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Informationen zum Dokument  BGer I 63/2006  Materielle Begründung
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BGer I 63/2006 vom 18.01.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 63/06
 
Urteil vom 18. Januar 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Borella, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Kernen,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
Parteien
 
R.________, 1945, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Fürsprecherin Christine von Fischer,
 
Zentralplatz 51, 2501 Biel,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 14. Dezember 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
R.________, geboren 1945, meldete sich am 13. Februar 2004 unter Hinweis auf Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung an und beantragte die Zusprechung einer Rente. Die IV-Stelle Bern holte einen Bericht des Hausarztes Dr. med. S.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 29. Juni 2004 ein und liess die Versicherte interdisziplinär durch Dr. med. L.________, Innere Medizin und Rheumaerkrankungen FMH, sowie Dr. med. H.________, Psychiatrie Psychotherapie FMH, untersuchen (Gutachten vom 22. März 2005). Des Weiteren klärte sie die Einschränkungen im Haushalt ab (Bericht vom 28. April 2005). Mit Verfügung vom 5. Mai 2005 und Einspracheentscheid vom 18. Juli 2005 lehnte sie das Rentengesuch mangels rentenbegründender Invalidität ab (Invaliditätsgrad: 14 %).
 
B.
 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. Dezember 2005 ab.
 
C.
 
R.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr eine Invalidenrente zuzusprechen, eventualiter seien zur Feststellung des Invaliditätsgrades ergänzende Untersuchungsmassnahmen durchzuführen.
 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw. 1.2).
 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Gericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Gericht hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Gericht hängig war, richtet sich die Kognition noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG), zur Invaliditätsbemessung bei Teilerwerbstätigen nach der gemischten Methode (Art. 28 Abs. 2ter IVG), zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen; vgl. auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) sowie zum Beweiswert von medizinischen Berichten (BGE 125 V 352 Erw. 3, 122 V 160 Erw. 1c mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
3.
 
Streitig ist, in welchem Umfang die Beschwerdeführerin noch arbeitsfähig ist. Sie macht geltend, Verwaltung und Vorinstanz hätten diesbezüglich zu Unrecht auf das Gutachten des Dr. med. L.________ vom 22. März 2005 abgestellt.
 
4.
 
4.1 Nach einlässlicher und sorgfältiger Würdigung der medizinischen Akten ist die Vorinstanz zum Schluss gelangt, dass mit der Verwaltung auf das von der IV-Stelle in Auftrag gegebene Gutachten abzustellen sei. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringen lässt, vermag an dieser zutreffenden Beurteilung nichts zu ändern.
 
4.2 Zunächst wird bemängelt, der Gutachter habe zur Begründung seiner Einschätzung der Arbeitsfähigkeit auf 65-70 % lediglich angeführt, es sei ihm schwer gefallen, eine relevante Einschränkung zu formulieren. Diese Aussage bezog Dr. med. L.________ auf die Tatsache, dass bei der Beschwerdeführerin in der angestammten, weiterhin - mit Einschränkungen - zumutbaren kaufmännischen Tätigkeit schon seit bald zwei Jahren (gemäss Bericht des Hausarztes Dr. med. S.________ vom 29. Juni 2004 seit 19. Mai 2003) eine vollständige Arbeitsunfähigkeit attestiert worden war, was unterdessen zur Kündigung des Anstellungsverhältnisses durch den Arbeitgeber geführt habe. Der Gutachter selber konnte dies aufgrund der objektivierbaren somatisch-pathologischen Befunde nicht nachvollziehen. Er stellte die Diagnose einer Systemaffektion mit axialem und peripherem Gelenksbefall bei anamnestisch cervicospondylogenem Syndrom, chronischem lumbospondylogenem Syndrom, Fingerpolyarthrose und mässiggradiger Gonarthrose, mit dringendem Verdacht allerdings auf das Vorliegen eines autonomen Hyperparathyreoidismus, der grundsätzlich mit axialen Arthralgien vergesellschaftet verlaufen und auch zu arthritischen Veränderungen führen könne, wie sie etwa in der magnetresonanztechnischen Darstellung des linken Handgelenks dokumentiert worden sei. Die von der Versicherten ausgeübte Tätigkeit als kaufmännische Angestellte entspreche einem leichtgradig körperlich belastenden Arbeitsprofil, welches mit einer Einschränkung von maximal 30-35 % bewältigt werden könne. Nicht mehr zumutbar seien dagegen mässig- bis schwergradig körperlich belastende Arbeiten sowie solche, die verbunden seien mit dem repetitiven beruflichen Bewegen von Gewichten über 10 bis 15 kg. Unter idealen Arbeitsplatzbedingungen - klimatisierter Raum, wechselbelastende Tätigkeit sitzend, stehend und gehend, keine repetitiv zurückzulegenden Gehdistanzen von mehr als 300 m - und nach Durchführung von therapeutischen Massnahmen bestehe sogar eine maximale Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 15-20 %.
 
4.3 Der Gutachter hat seine Einschätzung damit schlüssig und nachvollziehbar begründet, weshalb die diesbezügliche Kritik der Beschwerdeführerin nicht stichhaltig ist. Demgegenüber stützen sich Dr. med. C.________ und Dr. med. S.________ in ihren Berichten vom 1. beziehungsweise 2. Juni 2005 im Wesentlichen auf die subjektiven Schmerzangaben der Versicherten. Des Weiteren haben die beiden Ärzte auch ihre "realistisch einschätzbare" Chance, eine neue Stelle zu finden, berücksichtigt. Beide Kriterien sind jedoch nach der Rechtsprechung für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit nicht massgebend. Vielmehr ist nach einem weitgehend objektivierten Massstab zu prüfen, ob und inwiefern der versicherten Person trotz ihres Leidens die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit auf dem ihr nach ihren Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozial-praktisch zumutbar und für die Gesellschaft tragbar sei (BGE 127 V 298 Erw. 4c). Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarkts ist ein theoretischer und abstrakter Begriff, welcher dazu dient, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen. Der Begriff umschliesst einerseits ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach Stellen; anderseits bezeichnet er einen Arbeitsmarkt, der von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger Stellen offen hält. Nach diesen Gesichtspunkten bestimmt sich im Einzelfall, ob die invalide Person die Möglichkeit hat, ihre restliche Erwerbsfähigkeit zu verwerten, und ob sie ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen vermag oder nicht (BGE 110 V 276 Erw. 4b; ZAK 1991 S. 320 Erw. 3b).
 
Mit Blick darauf, dass somit nicht die aktuelle Arbeitsmarktsituation massgebend ist, sondern ein hypothetischer, ausgeglichener Arbeitsmarkt, kann auf die Bedenken der behandelnden Ärzte nicht abgestellt werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Beschwerdeführerin trotz ihrer gesundheitlichen Probleme eine Stelle finden könnte.
 
5.
 
5.1 Der Einwand, dass ein Arbeitgeber auch im Rahmen des zumutbaren Teilzeitpensums auf die Beschwerden der Versicherten Rücksicht nehmen muss, ist indessen durchaus in Betracht zu ziehen; zwar nicht bei der Frage der Arbeitsfähigkeit, jedoch beim leidensbedingten Abzug vom hypothetischen Invalideneinkommen, welches hier gestützt auf die Tabellenlöhne gemäss der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) zu ermitteln ist, nachdem die Beschwerdeführerin keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht (BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1; 126 V 76 Erw. 3b/aa mit Hinweisen). Ebenfalls zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang das Alter der 1945 geborenen Versicherten (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5 und 6).
 
5.2 In erwerblicher Hinsicht hat sich die Verwaltung auf die Angaben der vormaligen Arbeitgeberin vom 9. März 2004 gestützt, wonach die Beschwerdeführerin im Jahr 2004 für ein 80 %-Pensum Fr. 4647.- pro Monat beziehungsweise Fr. 60'411.- jährlich verdient hätte. Dieses Valideneinkommen ist unbestritten geblieben. Dem hat die IV-Stelle, ausgehend vom gleichen Lohn, ein Invalideneinkommen von Fr. 50'971.80, entsprechend einem Pensum von 67,5 %, gegenübergestellt, was zu einer Einkommenseinbusse von 16 % führt. Die Vorinstanz hat diesen Einkommensvergleich bestätigt. Indessen ist, wie bereits ausgeführt (Erw. 5.1), das Invalideneinkommen anhand von Tabellenlöhnen zu ermitteln. Massgebend ist dabei der Zentralwert (Total) im privaten Sektor gemäss LSE 2004, Tabelle TA1 (S. 53), Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt), welcher sich auf Fr. 4870.- beläuft (bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden). Umgerechnet auf die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,6 Stunden (Die Volkswirtschaft, 2005 Heft 12, S. 94, Tabelle B 9.2) ergibt sich ein Monatslohn von Fr. 5065.- für ein 100 %-Pensum beziehungsweise Fr. 3419.- im Monat oder Fr. 41'025.- im Jahr für das von der Verwaltung angenommene Pensum von 67,5 %. Dieses Einkommen ist um einen leidensbedingten Abzug zu reduzieren, wobei 15 % als angemessen erscheinen. Daraus ergibt sich ein Invalideneinkommen von 34'871.-. Verglichen mit dem Valideneinkommen von Fr. 60'411.- resultiert ein Invaliditätsgrad von 42 % (vgl. zur Rundung des Invaliditätsgrades BGE 130 V 121).
 
5.3 Rechtsprechungsgemäss ist die Invalidität ausschliesslich nach den Grundsätzen für Erwerbstätige, somit nach Art. 16 ATSG, zu bemessen, wenn die versicherte Person - wie im vorliegenden Fall - als Gesunde ein Teilzeitpensum versehen hat, ohne die dadurch frei werdende Zeit für die Tätigkeit in einem Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002; ab 1. Januar 2003: Art. 8 Abs. 3 ATSG) zu verwenden (BGE 131 V 51). Daher hat nicht mit Verwaltung und Vorinstanz die gemischte Methode, sondern die Einkommensvergleichsmethode zur Anwendung zu gelangen. Auf die von der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem Abklärungsbericht Haushalt vorgebrachten Rügen ist deshalb nicht weiter einzugehen. Damit hat die Versicherte Anspruch auf eine Viertelsrente.
 
5.4 Der Rentenbeginn ist gestützt auf die Angaben des Hausarztes Dr. med. S.________ vom 29. Juni 2004 und des Gutachters Dr. med. L.________ auf Mai 2004 festzusetzen (Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14. Dezember 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 18. Juli 2005 aufgehoben mit der Feststellung, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Mai 2004 Anspruch auf eine Viertelsrente hat.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über die Parteikosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses neu befinden.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 18. Januar 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:
 
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