VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 401/2006  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 401/2006 vom 19.02.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 401/06
 
Urteil vom 19. Februar 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Widmer und Leuzinger,
 
Gerichtsschreiberin Polla.
 
Parteien
 
W.________, 1976, Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Györffy, Gartenhofstrasse 15, 8004 Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17,
 
8005 Zürich, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
 
vom 22. März 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1976 geborene W.________ war zuletzt von Januar bis März 2001 bei der Firma F.________ AG tätig. Von März 2000 bis Juni 2001 bezog er Taggelder der Arbeitslosenversicherung und nach seiner Aussteuerung lebte er von kommunalen Sozialhilfeleistungen. Am 9. Mai 2003 meldete sich W.________ unter Hinweis auf Depressionen, Schlafstörungen, Suizidgedanken, gestörte Selbsteinschätzung und -wahrnehmung, Übergewicht, Lethargie sowie Distress bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Umschulung auf eine neue Tätigkeit/Rente) an. Nach erwerblichen und medizinischen Abklärungen lehnte die IV-Stelle Zürich das Gesuch im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten des Dr. med. R.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 10. Januar 2005, mangels Invalidität ab (Verfügung vom 4. Februar 2005). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 14. Juni 2005 fest.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 22. März 2006 ab.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt W.________ die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Vornahme ergänzender Abklärungen und zu neuem Entscheid beantragen.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw 1.2).
 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Gericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 hängig war, richtet sich die Kognition noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Rechtsgrundlagen für die Beurteilung der Streitsache zutreffend dargelegt. Es betrifft dies namentlich die Normen zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG und Art. 4 Abs. 1 IVG), zu den Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (Art. 8 Abs. 3 lit. b in Verbindung mit Art. 15 ff. IVG) und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG). Gleiches gilt bezüglich der Voraussetzungen für die Annahme einer invalidisierenden psychischen Gesundheitsschädigung, wie sie hier zur Diskussion steht (BGE 131 V 50 E. 1.2 mit Hinweisen). Richtig sind auch die Erwägungen über die Aufgabe des Arztes bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 E. 4 mit Hinweisen) und die Anforderungen an beweiskräftige ärztliche Berichte und Gutachten (BGE 125 V 352 E. 3a mit Hinweis). Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob eine invalidisierende Gesundheitsschädigung vorliegt, wie sie für den geltend gemachten Leistungsanspruch vorausgesetzt wird. Dabei steht insbesondere die Frage im Raum, ob der psychische Gesundheitszustand genügend abgeklärt worden ist.
 
3.1 Laut dem Gutachten des Dr. med. R.________ vom 10. Januar 2005 liegt beim Beschwerdeführer eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit Tendenz zu Sucht und Amotivation (ICD-10: F60.2) vor. Wie der Gutachter weiter darlegte, stehe beim Patienten auf psychopathologischer Ebene ein Syndrom mit Dissozialität, Suchttendenz, mangelnder Identität und mangelnder Konstanz im Vordergrund. Die soziale Anpassung sei häufig gefährdet gewesen. Obwohl in diesem Sinne eindeutige Zeichen einer Persönlichkeitsstörung erkennbar seien, gingen aus der Anamnese jedoch keine schwerwiegende, eindeutig pathologische Folgen von Persönlichkeitsstörungen hervor. Ebenso seien beim Versicherten emotionale Krisen, Deprimiertheiten im Sinne von Dysthymie erkennbar, aber keine depressive Phasen schweren Grades, weshalb keine invalidenversicherungsrechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit festzustellen sei.
 
3.2 Dr. med. R.________ unterhielt sich ausführlich mit dem Exploranden. Nachdem der Gutachter tatsächlich eine Persönlichkeitsstörung diagnostizierte, ist der beschwerdeführerische Einwand, dass dieses Vorgehen (in Verbindung mit dem Studium der Vorakten) keine hinreichende Basis für die Erstellung des Gutachtens sei, gegenstandslos. Wenn Dr. med. R.________ sodann zum Schluss gelangte, dass wohl eindeutige Zeichen einer Persönlichkeitsstörung vorliegen, dieser daraus aber keine schwere Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert ableitete, die es dem Beschwerdeführer bei Aufbietung allen guten Willens verunmöglichte eine Erwerbstätigkeit auszuüben, ist dies nicht widersprüchlich. Weiter kann der beschwerdeführerischen Kritik, der Gutachter sei überhaupt nicht auf seine konkreten Beschwerden und die daraus resultierenden Einschränkungen in seiner beruflichen Leistungsfähigkeit eingegangen, nicht gefolgt werden. Dr. med. R.________ hielt hinsichtlich einer geäusserten "Winterdepression" fest: "Nach Beschwerden befragt, gibt er an, er merke es halt einfach, fühle sich nicht gut. Er schlafe nur drei bis vier Stunden, habe Albträume. Einschlafen könne er gut mit Stilnox. Ob es Schwankungen gäbe könne er nicht sagen." In der Anamnese nahm Dr. med. R.________ im Weiteren die des behandelnden Arztes Dr. med. H.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, im Bericht vom 6. April 2004 festgehaltenen Beschwerden wie Depressionen, Schlaflosigkeit, Energie- und Motivationslosigkeit sowie die erheblichen Minderwertigkeitsgefühle auf. Hinsichtlich der depressiven Symptomatik legte der Gutachter sodann einleuchtend dar, weshalb keine Depression vorliege, wovon im Übrigen auch Dr. med. H.________ ausging. Sowohl die Diagnose als auch die Aussagen zur Arbeitsfähigkeit wurden in schlüssiger und nachvollziehbarer Weise hergeleitet und begründet. Dem Gutachten ist daher volle Beweiskraft zuzusprechen.
 
3.3 Daran vermögen auch die weiteren Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts zu ändern. Entgegen der Ansicht des Versicherten lässt sich den Schreiben des Dr. med. H.________ (vom 23. März und 7. Dezember 2005) gerade nicht entnehmen, dass dem Experten Dr. med. R.________ wichtige Anhaltspunkte für eine stichhaltige Diagnose gefehlt hätten, zumal Dr. med. H.________ in seinem Arztbericht vom 6. April 2004 ebenfalls eine Persönlichkeitsstörung (kombinierte Persönlichkeitsstörung; ICD10: F61.0) diagnostizierte, wobei er der Unterscheidung zwischen dissozialer und kombinierter Persönlichkeitsstörung untergeordnete Bedeutung beimass sowie die in der Expertise erwähnte Dissozialität im Lebenslauf des Versicherten bestätigte (Schreiben vom 23. März 2005). Dr. med. H.________ attestierte eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit seit Behandlungsbeginn am 27. März 2001 als Büroangestellter. Er erachtete zwar offenbar keine Tätigkeit mehr als zumutbar, begründete aber weder in seinem Bericht vom 6. April 2004 noch in seinem Schreiben vom 23. März 2005 näher, warum der Beschwerdeführer aufgrund seiner Persönlichkeit nicht mehr in der Lage sein sollte, einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Eine etwas differenziertere Äusserung zur Arbeitsfähigkeit findet sich zwar in seinem während des vorinstanzlichen Prozesses eingereichten Schreiben vom 7. Dezember 2005. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführte, vermag dieses aber die Beweiskraft der Expertise vom 10. Januar 2005 nicht in Frage zu stellen. Gemäss dem behandelnden Psychiater konnte der Gutachter Dr. med. R.________ Situation und Verhalten des Beschwerdeführers gut erfassen und demnach auch dessen aufgrund der Persönlichkeitsstörung gestörten Verhaltensweisen in die Begutachtung und Beurteilung der Arbeitsfähigkeit einfliessen lassen. Mit dem kantonalen Gericht ist die Schlussfolgerung des Dr. med. H.________ auch insofern nicht stichhaltig, als er die Meinung vertrat, schon allein aufgrund der Diagnose einer psychischen Störung müsse eine Arbeitsunfähigkeit angenommen werden, ansonsten eine blosse Persönlichkeitsvariante vorliege. Der Umstand einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung ist demgegenüber jedoch insoweit von untergeordneter Bedeutung, als eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit in jedem Einzelfall unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein muss. Entscheidend ist die nach einem weitgehend objektivierten Massstab zu erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern der versicherten Person trotz ihres Leidens die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozialpraktisch zumutbar und für die Gesellschaft tragbar ist (BGE 127 V 298 E. 4c mit Hinweisen). Dass die psychische Störung ein Ausmass aufweist, welches eine Erwerbstätigkeit sozialpraktisch unzumutbar erscheinen liesse oder für die Gesellschaft untragbar wäre, vermag Dr. med. H.________ indessen nicht überzeugend darzulegen. Seine Einschätzung der Arbeitsfähigkeit ist zudem mit Blick auf die Tatsache, dass der Versicherte auch nach der geschätzten vollständigen Arbeitsunfähigkeit im Rahmen seiner gemeldeten Arbeitslosigkeit Beschäftigungsprogramme absolvierte und bis Juni 2001 bei uneingeschränkter Vermittlungsfähigkeit Taggeldleistungen der Arbeitslosenversicherung bezog, nicht schlüssig. Wenn Dr. med. H.________ die Zumutbarkeit der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit anders beurteilte als der von der Verwaltung als Gutachter beigezogene Spezialarzt, lässt sich dies weitgehend durch seinen primären Auftrag als (seit März 2001) behandelnder Arzt erklären, welcher sich von demjenigen eines Gutachters oder einer Gutachterin grundsätzlich unterscheidet (vgl. zur Unverträglichkeit von Therapie- und Expertiseauftrag aus der jüngeren Rechtsprechung Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 58/06 vom 2. August 2006, E. 2.2 und, spezifisch bezogen auf die Psychiatrie, Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 676/05 vom 13. März 2006 E. 2.4). Dass sich der Versicherte ausserdem wegen der beruflich unbefriedigenden Situation mit langer Arbeitslosigkeit und Aussteuerung bei der Arbeitslosenversicherung, der weiter bestehenden Schwierigkeiten auf der Stellensuche, der Abhängigkeit von der Sozialhilfe und der aus dieser persönlichen Situation u.a. resultierenden Minderung des Selbstwertgefühls in einer psychosozialen Belastungssituation befindet, wird nicht in Abrede gestellt. Ein invalidisierender Gesundheitsschaden ist unter den gegebenen Umständen aber mit Vorinstanz und Verwaltung zu verneinen, weshalb ergänzende psychiatrische Abklärungen unnötig sind und es beim vorinstanzlichen Entscheid sein Bewenden hat.
 
4.
 
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 E. 4a und 372 E. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird Rechtsanwalt Victor Györffy für das Verfahren vor dem Bundesgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1800.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse Promea, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 19. Februar 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).