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Informationen zum Dokument  BGer 6P_3/2007  Materielle Begründung
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BGer 6P_3/2007 vom 06.03.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6P.3/2007
 
6S.585/2006 /aml
 
Urteil vom 6. März 2007
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Favre, Zünd,
 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth,
 
gegen
 
A.________,
 
Beschwerdegegner,
 
B.________,
 
Beschwerdegegnerin, beide vertreten durch Rechtsanwältin Jeanne DuBois,
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8090 Zürich,
 
Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Postfach, 8023 Zürich.
 
Gegenstand
 
6P.3/2007
 
Strafverfahren; rechtliches Gehör, Anklageprinzip,
 
6S.585/2006
 
Mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern etc.,
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.3/2007) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.585/2006) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 18. September 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X.________ im Berufungsverfahren am 18. September 2006 schuldig der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern im Sinne von Art. 187 Ziff. 1 StGB, der mehrfachen sexuellen Nötigung im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB sowie der mehrfachen versuchten Nötigung im Sinne von Art. 181 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB und verurteilte ihn deswegen zu drei Jahren Zuchthaus. X.________ wird u.a. zur Last gelegt, in der Zeitspanne von anfangs 2003 bis April 2004 den 1997 geborenen Pflegesohn A.________ in der damaligen Wohnung mehrfach, mindestens jedoch zweimal, sexuell missbraucht zu haben, indem er den Knaben in der Nacht aufgeweckt, ihn ins Badezimmer getragen, das Gesäss des nackten Kindes eingecremt, den Penis in dessen After eingeführt und diesen dort hin- und herbewegt habe, wobei er das Kind nahe an sich herangezogen und festgehalten sowie es dabei einmal mit einem Messer bedroht habe.
 
B.
 
X.________ erhebt staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht. Mit beiden Rechtsmitteln beantragt er die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz im Sinne der Erwägungen.
 
C.
 
Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme zu den Beschwerden. Weitere Vernehmlassungen wurden nicht eingeholt.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG bzw. nach BStP (Art. 132 Abs. 1 BGG).
 
Am 1. Januar 2007 ist auch der revidierte Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches in Kraft getreten. Die neuen Bestimmungen sind hier aber noch nicht von Bedeutung, da das Bundesgericht im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nur prüft, ob das kantonale Gericht das eidgenössische Recht richtig angewendet hat (Art. 269 Abs. 1 BStP), mithin das Recht, welches im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheids noch gegolten hat (BGE 129 IV 49 E. 5.3).
 
2.
 
Der Beschwerdeführer wendet sich sowohl mit der staatsrechtlichen Beschwerde als auch mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde ausschliesslich gegen die Verurteilung wegen mehrfacher sexueller Nötigung im Sinne von Art. 189 Abs.1 StGB. Mit beiden Rechtsmitteln macht er dabei einzig geltend, dass sich dem angefochtenen Entscheid nicht entnehmen lasse, mit welchen Mitteln er den Beschwerdegegner genötigt haben soll. So könne namentlich aus den unter Verweis auf das erstinstanzliche Urteil bzw. die Anklageschrift getroffenen Feststellungen der Vorinstanz, wonach er den Beschwerdegegner festgehalten, diesen mit einem Messer bedroht bzw. durch sein Verhalten seine Stellung als Bezugs- und Vertrauensperson massiv missbraucht habe, nicht abgeleitet werden, er habe diesen mittels Gewalt, Bedrohung oder psychischem Druck zur Duldung von sexuellen Handlungen gezwungen. Da insoweit nicht festgestellt sei, weshalb von einer Nötigung ausgegangen werde bzw. worin diese bestehe, erweise sich der angefochtene Entscheid als nicht nachvollziehbar begründet. Einerseits erblickt der Beschwerdeführer darin eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, namentlich der Begründungspflicht, sowie einen Verstoss gegen das Anklageprinzip, was er mit der staatsrechtlichen Beschwerde rügt, und andererseits eine Verletzung von materiellem Bundesstrafrecht im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB, was er unter Berufung auf Art. 277 BStP im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde geltend macht.
 
I. Staatsrechtliche Beschwerde
 
3.
 
3.1 Nicht eingetreten werden kann auf die staatsrechtliche Beschwerde, soweit der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung des Anklageprinzips rügt. Dies deshalb, weil er die fragliche Beanstandung erstmals vor Bundesgericht vorbringt, obschon er die Möglichkeit gehabt hätte, den angeblichen Verfahrensmangel bereits im Verfahren vor dem Bezirksgericht oder zumindest im obergerichtlichen Verfahren geltend zu machen. Denn es widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben, wenn eine Partei verfahrensrechtliche Einwendungen erst vor Bundesgericht erhebt, obwohl sie diese bereits in einem früheren Verfahrensstadium hätte geltend machen können (BGE 130 III 66 E. 4.3 S. 75; 124 I 121 E. 2 S. 123; 121 I 30 E. 5f S. 38 mit Hinweisen). Dies gilt auch für Verfahrensfehler, die von Amtes wegen zu beachten sind (BGE 117 Ia 491 E. 2a S. 495). Ausserdem ist insofern der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft (Art. 86 Abs. 1 OG).
 
3.2 Unbegründet ist die Beschwerde, soweit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 29 Abs. 2 BV wegen unzureichender Begründung des angefochtenen Entscheids geltend gemacht wird. Es mag zwar zutreffen, dass die Ausführungen des Obergerichts zum nötigenden Verhalten des Beschwerdeführers eher knapp erscheinen. Aus diesem Umstand allein lässt sich allerdings noch keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ableiten. Dieser ist unter dem Aspekt der Begründungspflicht nur verletzt, wenn der Betroffene sich über die Tragweite des Entscheids keine Rechenschaft geben und diesen nicht in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann (BGE 126 I 97 E. 2b; 125 II 369 E. 2c). Dass der Beschwerdeführer hierzu nicht in der Lage gewesen wäre, macht er selbst nicht geltend, und solches ist auch nicht ersichtlich.
 
3.3 Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
II. Eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz kommt zum Ergebnis, dass der Anklagesachverhalt bezüglich der sexuellen Übergriffe zum Nachteil des Beschwerdegegners erstellt ist, und spricht den Beschwerdeführer unter Verweis auf die rechtliche Würdigung der ersten Instanz bzw. diejenige in der Anklage deshalb u.a. der mehrfachen sexuellen Nötigung im Sinne von Art. 189 StGB schuldig (angefochtener Entscheid, S. 25 und 28). Der Beschwerdeführer macht in dieser Hinsicht im Wesentlichen geltend, die Vorinstanz stelle weder hinreichend fest noch begründe sie, weshalb sie vorliegend von einer Nötigung ausgehe bzw. worin diese bestehe. Die (unzureichenden) Sachverhaltsfeststellungen liessen den Schluss nicht zu, er habe den Beschwerdegegner bedroht, ihm gegenüber Gewalt angewendet, ihn unter psychischen Druck gesetzt oder zum Widerstand unfähig gemacht. Der angefochtene Entscheid leide insoweit an einem Mangel im Sinne von Art. 277 BStP.
 
-:-
 
4.2 Wegen sexueller Nötigung gemäss Art. 189 Abs. 1 StGB wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis bestraft, wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer andern sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht.
 
4.3 Der Begründung des angefochtenen Entscheids ist nicht mit letzter Deutlichkeit zu entnehmen, von welchem Nötigungsmittel die Vorinstanz ausgeht. Aus ihren unter Verweis auf die Ausführungen der ersten Instanz und die Anklageschrift getroffenen tatsächlichen Feststellungen folgt jedoch klar, dass sie vorliegend die Anwendung physischer Gewalt annimmt (angefochtener Entscheid, S. 25 mit Verweis auf das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, S. 16 und 20, und die Anklageschrift, S. 2 und 3). Die Verübung von Gewalt im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB erfordert eine physische Einwirkung auf das Opfer, die darauf gerichtet ist, dessen geleisteten oder erwarteten Widerstand zu brechen (BGE 122 IV 97 E. 2b; Guido Jenny, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Bd. 4, Bern 1997 Art. 189 N. 16). Einer körperlichen Misshandlung bedarf es hierzu allerdings nicht; je nach den konkreten Umständen genügt es schon, dass der Täter das Opfer etwa mit überlegener Körperkraft festhält (Jenny, a.a.O, Art. 189 N. 16; Philipp Maier, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch II, Basel 2003, Art. 189 N. 13; vgl. Günter Stratenwerth/Guido Jenny, Schweizerisches Strafrecht, BT I, 6. Aufl., Bern 2003, § 8 N. 8; s. a. BGE 125 IV 58 E. 2c sowie das Urteil des Bundesgerichts vom 29. Juni 2006, 6S.170/2006 E. 5.2).
 
4.4 Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat der auf der Toilette sitzende Beschwerdeführer den nackten Beschwerdegegner nahe zu sich herangezogen und (mit einer Hand) gewaltsam festgehalten, um die geschilderten sexuellen Handlungen an ihm zu vollziehen. Diese physische Einwirkung auf den Beschwerdegegner ist ohne weiteres als Gewalt einzustufen, auch wenn die Gewaltanwendung nicht massiv war. Denn im Rahmen der Beurteilung des Nötigungsmittels sind auch Opfergesichtspunkte mitzuberücksichtigen (relativer Massstab). Es hiesse, solchen Menschen einen geringeren strafrechtlichen Schutz zuzugestehen, würde ihrer besonderer Verletzlichkeit nicht Rechnung getragen. Hält folglich ein Erwachsener ein sechsjähriges Kind gewaltsam fest, so kann sich dieses angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses der physischen Einwirkung nicht entziehen und muss das Handeln des Täters dulden. Dies gilt noch umso mehr, wenn das Kind - wie hier - in der Nacht aufgeweckt und sexuell missbraucht wird, ist doch in einem solchen Fall die Wehr- und Widerstandsfähigkeit des Opfers ohnehin beträchtlich herabgesetzt (vgl. Ausführungen im Urteil des Bezirksgerichts, S. 20).
 
4.5 Nach dem Gesagten ist der Schuldspruch wegen mehrfacher sexueller Nötigung im Sinne von Art. 189 Abs. 1 StGB bundesrechtlich nicht zu beanstanden. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach als unbegründet abzuweisen.
 
III. Kosten - und Entschädigungsfolgen
 
5.
 
Bei diesem Verfahrensausgang trägt der Beschwerdeführer die bun-desgerichtlichen Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG; Art. 278 Abs. 1 BStP). Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtsgebühr von insgesamt Fr. 4'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 6. März 2007
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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