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Informationen zum Dokument  BGer I 166/2006  Materielle Begründung
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BGer I 166/2006 vom 30.01.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 166/06
 
Urteil vom 30. Januar 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön,
 
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
Parteien
 
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
F.________, 1973, Beschwerdegegnerin, vertreten
 
durch das Sozialdepartement X.________, Rechtsdienst, Rechtsanwältin Barbara Heer.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt
 
vom 12. Januar 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1973 geborene F.________ meldete sich am 24. Januar 2002 unter Hinweis auf psychische Probleme bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an und beantragte Arbeitsvermittlung. Die IV-Stelle Basel-Stadt holte die Arztberichte von Dr. med. M.________, Psychiatrische Klinik Y.________, vom 12. Februar 2002 und von Dr. med. E.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 18. Juni 2002 ein. Mit Verfügung vom 11. November 2002 wies sie das Gesuch um berufliche Massnahmen ab, da sich die Versicherte seit Juli 2002 für mehrere Monate im Strafvollzug befinde und die Durchführung beruflicher Abklärungs- bzw. Eingliederungsmassnahmen bis auf weiteres ausgeschlossen sei.
 
Mit Schreiben vom 25. September 2003 gelangte Frau Dr. med. R.________ vom Integrierten forensisch-psychiatrischen Dienst (IFPD), welche F.________ in der Strafanstalt psychiatrisch betreute, an die IV-Stelle Basel-Stadt und ersuchte um Zusprechung einer Invalidenrente und Hilfe bei der beruflichen Wiedereingliederung. In der Folge holte die IV-Stelle den Bericht des IFPD vom 19. Januar 2004 ein, welcher als Diagnosen emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Kokain- und Cannabismissbrauch, Verdacht auf Essstörung und auf Attention deficit and hyperactivity disorder (ADHD) anführte. Am 5. Mai 2004 ordnete sie eine psychiatrische Abklärung durch Dr. med. W.________ an. Mit Schreiben vom 14. Mai 2004 ersuchte der behandelnde Allgemeinpraktiker, Dr. med. S.________, die IV-Stelle um Bezeichnung eines in A.________ praktizierenden Gutachters, da F.________ seit Februar 2004 dort wohne. Die IV-Stelle erklärte sich am 24. Mai 2004 dazu nur unter der Voraussetzung bereit, dass gesundheitliche Gründe einer Abklärung in B.________ entgegen stünden. Daraufhin reichte Dr. med. S.________ den Arztbericht vom 27. Mai 2004 ein, worin er festhielt, eine Reise nach B.________ bringe die Versicherte an die Grenzen ihrer Kooperationsfähigkeit. Die Termine in B.________ werde sie aus gesundheitlichen Gründen vermutlich meistens nicht einhalten können. Seinem Bericht legte er unter anderem die Berichte der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Y.________ vom 9. Januar 2001, der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Z.________ vom 19. März 2002, des IFPD vom 17. April 2003, 30. November 2003 und 12. Januar 2004 sowie des PD Dr. med. G.________ vom 27. April 2001 bei. Nachdem die Versicherte mehreren Begutachtungsterminen bei Dr. med. W.________ keine Folge geleistet hatte, bot die IV-Stelle sie am 3. März 2005 für den 14. März 2005 unter Hinweis auf ihre Mitwirkungspflicht nochmals zu einer Untersuchung in der Praxis des Dr. med. W.________ in B.________ auf. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass die Fallbearbeitung eingestellt und das Gesuch abgewiesen werde, falls die Abklärung mangels Kooperation erneut nicht zustande kommen sollte. Am 14. März 2005 teilte Dr. med. S.________ der IV-Stelle mit, der Versicherten sei eine Reise nach B.________ auf einen bestimmten Termin hin krankheitsbedingt nicht möglich. Mit Verfügung vom 11. April 2005 wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 12. August 2005 fest.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt unter Berücksichtigung der in jenem Verfahren eingereichten Berichte des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes (FPD) vom 8. September und 3. Oktober 2005 mit Entscheid vom 12. Januar 2006 gut, hob den Einspracheentscheid vom 12. August 2005 auf und wies die Sache zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
 
C.
 
Die IV-Stelle Basel-Stadt führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Richtigkeit der Verfügung vom 11. April 2005 sei zu bestätigen.
 
F.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurde das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 12. Januar 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 395 Erw. 1.2).
 
2.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilt werden, wobei das Gericht an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden ist. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht anhängig gemachten Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich die Kognition des nunmehr urteilenden Bundesgerichts nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
 
3.
 
Wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat, leidet die Beschwerdegegnerin an psychischen Problemen, wobei aufgrund der medizinischen Unterlagen unklar bleibt, in welchem Ausmass die Arbeitsfähigkeit dadurch beeinträchtigt wird. Streitig und zu prüfen ist im vorliegenden Verfahren einzig, ob die Versicherte in entschuldbarer Weise einer psychiatrischen Begutachtung durch einen in B.________ tätigen Facharzt keine Folge geleistet hat, was die Vorinstanz bejaht, die IV-Stelle hingegen verneint.
 
Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG prüft der Versicherungsträger die Begehren der versicherten Person, nimmt die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vor und holt die erforderlichen Auskünfte ein, wobei mündlich erteilte Auskünfte schriftlich festzuhalten sind. Soweit ärztliche oder fachliche Untersuchungen für die Beurteilung notwendig und zumutbar sind, hat sich die versicherte Person diesen zu unterziehen (Art. 43 Abs. 2 ATSG). Kommen die versicherte Person oder andere Personen, die Leistungen beanspruchen, den Auskunfts- oder Mitwirkungspflichten in unentschuldbarer Weise nicht nach, so kann der Versicherungsträger aufgrund der Akten verfügen oder die Erhebungen einstellen und Nichteintreten beschliessen. Er muss diese Personen vorher schriftlich mahnen und auf die Rechtsfolgen hinweisen; ihnen ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen (Art. 43 Abs. 3 ATSG). Im gleichen Sinne hält Art. 73 IVV in der seit 1. Januar 2004 in Kraft stehenden Fassung fest, dass wenn Versicherte schuldhaft eine ärztliche Untersuchung (Art. 48 Abs. 2), eine Begutachtung (Art. 69 Abs. 2), das Erscheinen vor der IV-Stelle (Art. 69 Abs. 3) oder Auskünfte (Art. 71 Abs. 1) verweigern, die IV-Stelle, unter Ansetzung einer angemessenen Frist und Darlegung der Säumnisfolgen, aufgrund der Akten beschliessen oder die Abklärungen einstellen und Nichteintreten beschliessen kann.
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die Versicherte weise eine gestresste und instabile Persönlichkeit auf. Aufgrund der medizinischen Unterlagen könne nicht gesagt werden, sie habe sich schuldhaft geweigert, an einer psychiatrischen Abklärung in B.________ mitzuwirken. Eine solche sei vielmehr wegen ihrer krankhaften Persönlichkeit nicht zu Stande gekommen. Abgesehen davon sei kein stichhaltiger Grund ersichtlich, weshalb die Begutachtung am Ort der mit der Abklärung befassten IV-Stelle und nicht in der Nähe des Wohnortes der Versicherten zu erfolgen habe. Unter den gegebenen Umständen erscheine die Weigerung der IV-Stelle, einen Gutachter in A.________ zu bestellen, als unverhältnismässig. Das kantonale Gericht verpflichtete diese daher, einen Gutachter in A.________ oder, falls die Versicherte ihre Gefängnisstrafe noch nicht abgesessen hat, einen solchen in der Nähe der Strafanstalt zu bestimmen.
 
4.2 Die Beschwerde führende IV-Stelle bringt dagegen im Wesentlichen vor, die Verantwortung für die Durchführung des Abklärungsverfahrens liege bei der Verwaltung. Aufgrund der zur Verfügung stehenden medizinischen Unterlagen und der beim regionalärztlichen Dienst eingeholten Stellungnahme habe der Gesundheitszustand der Versicherten eine Begutachtung in B.________ samt der damit verbundenen Reise zugelassen. Zudem sei der Verwaltung nicht zumutbar, die medizinischen Abklärungen dem steten Wohnortwechsel der Versicherten anzupassen.
 
5.
 
5.1 Nach dem Wortlaut von Art. 43 Abs. 3 ATSG liegt eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nur dann vor, wenn sie in unentschuldbarer Weise erfolgt ist. Sie muss somit schuldhaft sein (vgl. auch Art. 73 IVV). Dies ist dann der Fall, wenn kein Rechtfertigungsgrund erkennbar ist oder sich das Verhalten der versicherten Person als völlig unverständlich erweist (Kieser, ATSG-Kommentar, N 39 zu Art. 43). Gemäss forensisch-psychiatrischem Gutachten des Dr. med. G.________ vom 27. April 2001 konnte wegen des manisch-psychotischen, angetriebenen Zustandes der Versicherten im Zeitpunkt der Untersuchung nicht mit Sicherheit beurteilt werden, ob sie an einer chronischen oder rezidivierenden manischen (ICD-10 F30.9), schizophrenen (ICD-10 F20.9) oder schizoaffektiven Psychose (ICD-10 F25.0) oder an einer Borderlinestörung (ICD-10 F60.8) leidet. Sicher konnte eine Kokainabhängigkeit festgestellt werden (ICD-10 F14). Laut Bericht des IFPD vom 30. November 2003 liegt eine komplexe psychiatrische Problematik vor mit Impulskontrollstörung (IDC-10: F63.8), ADHD (ICD-10 F90.0), atypischer Bulimia nervosa (ICD-10 F50.3) sowie Kokain- und Cannabismissbrauch (ICD-10 F12.1, F14.1). Dr. med. S.________ stellte im Bericht vom 27. Mai 2004 als Hauptdiagnose: Borderline mit selbst- und fremdagressivem Verhalten, differenzialdiagnostisch: schizotypische Störung, Schizophrenie und Verdacht auf ADHD bei einer erwachsenen Patientin. Bereits am 14. Mai 2004 hatte er die Durchführung der Untersuchung in A.________ beantragt. Mit Schreiben vom 14. März und 10. Mai 2005 bestätigte der behandelnde Arzt, dass der Versicherten eine Reise nach B.________ auf einen bestimmten Termin hin krankheitsbedingt nicht ohne weiteres möglich sei. Laut FPD ist ihr eine Begutachtung in B.________ zwar zumutbar, doch stellt dies für sie eine nicht mit normalem Massstab zu beurteilende Belastung und Herausforderung dar. Aufgrund der bisher gescheiterten Versuche müssten die damit verbundenen Anstrengungen als zu hoch eingestuft werden (vgl. die Schreiben des FPD vom 3. Oktober und 8. September 2005).
 
5.2 Aufgrund der medizinischen Unterlagen wäre der Versicherten eine Reise nach B.________ von der körperlichen und geistigen Verfassung her zwar grundsätzlich möglich und zumutbar. Ihre Weigerung, sich am Ort der befassten IV-Stelle und nicht an ihrem Wohnort begutachten zu lassen, ist indessen entschuldbar, da sie nicht in einem ihr vorzuwerfenden Verschulden gründet, sondern in ihrer krankhaften Persönlichkeit. Es ist zudem anzunehmen, dass die Exploration zusätzlich erschwert würde, wenn man sie zwingen würde, sich von einem in B.________ praktizierenden Arzt untersuchen zu lassen. Die IV-Stelle hat das Leistungsbegehren daher zu Unrecht gestützt auf Art. 43 Abs. 3 ATSG abgewiesen, zumal sie keine überzeugenden Argumente vorzubringen vermag, weshalb angesichts der konkreten Umstände des vorliegenden Falles nicht ausnahmsweise ein Arzt am Wohnort der Versicherten mit dem Gutachten betraut werden kann. Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung erweist sich die vorinstanzliche Rückweisung zur Anordnung einer Begutachtung in der Nähe des aktuellen Wohnortes der Versicherten daher weder als unverhältnismässig noch als unrechtmässiger Eingriff in das Ermessen der Verwaltung.
 
6.
 
Die durch eine Institution der öffentlichen Sozialhilfe vertretene obsiegende Versicherte hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (BGE 126 V 11).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 30. Januar 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
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