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Informationen zum Dokument  BGer I 230/2005  Materielle Begründung
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BGer I 230/2005 vom 02.05.2006
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 230/05
 
Urteil vom 2. Mai 2006
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Schmutz
 
Parteien
 
G.________, 1956, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Krummenacher, Brünigstrasse 164, 6060 Sarnen,
 
gegen
 
IV-Stelle Obwalden, Brünigstrasse 144, 6060 Sarnen, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden, Sarnen
 
(Entscheid vom 25. Februar 2005)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die IV-Stelle Obwalden sprach der 1956 geborenen G.________ mit Verfügungen vom 8. November 2000 ab 1. Januar 1999 eine ganze und ab 1. Oktober 2000 eine halbe IV-Rente zu. Im Juli 2001 leitete sie ein Revisionsverfahren ein und holte in diesem Rahmen bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) ein polydisziplinäres Gutachten vom 7. März 2003 ein. Mit Verfügung vom 21. Mai 2003 bestätigte die IV-Stelle bei einem Invaliditätsgrad von 63 % den Anspruch von G.________ auf eine halbe IV-Rente. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 30. September 2003 fest.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden mit Entscheid vom 25. Februar 2005 ab.
 
C.
 
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen. Sie beantragt, es sei ihr unter jeweils teilweiser Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der angefochtenen Verfügung eine ganze Rente zuzusprechen, eventualiter sei die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden und die IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Rentenrevisionsverfahren ist im Juli 2001 eingeleitet worden. Damit ist vorliegend teilweise ein Sachverhalt zu beurteilen, der sich vor dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 verwirklicht hat. Auf Grund dessen, dass der Rechtsstreit eine Dauerleistung betrifft, über welche noch nicht rechtskräftig verfügt wurde, ist entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Regeln für die Zeit bis 31. Dezember 2002 auf die damals geltenden Bestimmungen und ab diesem Zeitpunkt auf die neuen Normen des ATSG abzustellen. Wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, sind die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) nicht anwendbar, denn der Zeitpunkt des Erlasses des Einspracheentscheides bildet rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis (BGE 130 V 445 ff., BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat korrekt begründet, warum von diesem Grundsatz hier nicht abzuweichen ist. Darauf wird verwiesen. Ebenso hat sie die in materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht für die Beurteilung der strittigen Frage der Höhe der zu beanspruchenden IV-Rente massgeblichen Grundlagen zutreffend dargelegt. Auch dazu wird auf die vorinstanzlichen Erwägungen verwiesen.
 
2.
 
Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, das die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz als mangelhaft erscheinen liesse. Zu den gegen den Einspracheentscheid erhobenen Einwänden von Bedeutung hat das kantonale Gericht sich bereits umfassend geäussert.
 
2.1 So hat es zu Recht befunden, dass der zur Beurteilung des Invaliditätsgrades erforderliche Sachverhalt genügend abgeklärt worden ist.
 
2.1.1 Verwaltung und Vorinstanz stützten sich bei ihren Entscheiden auf das polydisziplinäre Gutachten der MEDAS vom 7. März 2003. Darin legten die Experten die Arbeitsfähigkeit der Versicherten in einer Gesamtschätzung auf 50 % der Norm fest. Sie berücksichtigten dabei die Befunde der Konsiliarärzte Dr. med. B.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie, und Dr. med. M.________, Spezialarzt FMH für Rheumatologie und Innere Medizin, (Konsiliarberichte vom 2. und 14. Januar 2003). Der Rheumatologe Dr. med. M.________ diagnostizierte vorab Rückenbeschwerden sowie einen diffusen Armschmerz, der Psychiater Dr. med. B.________ eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte bis mittelgradige Episode. Er hielt dafür, die Versicherte sei in Berücksichtigung ihrer Anamnese und ihres jetzigen psychischen Gesundheitszustandes für jede für sie in Betracht fallende berufliche Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig. Dies bezog sich auf körperlich leichte, möglichst wechselbelastende Arbeiten ohne Tätigkeiten in ständig sitzender, in gehäuft vorgeneigter oder abgedrehter Haltung und ohne Heben von Lasten über 10 Kilogramm sowie ohne ständige repetitive und kraftaufwändige Arbeiten mit dem linken Arm. Für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Bankangestellte wie auch für andere körperlich leichte Beschäftigungen bezeichnete die MEDAS in ihrer Gesamtschätzung der Arbeitsfähigkeit auf 50 % sowohl die psychiatrischen als auch die rheumatologischen Befunde als limitierend.
 
2.1.2 Wie bereits im kantonalen Verfahren bringt die Beschwerdeführerin vor, sie sei aus rein rheumatologischer und rein psychiatrischer Sicht zu je 50 % arbeitsunfähig. Die MEDAS sei einfach davon ausgegangen, dass die Auswirkungen der verschiedenartigen Beschwerden völlig deckungsgleich seien und sich keine zusätzliche Beeinträchtigung durch das Vorliegen zweier völlig unterschiedlicher Leiden ergebe. Eine solche Schlussfolgerung sei zwar beim Vorliegen zweier Leiden verschiedenartiger Genese möglich, jedoch nicht ohne weiteres selbstverständlich. Im MEDAS-Gutachten finde sich keine Begründung, wieso dies im konkreten Fall so sein solle. Es sei nicht ersichtlich (weil nicht begründet) und damit nicht nachvollziehbar, von welchen Überlegungen sich die MEDAS-Gutachter hätten leiten lassen.
 
2.1.3 In Erwägung 6 des angefochtenen Entscheides ist unter Hinweis auf die Rechtsprechung zutreffend dargelegt worden, dass Zweifel an der Schlüssigkeit der medizinischen Beurteilung durch die MEDAS nicht angebracht sind. Nachdem nach Aussage der Konsiliarärzte sowohl aus psychiatrischer wie somatischer Sicht jeweils eine Leistungseinbusse in der Grössenordnung von 50 % resultierte, gelangte die MEDAS in ihrer Gesamtschätzung zum Schluss, dass der Beschwerdeführerin eine leidensangepasste Tätigkeit halbtags zumutbar sei. Wenn die Beschwerdeführerin die Auffassung vertritt, es sei nicht so, dass jede der beiden Einschränkungen in der jeweils anderen aufgehe, so ist ihr darin im Grundsatz insofern zuzustimmen, dass die Frage, ob die betreffenden Erfordernisse psychischer und somatischer Natur deckungsgleich sind oder aber eine je eigenständige Entlastung von einer Tätigkeit bedingen, sich nicht in allgemeiner Weise, sondern nur im Einzelfall beantworten lässt. Hier besteht eine funktionale Einschränkung auf Grund des Rückenleidens mit der Folge, dass die Versicherte auch eine leichte Tätigkeit nur halbtags ausüben kann. Da die rezidivierende depressive Störung einen massgebenden Zusammenhang mit der geklagten Müdigkeit aufweist, wird der aus organischen Gründen notwendige Schonungseffekt auch der psychischen Beeinträchtigung zuteil. Eine Addition der beiden bereichsspezifischen Arbeitsunfähigkeiten kommt somit nicht in Betracht. Die Gesamteinschätzung der MEDAS erscheint damit als schlüssig und von zusätzlichen Sachverhaltsabklärungen war darum abzusehen.
 
2.2 Zur Frage nach einem möglichen Invalideneinkommen bzw. der Eingliederungsfähigkeit sowie Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit bringt die Beschwerdeführerin erneut vor, bei der Arbeit an der Klinik X.________ von Juni 2000 bis Januar 2002 habe es sich um einen Arbeitsversuch gehandelt, der wegen ihrer gesundheitlichen Einschränkungen gescheitert sei. Es ist auf Grund der Akten nicht nachvollziehbar, warum es sich bei diesem zeitlich unbefristet eingegangenen Arbeitsverhältnis - die Versicherte führte alleine das Ärztesekretariat der Klinik - um einen Arbeitsversuch gehandelt haben sollte. Aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin die 50 %-Stelle allenfalls aus gesundheitlichen Gründen verlor, kann nicht abgeleitet werden, dass die im MEDAS-Gutachten attestierte und an geeigneten Arbeitsplätzen verwertbare Arbeitsfähigkeit auf einer falschen Einschätzung beruhte.
 
2.3 Die erneute Forderung, bei der Bemessung des Invaliditätsgrades im Einkommensvergleich als Invalideneinkommen das 2002 im ersten und soweit ersichtlich einzigen Jahr der selbstständigen Erwerbstätigkeit erzielte Einkommen einzusetzen, verkennt die von der Vorinstanz dargelegte Rechtslage. Als Invalideneinkommen ist zu berücksichtigen, was eine versicherte Person durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Marktlage erzielen könnte (vgl. dazu BGE 130 V 348 f. Erw. 3.4 mit Hinweisen). Der von einer invaliden versicherten Person tatsächlich erzielte Verdienst bildet, für sich alleine betrachtet, grundsätzlich kein genügendes Kriterium für die Bestimmung der Erwerbsunfähigkeit und damit des Invaliditätsgrades. Das Mass der tatsächlichen Erwerbseinbusse stimmt mit dem Umfang der Invalidität vielmehr nur dann überein, wenn - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse eine Bezugnahme auf den allgemeinen Arbeitsmarkt praktisch erübrigen, wenn die versicherte Person eine Tätigkeit ausübt, bei der anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und wenn das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn erscheint (Meyer-Blaser, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], in: Murer/Stauffer [Hrsg.], Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Zürich 1997, S. 209 mit Hinweisen). Bei der Beschwerdeführerin ist bereits das Kriterium der besonders stabilen Arbeitsverhältnisse nicht erfüllt.
 
3.
 
3.1 Es ist zum Schluss zu kommen, dass der Beschwerdeführerin ein 50-Prozent-Pensum zumutbar und im Einkommensvergleich beim Invalideneinkommen auf einen Tabellenlohn abzustellen ist. Auf Grund der medizinischen Akten ist jedoch daran zu zweifeln, ob es der Beschwerdeführerin möglich ist, im Rahmen eines solchen Pensums eine volle Leistung zu erbringen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Rücksichten eines Arbeitgebers erforderlich sind, die einen bisher nicht gewährten leidensbedingten Abzug rechtfertigen. Ein leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn im Sinne von BGE 126 V 75 greift praxisgemäss dann Platz, wenn die Versicherte selbst bei leichteren Tätigkeiten erheblich beeinträchtigt ist und somit im Vergleich mit einer voll einsatzfähigen Teilzeitbeschäftigten mit geringeren Einkünften rechnen muss (Urteil M. vom 7. Juli 2003, I 627/02, Erw. 2.1.2 in fine). Die Beschwerdegegnerin hat das Invalideneinkommen nach dem Durchschnittslohn gemäss der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik in der Branche Kredit- und Versicherungsgewerbe (einem Beschäftigungszweig mit einem überdurchschnittlichen Lohnniveau) bestimmt, und hat dabei keinen Abzug vorgenommen. Es ist davon auszugehen, dass die gewählte Tätigkeit Schreibtischarbeit ist. Leidensangepasst sind aber gemäss MEDAS-Gutachten körperlich leichte, möglichst wechselbelastende Arbeiten ohne Tätigkeiten in ständig sitzender Haltung. Dies rechtfertigt es, auf dem auf ein 50 %-Pensum reduzierten statistischen Lohn zusätzlich einen Abzug von 10% vorzunehmen. Damit ergibt sich bei sonst unveränderten Berechnungselementen im Einkommensvergleich ein Invaliditätsgrad von gerundet 67% (BGE 130 V 122 Erw. 3) und somit nach dem im Zeitpunkt des Einspracheentscheides massgebenden Recht (vgl. oben Erw. 1) ein Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.
 
3.2 Da die Rentenrevision von Amtes wegen eingeleitet und per 1. Juli 2001 vorgesehen wurde, erfolgt die Rentenerhöhung gemäss Art. 88bis Abs. 1 lit. b IVV frühestens ab diesem Zeitpunkt. Damals verdiente die Beschwerdeführerin aber in ihrer 50-Prozent-Anstellung in der Klinik am Zürichberg noch einen Jahreslohn von Fr. 39'234.- (Fragebogen für den Arbeitgeber vom 27.Juli 2001). Dieses Einkommen lag über dem im Einkommensvergleich berücksichtigten Tabellenlohn und war zu hoch für den Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Gemäss Art. 88a Abs. 2 IVV (in der bis 29. Februar 2004 gültigen Fassung) ist die den Anspruch auf eine Invalidenrente beeinflussende Änderung bei einer Verschlechterung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen, sobald sie ohne wesentliche Unterbrechung drei Monate angedauert hat. Weil die Beschwerdeführerin die Anstellung in der Klinik am Zürichberg per Ende Januar 2002 aufgeben musste und danach aus ihrer selbstständigen Tätigkeit nur noch ein Einkommen erzielte, das wesentlich unter dem im Einkommensvergleich zu berücksichtigenden Tabellenlohn lag, ist der Zeitpunkt der Rentenerhöhung nach Ablauf der 3-Monats-Frist auf den 1. Mai 2002 festzusetzen.
 
4.
 
Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten ist daher gegenstandslos.
 
Infolge Obsiegens hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist deshalb ebenfalls gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 25. Februar 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Obwalden vom 30. September 2003 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass die Versicherte ab 1. Mai 2002 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente hat.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Obwalden hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Obwalden, der Ausgleichskasse Obwalden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 2. Mai 2006
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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