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Informationen zum Dokument  BGer 1P.67/2006  Materielle Begründung
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BGer 1P.67/2006 vom 29.03.2006
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.67/2006 /gij
 
Urteil vom 29. März 2006
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Féraud, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Nay,
 
Gerichtsschreiber Thönen.
 
Parteien
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten
 
durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
 
Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
Art. 9 und 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Strafverfahren),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 21. Oktober 2005.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ (geb. 1941) wurde mit Strafbefehl des Bezirksamts Brugg vom 14. September 2004 wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 6 km/h zu einer Busse von Fr. 120.-- verurteilt. Das Bezirksamt warf ihm vor, am Freitag, 28. Juni 2002 in Birrhard bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit einer gemessenen Geschwindigkeit von 61 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge 56 km/h) gefahren zu sein. Halterin des Fahrzeugs war die Y.________AG in Lupfig (Aargau), der X.________ bis Ende März 2005 als Verwaltungsratspräsident vorstand.
 
B.
 
X.________ erhob gegen den Strafbefehl Einsprache. Mit Verfügung vom 23. Februar 2005 stellte der Gerichtspräsident 3 am Bezirksgericht Baden das Verfahren wegen Verjährung ein. Er auferlegte X.________ die Gerichtskosten von Fr. 270.--.
 
C.
 
Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung mit Urteil vom 21. Oktober 2005 ab.
 
D.
 
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil des Obergerichts aufzuheben. Staatsanwaltschaft und Obergericht haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die Auferlegung von Verfahrenskosten in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, so dass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 258 E. 1.3), grundsätzlich einzutreten ist.
 
2.
 
2.1 Die Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO/AG) bestimmt über die Verfahrenskosten Folgendes: Das Gericht kann im Falle der Einstellung des Verfahrens die Kosten ganz oder teilweise dem Beschuldigten auferlegen, wenn er durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen die Untersuchung verschuldet oder ihre Durchführung erschwert hat (§ 139 Abs. 3 in Verbindung mit § 164 Abs. 3 StPO/AG).
 
2.2 Das Bezirksgericht begründete den Kostenentscheid unter anderem damit, es sei gemäss den Akten (Radarfoto) eindeutig erwiesen, dass der Beschwerdeführer das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt gelenkt und somit das Verfahren verursacht habe (Verfügung vom 23. Februar 2005). Das Obergericht führt aus, es spiele keine Rolle, wer das Fahrzeug am fraglichen Tag gelenkt habe (angefochtenes Urteil, Ziffer 2.2). Der Beschwerdeführer trage die Verfahrenskosten, weil er durch sein Verhalten das Strafverfahren massiv erschwert habe. Er sei von den Behörden einer SVG-Widerhandlung verdächtigt worden und hätte als damaliger Verwaltungsratspräsident der Y.________AG Auskunft geben können, wer das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt gelenkt habe. Er habe seine Erscheinens-, Anwesenheits- und Mitwirkungspflicht in der Strafuntersuchung nicht beachtet und jegliche Kooperation verweigert.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots. Er bestreitet unter anderem, dass er die Kosten des Verfahrens vor Bezirksgericht verursacht habe. Die Straftat sei bereits verjährt gewesen, als der Strafbefehl erlassen wurde, daher werde der Kausalzusammenhang zwischen einem allfälligen schuldhaften Verhalten und den Kosten des Einspracheverfahrens unterbrochen.
 
3.1 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Nach der Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist; dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 131 I 467 E. 3.1).
 
3.2 Die dem Beschwerdeführer auferlegten Gerichtskosten von Fr. 270.-- bestehen aus einer Gerichtsgebühr von Fr. 200.--, Auslagen von Fr. 30.-- und einer Kanzleigebühr von Fr. 40.-- (Verfügung des Bezirksgerichts vom 23. Februar 2005, Dispositiv-Ziffer 2). Es handelt sich somit um die Kosten des Einspracheverfahrens.
 
3.3 Der Beschwerdeführer wurde aufgrund einer Fotografie einer automatischen Geschwindigkeitsüberwachungsanlage verdächtigt, eine einfache Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Ziff. 1 SVG) begangen zu haben, die als Übertretung (Art. 101 StGB) nach dem damaligen Recht in jedem Fall in zwei Jahren verjährte (absolute Verjährung; Art. 72 Ziff. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 109 StGB in der Fassung von AS 1951, Seite 7 und 9). Die (mutmassliche) Geschwindigkeitsüberschreitung vom 28. Juni 2002 verjährte am 28. Juni 2004, bevor der Strafbefehl vom 14. September 2004 erlassen wurde.
 
3.4 Die Verjährung ist in jedem Verfahrensstadium von Amtes wegen zu berücksichtigen (BGE 116 IV 80 E. 2a). Bei pflichtgemässer Beachtung der Verjährung hätte das Verfahren vor Erlass des Strafbefehls abgeschlossen werden müssen und es wäre nicht zum Einspracheverfahren gekommen. Daher kann nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer habe die Kosten des Einspracheverfahrens vor Bezirksgericht verursacht. Ihn dennoch zur Bezahlung dieser Kosten zu verpflichten, erweist sich als offensichtlich unhaltbar und verletzt das Willkürverbot.
 
4.
 
Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben. Offen bleiben kann unter diesen Umständen, ob das angefochtene Urteil auch die Unschuldsvermutung nach Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verletzt.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Hingegen hat der Kanton Aargau dem obsiegenden Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht
 
im Verfahren nach Art. 36a OG:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 21. Oktober 2005 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 29. März 2006
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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