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Informationen zum Dokument  BGer 6P.131/2006  Materielle Begründung
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BGer 6P.131/2006 vom 24.01.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6P.131/2006
 
6S.288/2006 /rom
 
Urteil vom 24. Januar 2007
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Zünd, Mathys,
 
Gerichtsschreiber Borner.
 
Parteien
 
D.B.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Luzius Stamm,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
6P.131/2006
 
Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo",
 
6S.288/2006
 
Strafzumessung (BetmG-Widerhandlung, Geldwäscherei etc.),
 
Staatsrechtliche Beschwerde (6P.131/2006) und Nichtigkeitsbeschwerde (6S.288/2006) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 6. April 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
D.B.________ wurde am 4. April 2002 wegen qualifizierter und mehrfacher einfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 1 in Verbindung mit Ziff. 2 lit. b und c sowie Art. 19a Ziff. 1 BetmG) zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten und einer Busse von Fr. 30'000.-- verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.
 
Dieser Verurteilung liegt im wesentlichen zugrunde, dass D.B.________ von Ende 1996 bis 24. Oktober 2000 in einer Indoor-Anlage Hanfkraut zur Gewinnung von Betäubungsmitteln angebaut, zu Betäubungsmitteln verarbeitet und verkauft hatte.
 
B.
 
Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte D.B.________ am 6. April 2006 zweitinstanzlich wegen qualifizierter und mehrfacher einfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Ziff. 1 in Verbindung mit Ziff. 2 lit. b und c sowie Art. 19a Ziff. 1 BetmG) zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 18 Monaten und Fr. 10'000.-- Busse teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil vom 4. April 2002. Dessen bedingten Strafvollzug widerrief es nicht, doch verwarnte es den Verurteilten und verlängerte die damals bestimmte Probezeit um 2 Jahre. Zudem zog es den widerrechtlich erzielten Drogenerlös im Betrag von Fr. 30'000.-- ein und verfügte, dass der gestützt auf § 85 Abs. 1bis StPO/AG beschlagnahmte Betrag von Fr. 63'360.-- nach Abzug der ausgefällten Busse für die erst- und zweitinstanzlichen Verfahrenskosten verwendet werde und ein allfälliger Restbetrag zu Handen des Staates zur Sicherung weiterer Prozess- und Verfahrenskosten beschlagnahmt bleibe.
 
C.
 
D.B.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
 
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet (act. 5). Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen (act. 14).
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG bzw. nach BStP (Art. 132 Abs. 1 BGG).
 
I. Staatsrechtliche Beschwerde
 
2.
 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, der beschlagnahmte Betrag dürfe nicht vollumfänglich zur Deckung der Busse und der Verfahrenskosten verwendet werden. Der Betrag von Fr. 19'720.-- sei freizugeben, da dieser nicht ihm, sondern seiner Lebenspartnerin zustehe.
 
Zur Ergreifung der staatsrechtlichen Beschwerde ist nur legitimiert, wer durch einen Entscheid in seinen eigenen rechtlich geschützten Interessen betroffen ist (Art. 88 OG; BGE 129 II 297 E. 2.1; 126 I 43 E. 1a). Da der Beschwerdeführer nicht eigene Interessen, sondern Interessen seiner Lebenspartnerin geltend macht, kann auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden.
 
II. Nichtigkeitsbeschwerde
 
3.
 
Am 1. Januar 2007 ist der revidierte Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches in Kraft getreten. Die neuen Bestimmungen sind hier aber noch nicht von Bedeutung, da das Bundesgericht im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nur prüft, ob das kantonale Gericht das eidgenössische Recht richtig angewendet hat (aArt. 269 Abs. 1 BStP), mithin das Recht, welches im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Urteils noch gegolten hat (BGE 129 IV 49 E. 5.3 S. 51 f.).
 
4.
 
Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ist rein kassatorischer Natur. Sie führt im Falle der Gutheissung zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Rückweisung der Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz (aArt. 277ter Abs. 1 BStP), nicht aber zu einem Entscheid des Bundesgerichts in der Sache selbst. Soweit der Beschwerdeführer seinen Antrag dahin verstehen sollte, dass das Bundesgericht die Strafe auf zwei Monate festsetze, wäre darauf nicht einzutreten (vgl. BGE 132 IV 20 E. 3.1.1; 129 IV 276 E. 1.2, mit Hinweis).
 
5.
 
Die Beschwerde richtet sich im Übrigen einzig gegen die Strafzumessung; das angefochtene Urteil ist daher vom Bundesgericht allein unter diesem Gesichtspunkt zu überprüfen (BGE 132 IV 20 E. 3.1.2 S. 23 f.).
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die meisten der im angefochtenen Urteil geahndeten Delikte habe er begangen, bevor er vom Bezirksgericht Baden am 4. April 2002 wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten verurteilt worden sei. Die Vorinstanz habe indessen die Regeln der retrospektiven Konkurrenz unzureichend angewendet. Sie habe ihn in Verletzung von aArt. 68 Ziff. 2 StGB strenger bestraft, als wenn alle Straftaten gemeinsam beurteilt worden wären. Überdies habe sie die Strafe vom 4. April 2002 unzulässigerweise straferhöhend berücksichtigt.
 
6.
 
Hat jemand durch eine oder mehrere Handlungen mehrere Freiheitsstrafen verwirkt, so verurteilt ihn der Richter zu der Strafe der schwereren Tat und erhöht deren Dauer angemessen (aArt. 68 Ziff. 1 StGB). Dieses für den Täter im Vergleich zu einer unabhängigen Beurteilung der einzelnen Taten relativ günstige Prinzip der Strafschärfung findet auch Anwendung, wenn der Richter Taten zu beurteilen hat, die der Täter begangen hat, bevor er wegen einer andern Tat zu Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. In einem solchen Fall bestimmt der Richter die Strafe so, dass der Täter nicht schwerer bestraft wird, als wenn die mehreren strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären (aArt. 68 Ziff. 2 StGB; retrospektive Konkurrenz). Der Richter hat sich dabei zu fragen, welche Strafe er im Falle einer gleichzeitigen Beurteilung ausgesprochen hätte; von diesem gedanklich zu bestimmenden Strafmass bringt er die schon rechtskräftig beurteilte Strafe in Abzug und bestimmt so die auszufällende Zusatzstrafe (BGE 109 IV 90 E. 2d S. 93).
 
Hat der Richter Straftaten zu beurteilen, die der Täter teils vor und teils nach einer früheren Verurteilung begangen hat, liegt mithin auf der einen Seite retrospektive Realkonkurrenz vor, auf der anderen eine neue Tat, so ist eine Gesamtstrafe auszusprechen, teilweise als Zusatzstrafe zum früheren Urteil. Dabei ist zunächst hypothetisch zu bestimmen, welches Strafmass für die vor der Verurteilung begangenen Straftaten zusammen mit den abgeurteilten Taten ausgefällt worden wäre. Davon ist die schon ausgesprochene Strafe in Abzug zu bringen, woraus sich die hypothetische Zusatzstrafe ergibt. Alsdann ist die Strafe für die nach der Verurteilung begangene Tat zu bestimmen. Für die Bildung der Gesamtstrafe, welche teilweise Zusatzstrafe zur früheren Verurteilung bildet, ist schliesslich von der schwereren Tat (oder Tatgruppe) als Grundstrafe auszugehen und diese für die jeweils andere gemäss aArt. 68 Ziff. 1 StGB angemessen zu erhöhen (BGE 69 IV 54 E. 4; 115 IV 17 E. 5b/bb; vgl. BGE 116 IV 14 und 129 IV 113 E. 1.1 mit Hinweisen).
 
7.
 
Die Vorinstanz hat zunächst zutreffend festgehalten, dass die vor der Verurteilung vom 4. April 2002 begangenen und mit dieser noch nicht abgeurteilten Straftaten schwerer wiegen als diejenigen nach dieser Verurteilung, womit für jene die Grundstrafe zu bestimmen ist, welche für die nach der Verurteilung begangenen Delikte angemessen zu erhöhen ist. Als Grundstrafe, zugleich Zusatzstrafe zur Verurteilung vom 4. April 2002, ermittelte die Vorinstanz eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten, welche sie aufgrund der nach der Verurteilung begangenen Delikte auf 18 Monate erhöhte. Insoweit ist das vorinstanzliche Vorgehen methodisch nicht zu beanstanden. Methodische Bedenken weckt demgegenüber die Ermittlung der Grundstrafe. Diese wäre unter Abzug der am 4. April 2002 ausgefällten Strafe aus einer hypothetisch zu bildenden Gesamtstrafe für die schon beurteilten und die neuen Delikte zu bestimmen gewesen. Die Vorinstanz beschränkt sich indessen auf einen Vergleich der früheren Straftaten mit den neuen, und führt aus, für die nach Oktober 2000 (Einschreiten der Behörden) begangenen Taten könne dem Beschwerdeführer die zögerliche Haltung der Behörden bei der Strafverfolgung nicht mehr zugute gehalten werden. Zwar sei die Betäubungsmittelmenge kleiner als damals gewesen, doch handle es sich im Vergleich zu jenen gemäss dem ersten Verfahren keinesfalls um bloss untergeordnete Delikte. Zugute zu halten sei dem Beschwerdeführer immerhin, dass aufgrund der finanziellen Engpässe die Verlockung gross gewesen sei, die Anfrage nach Hanflieferungen anzunehmen, wobei es jedoch nicht angehe, den Behörden ein Mitverschulden zu unterstellen, weil sie den beschlagnahmten Hanf nicht vernichten liessen. Eine Strafe von 16 Monaten sei daher dem Verschulden angemessen und als Zusatzstrafe zum Urteil vom 4. April 2002 festzulegen, alsdann um zwei Monate für die danach begangenen Delikte zu erhöhen.
 
Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, dass die Vorinstanz die Zusatzstrafe nicht als Teil einer hypothetischen Gesamtstrafe, sondern davon losgelöst, nur im Vergleich zu den schon abgeurteilten Delikten, bestimmt und so das für den Straftäter günstige Asperationsprinzip ausser Acht gelassen hat. Zur Gewissheit verdichtet sich dieser Eindruck dadurch, dass dem Beschwerdeführer die einschlägige Vorstrafe, nämlich das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 4. April 2002, straferhöhend vorgehalten wird. Eine Vorstrafe liegt aber nur für die nach dieser Verurteilung begangenen Taten vor und könnte bezüglich dieser in Rechnung gestellt werden. Die Vorinstanz bezieht die straferhöhende Berücksichtigung der einschlägigen Vorstrafe aber auf die gesamte Strafzumessung (angefochtenes Urteil, Ziff. 3.4.2, S. 15 unten) und macht damit klar, dass sie gedanklich nicht eine Gesamtstrafe für die vor dem Urteil vom 4. April 2002 begangenen Delikte gebildet und hiervon die schon ausgesprochene Strafe in Abzug gebracht, sondern die beiden Strafen kumuliert hat. Damit aber hat sie die Strafe nicht nach den Grundsätzen der retrospektiven Konkurrenz bemessen, sondern ist von diesen zu Lasten des Beschwerdeführers abgewichen.
 
8.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist damit gutzuheissen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zu neuer Entscheidung zurückzuweisen.
 
III. Kosten
 
9.
 
Die Kosten des Verfahrens der staatsrechtlichen Beschwerde sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (aArt. 156 Abs. 1 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann aufgrund der Aussichtslosigkeit des Begehrens (aArt. 152 OG) nicht gutgeheissen werden. Doch ist bei der Kostenauflage der finanziellen Situation des Beschwerdeführers Rechnung zu tragen.
 
Da der Beschwerdeführer im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde obsiegt, hat er auch keine Kosten zu tragen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist gegenstandslos und dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist eine angemessene Entschädigung aus der Bundesgerichtskasse auszurichten (aArt. 278 Abs. 2 und 3 BStP).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.
 
2.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 6. April 2006 aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
3.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist, abgewiesen.
 
4.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 800.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
5.
 
Der Vertreter des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.
 
6.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 24. Januar 2007
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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