VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6S.77/2006  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6S.77/2006 vom 17.08.2006
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6S.77/2006 /hum
 
Sitzung vom 17. August 2006
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Karlen, Zünd,
 
Gerichtsschreiber Borner.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Vischer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8090 Zürich.
 
Gegenstand
 
Verminderte Zurechnungsfähigkeit (Art. 11 und 13 StGB),
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer,
 
vom 24. November 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 24. November 2005 wegen versuchten Raubes (Art. 140 Ziff. 4 StGB), falscher Anschuldigung, Vergehens gegen das Waffengesetz, Hausfriedensbruchs, mehrfachen Missbrauchs von Ausweisen und Schildern, mehrfachen Fahrens ohne Führerausweis, mehrfachen Lenkens eines Motorfahrzeugs ohne Versicherungsschutz sowie Missbrauchs und Verschleuderung von Militärmaterial zu 6 ½ Jahren Zuchthaus. Es verpflichtete ihn, dem Opfer des versuchten Raubüberfalls eine Genugtuung von Fr. 15'000.-- zu zahlen, und erklärte ihn für den Vorfall auch schadenersatzpflichtig.
 
B.
 
X.________ führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Einholung eines psychiatrischen Gutachtens und zu neuerlicher Strafzumessung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Das Obergericht hat auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet (act. 4).
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Im vorinstanzlichen Verfahren hatte der Beschwerdeführer beantragt, über seine Zurechnungsfähigkeit sei ein psychiatrisches Gutachten zu erstellen.
 
Die Vorinstanz lehnte den Antrag ab, im Wesentlichen mit folgender Begründung: Die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer den Tatablauf vorgängig notiert habe, weise nicht zwingend auf eine psychische Auffälligkeit hin. Sie könne durchaus auch als Indiz für eine kühle Planung des Raubüberfalls gewertet werden. Auch die grosse Nervosität und Ambivalenz während der Tatausübung sei - vor allem für Ersttäter - nicht untypisch, ebenso wie sein wiederholtes Zögern, welches mehr noch aufzeige, dass der Beschwerdeführer immer wieder von neuem den Entschluss zu einem weiteren Schritt zur Tatverwirklichung habe fassen müssen. Sein Verhalten unterscheide sich somit nicht signifikant von demjenigen anderer Täter in ähnlichen Situationen. Es sei nicht zu verkennen, dass er während der Tatausführung zunehmend in Stress geraten sei und Mühe bekommen habe, Herr der Lage zu bleiben. Diese Situation sei aber selbstverschuldet und unter dem Aspekt der verminderten Zurechnungsfähigkeit unbeachtlich. Das Tatmotiv - Geldmangel - sei ein ebenfalls logisch gut nachvollziehbares, wenn auch nicht entschuldbares. Mit dem ursprünglich geplanten erpresserischen Bankomatbezug hätte der Beschwerdeführer einen beachtlichen Geldbetrag erlangen können, welcher zur Deckung seiner Mietschulden gereicht hätte. Auch aus dem Umstand, dass er den Raubversuch in militärischem Aufzug begangen habe, könne noch nicht auf eine psychische Auffälligkeit geschlossen werden, sei doch die Uniform eigentlich Voraussetzung dafür gewesen, dass er ohne Aufsehen zu erregen sein Militärgewehr habe mitführen können. Der Einsatz des Gewehres - in welcher Art auch immer - sei wesentlicher Teil des geplanten Tatablaufs gewesen. Das Aufschreiben des Tatplans im militärischen Dienstreglement sei mangels kurzfristiger Verfügbarkeit eines anderen Papiers erfolgt. Der geplante Tatort bei militärischen Anlagen habe ebenfalls aus rein praktischen Gründen ein militärisches Outfit nahe gelegt (angefochtener Entscheid S. 8 f. Ziff. 3).
 
2.
 
Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass es keinen einzelnen Umstand in der Tatausführung gibt, der für sich allein zwingend eine psychische Auffälligkeit des Beschwerdeführers nahelegen würde. Nun gibt es aber mehrere zumindest sonderbare Verhaltensweisen bei der Tatausführung wie auch Auffälligkeiten in seiner jüngeren Biographie, die in ihrer Gesamtheit Zweifel an seiner vollen Schuldfähigkeit erwecken.
 
2.1 Am fraglichen Nachmittag erkundigte sich der Beschwerdeführer beim regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) nach Geld, das er erwartet hatte, um die Miete von ca. Fr. 1'000.-- bezahlen zu können. Da er einen abschlägigen Bescheid erhielt, entschloss er sich um ca. 16.00 Uhr, einen Taxifahrer zu überfallen und zu berauben. Auf der letzten Seite des militärischen Dienstreglements schrieb er auf, welche Utensilien er bei der Tatausführung allenfalls benötigen werde und auf einem Zettel hielt er stichwortartig den Tatablauf fest. Ziffer 3 lautete: "Auftrag beenden ..." (act. 4.8/2 und 4.8/3).
 
Bevor er die gemeinsame Wohnung verliess, teilte er seiner Freundin mit, dass er nicht ohne Geld nach Hause kommen werde. Auf der Zugsfahrt nach Zürich wurde er immer nervöser und seine Beine zitterten. Nach seiner Ankunft im Hauptbahnhof (00.17 Uhr) überprüfte er beim Geldautomaten der Crédit Suisse seinen Kontostand und stellte fest, dass nach wie vor kein Geld vom Arbeitsamt überwiesen worden war. Oben beim Treffpunkt rauchte er 2 - 3 Zigaretten und ging dann zu Fuss via Central der Limmat entlang und über die Rudolf-Brun- Brücke zurück zum Hauptbahnhof, wo er um ca. 00.40 Uhr beim Taxistand eintraf.
 
Dort rauchte er Zigaretten und unterhielt sich mit vier Taxifahrern. Da alle nett mit ihm waren, dachte er eigentlich gar nicht mehr an den Überfall und wollte nur noch nach Hause. Um ca. 01.15 Uhr fuhr er im Taxi des nachmaligen Opfers los Richtung Dietikon. Er zitterte und trug sich erneut mit dem Gedanken, den geplanten Raub durchzuführen. In Schlieren/Dietikon wies er den Taxifahrer an, zum Schützenhaus Reppischtal zu fahren.
 
Beim Schützenhaus stieg er aus, spitzte das Magazin seines Sturmgewehrs ab und setzte es ein. Dabei hoffte er, der Taxifahrer werde das Geld herausgeben, wenn er mit der Waffe in der Hand sagen würde, dies sei ein Überfall. Der Beschwerdeführer wurde jedoch immer nervöser, zitterte und wollte den Überfall eigentlich nicht mehr machen. Deshalb tat er so, als suchte er im Effektensack nach dem Fahrgeld, und polterte dann gegen die Fensterläden des Schützenhauses, um angeblich schlafende Militärkameraden zu wecken, die das Fahrgeld hätten vorschiessen können. Schliesslich notierte er auf dem Schreibblock des Taxifahrers seine Personalien, wobei er einen falschen Nachnamen und als Wohnadresse diejenige seiner Mutter angab.
 
In der Folge kam ihm wieder in den Sinn, dass er seiner Freundin versprochen hatte, nicht ohne Geld nach Hause zu kommen, und er hatte Angst, seine Freundin zu verlieren, wenn er die Wohnungsmiete nicht würde bezahlen können (act. 4.1/8 S. 8 und 4.1/9 S. 5). Nachdem der Taxifahrer den Notizblock im Auto versorgt hatte und im Begriffe war, wieder auszusteigen, machte der Beschwerdeführer eine Ladebewegung und sagte gleichzeitig: "Sorry, A.________, das isch än Überfall". Als der Taxifahrer in einer heftigen Bewegung seine Arme hob, gab der Beschwerdeführer aus einer Entfernung von 1,5 bis 2 Metern einen Schuss ab, der den linken Oberarm des Opfers durchschlug und den Rücken links streifte.
 
Das Opfer rannte sofort davon und verschwand im Wald. Der Beschwerdeführer blieb in der Nähe des Tatorts. Unter anderem rief er nach dem Geschädigten, er müsse keine Angst haben, und ob er ihn ins Spital bringen solle. Schliesslich stellte er sich unter das Dach eines Aussenbunkers, wo ihn die Polizei etwa vier Stunden später schlafend aufgriff.
 
2.2 Sonderbar erscheint, dass der Beschwerdeführer die Utensilien für den Raubüberfall und den Tatplan zu Papier brachte, um später nochmals nachsehen zu können, wie der Ablauf wäre (angefochtener Entscheid S. 28 Ziff. 7). Geradezu perplex lässt einen die Formulierung der Ziffer 3: "Auftrag beenden ...", als müsste der Beschwerdeführer einen militärischen Befehl ausführen. Völlig widersprüchlich ist auch die Aussage: "Sorry, A.________, das isch än Überfall".
 
Auffallend ist zudem, dass der Beschwerdeführer nichts vorkehrte, um beim geplanten Überfall unerkannt zu bleiben. So unterhielt er sich längere Zeit mit vier Taxifahrern, seinem nachmaligen Opfer schrieb er seinen Vornamen und die Wohnadresse seiner Mutter auf und schliesslich blieb er in unmittelbarer Nähe des Tatorts, wo ihn die Polizei aufgreifen musste.
 
Auch das eingesetzte Mittel - ein bewaffneter Raubüberfall - steht in keinem Verhältnis zum Ziel, die Miete von ca. Fr. 1'000.-- bezahlen zu können. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der Beschwerdeführer in der doch recht langen Zeitspanne vom Entschluss, einen Taxifahrer zu überfallen, um ca. 16.30 Uhr bis zur Tatausführung um ca. 02.30 Uhr keinerlei Überlegungen anstellte, wie er das Geldproblem auf andere Weise hätte lösen können. Offensichtlich machte er sich ebenso wenig Gedanken, welche Folgen seine geplante Tat haben könnte.
 
Mehrmals während der beschriebenen Zeit rückte der Beschwerdeführer von der geplanten Tat ab, doch die Angst, nicht ohne Geld zu seiner Freundin zurückkehren zu dürfen, stimmte ihn immer wieder um. Auffällig ist auch, dass der Beschwerdeführer zur Zeit der obergerichtlichen Verhandlung wieder in Untersuchungshaft war wegen Taten, zu denen ihn sein Arbeitgeber verleitet haben soll, der in seinem Sanitärgeschäft gestohlenes Material verwende.
 
Angesichts der dargestellten Auffälligkeiten im Tatablauf sowie der Hinweise auf eine zumindest unreife Persönlichkeit sind Zweifel an der vollen Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Tatzeitpunkt nicht von der Hand zu weisen, so dass hierüber ein Gutachten hätte angeordnet werden müssen (Art. 13 StGB). Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
 
3.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Sein Rechtsvertreter ist angemessen zu entschädigen. Eine Kostenauflage entfällt (Art. 278 Abs. 2 und 3 BStP).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 24. November 2005 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 17. August 2006
 
Im Namen des Kassationshofes
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).