme wie eine geburtstraumatische oder frühkindliche Schädigung, noch dadurch ab, dass er diesen Schluss nur "vielleicht" gelten lässt (Ergänzungsgutachten vom 14. September 2004, S. 2). Keiner der involvierten Ärzte vermag indessen die Auswirkungen der Hirnläsion, soweit diese durch den Unfall bedingt wäre, auf den Gesundheitszustand und die damit verbundenen Einschränkungen anzugeben. Ob - und bejahendenfalls in welchem Umfang - die Hirnläsion auf den Unfall zurückzuführen ist, kann unter diesen Umständen offen bleiben.
 
4.
 
Mit Urteil vom 24. Dezember 2002, U 189/02, hat das damals zuständige Eidgenössische Versicherungsgericht festgehalten, dass die Adäquanzprüfung im vorliegenden Fall nach den in BGE 117 V 369 festgelegten Grundsätzen vorzunehmen sei, falls sich organische Unfallfolgen nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachweisen liessen (E. 3 mit Hinweis auf das Urteil vom 22. Februar 2002, U 167/01). Nichts anderes kann gelten, wenn, wie nunmehr festgestellt werden muss, keine Klarheit über die Auswirkungen der - allenfalls durch den Unfall verursachte - Hirnläsion auf den Gesundheitszustand und die damit verbundenen Einschränkungen zu erzielen ist. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist daher nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht bei der Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhanges auf eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten verzichtet hat. Auch gegen die Einordnung des Ereignisses vom 25. Februar 1994 als Unfall, welcher zu den schwereren Fällen im mittleren Bereich zu zählen ist, lässt sich nichts einwenden. Schliesslich hat die Vorinstanz die Adäquanzkriterien der Schwere oder besonderen Art der erlittenen Verletzungen, der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung, und des Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit zu Recht als erfüllt betrachtet. Demgemäss ist der adäquate Kausalzusammenhang zu bejahen, womit die Beschwerdegegnerin Anspruch auf Versicherungsleistungen hat. Die abweichende Betrachtungsweise der Beschwerdeführerin geht auf den Umstand zurück, dass sie die Adäquanzprüfung nach BGE 115 V 133 vornehmen und demzufolge nur die somatischen Komponenten berücksichtigen will, was unter den vorliegenden Umständen nicht angeht. Der vorinstanzliche Gerichtsentscheid vom 14. Februar 2006 ist daher zu bestätigen.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die Zürich hat der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die Zürich Versicherungs-Gesellschaft hat S.________ für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 3264.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
 
Luzern, 18. April 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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