VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 286/2003  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 286/2003 vom 01.07.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 286/03
 
Urteil vom 1. Juli 2003
 
III. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiber Attinger
 
Parteien
 
S.________, 1948, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin
 
Vorinstanz
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
(Entscheid vom 25. Februar 2003)
 
Sachverhalt:
 
A.a Die 1948 geborene S.________ leidet seit dem 18. Juni 1995 an einer sensomotorisch kompletten Paraplegie unterhalb Th 6. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach ihr mit Verfügung vom 26. Januar 1998 unter Berücksichtigung eines Invaliditätsgrades von 73 % ab 1. Juni 1996 eine ganze Invalidenrente zu. Mit einer weiteren Verfügung vom selben Datum gewährte die IV-Stelle S.________ mit Wirkung ebenfalls ab 1. Juni 1996 eine Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit "mittleren Grades" in der Höhe von Fr. 498.- pro Monat. Dieser Betrag entsprach denn auch dem im Verfügungsformular angegebenen mittleren Hilflosigkeitsgrad, wogegen die IV-Stelle sowohl im der Verfügung beiliegenden Begründungsblatt als auch im Vorbescheid vom 3. November 1997 und in der Mitteilung des "HE/IV-Beschlusses" an die Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 30. Dezember 1997 jeweils festgestellt hatte, es liege eine Hilflosigkeit "leichten Grades" vor. Dass sie irrtümlicherweise eine Entschädigung für den mittleren statt für den geringsten Hilflosigkeitsgrad verfügt und ausgerichtet hatte, realisierte die Verwaltung erst im Januar 2000. Am 18. Oktober 2000 setzte die IV-Stelle die bisher ausgerichtete Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades rückwirkend ab Leistungsbeginn (1. Juni 1996) auf eine solche wegen leichter Hilflosigkeit herab und forderte gleichzeitig von S.________ den zu Unrecht bezogenen Differenzbetrag im Umfange von insgesamt Fr. 11'330.- zurück.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 4. April 2001 in dem Sinne gut, als es die streitige Herabsetzungs- und Rückerstattungsverfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit diese, nach erfolgter Abklärung hinsichtlich des Hilflosigkeitsgrades, über den Anspruch von S.________ auf Hilflosenentschädigung ab 1. Juni 1996 und eine allfällige Rückerstattungspflicht neu verfüge.
 
In Abweisung der von der IV-Stelle erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde änderte das Eidgenössische Versicherungsgericht den vorinstanzlichen Rückweisungsentscheid mit Urteil vom 13. September 2001 dahingehend, dass die Verwaltung auch hinsichtlich der allenfalls zur Diskussion stehenden Wiedererwägungsvoraussetzungen und der dadurch bestimmten Rückerstattungspflicht ergänzende Abklärungen durchzuführen hätte.
 
A.b Gestützt auf einen Bericht über die in der Wohnung von S.________ vorgenommene Abklärung vom 15. April 2002 sprach ihr die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. Mai 2002 rückwirkend ab 1. Juni 1996 nur mehr eine Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zu. Überdies erneuerte die Verwaltung mit Verfügung vom 24. Mai 2002 ihre Rückforderung über Fr. 11'330.- an unrechtmässig bezogenen Differenzbetreffnissen.
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die gegen die Rückforderung erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 25. Februar 2003 ab.
 
C.
 
S.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, es sei von einer Rückforderung abzusehen; eventuell sei die Streitigkeit durch Vergleich zu erledigen.
 
Sowohl die IV-Stelle als auch das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Was die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung dazu entwickelten Grundsätze anbelangt, kann auf die entsprechenden eingehenden Darlegungen sowohl im angefochtenen Entscheid als auch im hievor erwähnten Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 13. September 2001 verwiesen werden.
 
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 24. Mai 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
 
In Abweichung davon sind verfahrensrechtliche Neuerungen mangels gegenteiliger Übergangsbestimmungen mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfang anwendbar (BGE 117 V 93 Erw. 6b, 112 V 360 Erw. 4a; RKUV 1998 Nr. KV 37 S. 316 Erw. 3b). Die im ATSG enthaltenen und die gestützt darauf in den Spezialgesetzen auf den 1. Januar 2003 geänderten Verfahrensbestimmungen gelangen daher gegebenenfalls bereits im vorliegenden Prozess zur Anwendung.
 
2.
 
Im Hinblick auf die von der IV-Stelle am 15. April 2002 durchgeführte Abklärung des Hilflosigkeitsgrades ist nunmehr unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten zu Recht unbestritten, dass der Beschwerdeführerin eine Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zusteht (Art. 36 Abs. 3 lit d sowie lit a IVV; BGE 117 V 149 ff. Erw. 3a und b), wobei sich die diesbezüglichen Gegebenheiten seit Leistungsbeginn (1. Juni 1996) nicht verändert haben. Im eingangs erwähnten, ebenfalls die hier am Recht stehende Versicherte betreffenden Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 13. September 2001 wurde bereits festgestellt, dass der seinerzeitige Fehler der Verwaltung (die [heute als richtig erkannte] Annahme einer bloss leichten Hilflosigkeit führte bei der verfügungsmässigen Umsetzung irrtümlicherweise zur Zusprechung einer Hilflosenentschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades) einen AHV-analogen Gesichtspunkt betraf (BGE 110 V 301 Erw. 2b). Unter diesen Umständen greift grundsätzlich die rückwirkende Leistungsherabsetzung mit daraus resultierender Rückerstattungspflicht hinsichtlich der unrechtmässig bezogenen Differenzbetreffnisse Platz (Art. 85 Abs. 3 IVV; Meyer-Blaser, Die Rückerstattung von Sozialversicherungsleistungen, in: ZBJV 131/1995 S. 473 ff., S. 493 f.). Wie indessen im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt wurde, ist die Rückforderung von zu Unrecht bezogenen Geldleistungen in der Sozialversicherung nur unter den für die Wiedererwägung oder die prozessuale Revision formell rechtskräftiger Verfügungen massgebenden Voraussetzungen zulässig (126 V 23 Erw. 4b, 46 Erw. 2b, 399 Erw. 1). Auf die im vorinstanzlichen Entscheid angeführten Wiedererwägungsvoraussetzungen der zweifellosen Unrichtigkeit und der erheblichen Bedeutung der Berichtigung (BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen) kann ebenfalls verwiesen werden. Schliesslich lässt sich nicht beanstanden, dass IV-Stelle und Verwaltung die Wiedererwägungserfordernisse im vorliegenden Fall bejaht haben. Die ursprüngliche (irrtümlich erfolgte) Zusprechung einer Hilflosenentschädigung wegen mittelschwerer Hilflosigkeit gemäss Verfügung vom 26. Januar 1998 war angesichts des Abklärungsergebnisses vom 15. April 2002 auch materiell zweifellos unrichtig. Ferner ist der Berichtigung dieser Verfügung mit Blick auf die zu Unrecht bezogenen Differenzbetreffnisse von insgesamt Fr. 11'330.- erhebliche Bedeutung beizumessen. Die verfügte, vorinstanzlich bestätigte Rückerstattungspflicht entspricht nach dem Gesagten Gesetz und Rechtsprechung.
 
3.
 
Zu prüfen bleibt, ob die Versicherte auf Grund des Vertrauensschutzprinzips etwas zu ihren Gunsten ableiten kann.
 
3.1 Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben schützt den Bürger und die Bürgerin in ihrem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten und bedeutet u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung der Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine falsche Auskunft bindend,
 
1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat;
 
2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;
 
3. wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte;
 
4. wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;
 
5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat (BGE 127 I 36 Erw. 3a, 126 II 387 Erw. 3a; RKUV 2001 Nr. KV 171 S. 281 Erw. 3b, 2000 Nr. KV 126 S. 223, Nr. KV 133 S. 291 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a mit Hinweisen).
 
Diese Grundsätze gelten umso mehr, wenn die Behörde nicht nur eine Auskunft erteilt, sondern Anordnungen getroffen hat; denn mit dem Erlass einer konkreten Verfügung wird in der Regel eine noch viel eindeutigere Vertrauensbasis geschaffen als mit einer blossen Auskunft (BGE 114 Ia 107 Erw. 2a, 214 Erw. 3b, 113 V 70 Erw. 2 mit Hinweisen, 106 V 72 Erw. 3b; ARV 1999 Nr. 40 S. 237 Erw. 3a mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre).
 
3.2 Soweit die Beschwerdeführerin beanstandet, dass ihr mit Schreiben der IV-Stelle vom 11. Oktober 2000, d.h. noch eine Woche vor Erlass der Leistungsherabsetzungs- und Rückerstattunsverfügung vom 18. Oktober 2000, mitgeteilt wurde, sie habe "weiterhin Anspruch auf die bisherige Hilflosenentschädigung", ist festzuhalten, dass es im vorliegenden Zusammenhang primär um die Beurteilung einer konkreten Anordnung der Verwaltung (ursprüngliche Zusprechung einer Hilflosenentschädigung wegen mittelschwerer Hilflosigkeit) geht. Die Frage des Vertrauensschutzes stellt sich deshalb hier unter dem Bickwinkel des Erlasses von Verfügungen und nicht des Erteilens von unrichtigen Auskünften. Bei diesen Gegebenheiten steht ausser Zweifel, dass die Voraussetzungen 1 (Handeln in einer konkreten Situation), 2 (Zuständigkeit der Behörde), 3 (Unrichtigkeit nicht ohne weiteres erkennbar) und 5 (keine Rechtsänderung) für den Vertrauensschutz erfüllt sind (ARV 1999 Nr. 40 S. 238 Erw. 3b). Fraglich ist damit nur noch, ob die Beschwerdeführerin im Vertrauen auf die Richtigkeit der Verfügung vom 26. Januar 1998 Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können (Voraussetzung 4). Entgegen der Auffassung der Vorinstanz hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die mit BGE 100 V 157 Erw. 3c, 158 und 163 Erw. 4 aufgestellte sogenannte "6. Voraussetzung", wonach eine unmittelbar und zwingend aus dem formellen Gesetz sich ergebende Sonderregelung die Berufung auf Treu und Glauben von vornherein ausschloss, bereits mit BGE 116 V 298 preisgegeben.
 
Die Versicherte führte schon in ihrer vorinstanzlichen Beschwerdeschrift aus, "von der ersten Auszahlung an" sei die (irrtümlicherweise zu hohe) Hilflosenentschädigung "auch für den Hauptzweck der sozialen Kontakte gebraucht" worden; "man kennt die Ausgaben für Handreichungen u.ä.". Letztinstanzlich machte sie geltend, "wichtig für den Betroffenen ist (...) die Höhe des ausbezahlten Betrages und die damit sich eröffnenden Möglichkeiten für die Abgeltung der Betreuung vor allem im Bereich der Sozialkontakte". Diese Ausführungen legen die Folgerung nahe, dass die Versicherte zumindest einen namhaften Teil der seinerzeit ausgerichteten Hilflosenentschädigung für die Bezahlung von Drittpersonen einsetzte, welche ihr bei der alltäglichen Lebensverrichtung Fortbewegung (ausser Haus)/Pflege gesellschaftlicher Kontakte Hilfestellung leisteten. Auf Grund der vorliegenden Akten kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin von dieser bezahlten Dienstleistung entsprechend zurückhaltender Gebrauch gemacht hätte, wenn sie bereits damals gewusst hätte, dass ihr nur 40 % der zugesprochenen Hilflosenentschdädigung zustehen (Art. 37 IVV) und sie demzufolge die unrechtmässig bezogenen Differenzbetreffnisse zurückzahlen muss. Die Verwaltung wird näher abzuklären haben, ob in diesem Sinne tatsächlich von einer rechtserheblichen, ursächlich auf die Verfügung vom 26. Januar 1998 zurückzuführende Disposition im Sinne der dargelegten Rechtsprechung auszugehen ist. Dabei wird auch der Frage nachzugehen sein, ob der Versicherten im damaligen Zeitraum eine andere Handlungsmöglichkeit überhaupt offen stand.
 
Allenfalls wird sich im Verwaltungsverfahren die von der Beschwerdeführerin aufgeworfene weitere Frage nach der Erledigung der Streitigkeit durch Vergleich im Sinne von Art. 50 ATSG stellen.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. Februar 2003 und die Verfügung vom 24. Mai 2002 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Rückforderung neu verfüge.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 1. Juli 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).