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Informationen zum Dokument  BGer I 600/2001  Materielle Begründung
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BGer I 600/2001 vom 26.06.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 600/01
 
Urteil vom 26. Juni 2003
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Arnold
 
Parteien
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
R.________, 1945, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Luzern
 
(Entscheid vom 27. August 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
R.________, geb. 1945, meldete sich am 18. November 1996 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer und beruflich-erwerblicher Hinsicht, worunter Berichte des Dr. med. G.________, Spezialarzt FMH für Neurochirurgie, Klinik X.________, vom 7. und 26. Februar 1997, 12. August und 27. Oktober 1998, des Spitals Y.________, Medizinische Klinik, vom 20. September 1996, der S.________ AG, vom 22. November 1996 und der Einzelfirma W.________ vom 19. Februar 1997 sowie der Beruflichen Abklärungsstelle (BEFAS) vom 23. November 1998, sprach die IV-Stelle Luzern dem Versicherten mit Verfügung vom 12. Juli 1999 rückwirkend ab 1. August 1997 auf Grund eines Invaliditätsgrades von 63 % eine halbe Invalidenrente zu.
 
B.
 
In Gutheissung der dagegen eingereichten Beschwerde hob das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die angefochtene Verfügung auf und verpflichtete die IV-Stelle, R.________ für die Zeit ab 1. August 1997 eine ganze Invalidenrente auszurichten (Entscheid vom 27. August 2001).
 
C.
 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
 
R.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG) und die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 12. Juli 1999) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
 
2.
 
Nach Lage der Akten, insbesondere der Berichte des Dr. med. G.________ (vom 7. und 26. Februar 1997, 12. August und 27. Oktober 1998) sowie dem Abklärungsbericht der BEFAS (vom 23. November 1998), ist mit der Vorinstanz und der Verwaltung davon auszugehen, dass der an einem chronischen Lumbovertebralsyndrom leidende Beschwerdegegner gesundheitsbedingt keine Schwerarbeit mehr verrichten kann. Hinsichtlich körperlich leichter, wechselbelastender Tätigkeiten (namentlich ohne Heben und Tragen von Lasten über 10 Kilogramm) ist er indes zu 50 % arbeitsfähig.
 
Der Erlass der strittigen Verwaltungsverfügung bildet rechtsprechungsgemäss die Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis (vgl. Erw. 1 in fine). Anhaltspunkte dafür fehlen, dass sich das seit mehreren Jahren bestehende, im Anschluss an ein Verhebetrauma im August 1996 akzentuiert auftretende Rückenleiden im Nachgang zu den im Spätherbst/Winter 1998 abgeschlossenen medizinischen Abklärungen bis zum Erlass der Verfügung vom 12. Juli 1999 in einer die Arbeitsfähigkeit weiter einschränkenden Weise verschlimmert hat. Bei dieser Sach- und Rechtslage ist entgegen dem Beschwerdegegner von ergänzenden Beweisvorkehren abzusehen.
 
3.
 
Für die erwerblichen Auswirkungen der festgestellten Arbeitsfähigkeit kann auf die von der Vorinstanz in allen Teilen korrekt ermittelten hypothetischen Einkommen (Validen- und Invalideneinkommen) verwiesen werden. Sämtliche von den Parteien letztinstanzlich dagegen erhobenen Rügen dringen nicht durch.
 
3.1 Bei der Invaliditätsbemessung nach IVG ist analog zur Rechtsprechung zu Art. 18 Abs. 2 UVG (BGE 128 V 174 f.) für die Vornahme des Einkommensvergleichs grundsätzlich auf die Begebenheiten im Zeitpunkt des allfälligen Rentenbeginns abzustellen. Bevor die Verwaltung über einen Leistungsanspruch befindet, muss sie indessen prüfen, ob allenfalls in der dem Rentenbeginn folgenden Zeit eine erhebliche Veränderung der hypothetischen Bezugsgrössen eingetreten ist. Gegebenenfalls hat sie vor ihrem Entscheid einen weiteren Einkommensvergleich durchzuführen (Urteil S. vom 9. August 2002, I 26/02, bestätigt in Urteil L. vom 18. Oktober 2002, I 761/01). Die Vorinstanz hat diesen Grundsätzen Rechnung getragen, indem sie sowohl für 1997 (Rentenbeginn) als auch für 1999 (Erlass der strittigen Verfügung) einen Einkommensvergleich vornahm, wobei jeweils (knapp) ein Invaliditätsgrad von über 66 2/3 % resultierte.
 
3.2 Für die Ermittlung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) ist mit dem kantonalen Gericht vom Verdienst auszugehen, den der Beschwerdegegner bei der S.________ AG erzielte. Vor dem Hintergrund, dass er dort vom 3. Mai 1994 bis 29. Februar 1996, mithin über einen relativ langen Zeitraum hinweg, als Maurer tätig war, ist an die konkreten Einkommensverhältnisse anzuknüpfen.
 
3.2.1 Im Rahmen der Anstellung bei der Einzelfirma W.________ kam es aktenkundig bereits nach wenigen Arbeitstagen zu unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages, weshalb der Arbeitgeber am 28. August 1996 die "Auflösung und Annullierung des Arbeitsverhältnisses" geltend machte. Zieht man in Betracht, dass die Qualität der vom 29. Juli bis 2. August 1996 geleisteten Arbeit als ungenügend moniert wurde, kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdegegner ohne das Verhebetrauma vom 2. August 1996, welches das Rückenleiden manifestierte, an dieser Arbeitsstelle verblieben wäre.
 
3.2.2 Art. 25 Abs. 1 IVV parallelisiert die beiden massgeblichen hypothetischen Vergleichseinkommen nach Art. 28 Abs. 2 IVG mit den AHV-rechtlich beitragspflichtigen Einkünften (vgl. Meyer-Blaser, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 200). Nach Art. 7 AHVV stellen Unkostenentschädigungen kein AHV-pflichtiges Erwerbseinkommen dar. Gemäss Art. 6 Abs. 2 AHVV gehören Familienzulagen, einschliesslich Kinderzulagen, nicht zum Erwerbseinkommen. Bei dieser Rechtslage sind Spesen wie Kinderzulagen bei der Ermittlung des hypothetischen Valideneinkommens entgegen der Rechtsauffassung des Beschwerdegegners ausser Acht zu lassen. Der Verweis auf die BVG-rechtliche Überentschädigungsordnung, wonach bei der Ermittlung des mutmasslich entgangenen Verdienstes (Art. 24 Abs. 1 BVV2) auch kantonalrechtliche Familienzulagen (Kinderzulagen) zu berücksichtigen sind, auf welche die versicherte Person Anspruch gehabt hätte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (nicht veröffentlichtes Urteil N. vom 31. Juli 1997, B 20/96), stösst ins Leere. Während es dort um die Ermittlung des mutmasslich entgangenen Verdienstes geht, ist bei der Invaliditätsbemessung ein Vergleich zwischen zwei hypothetischen Einkommen vorzunehmen. Selbst wenn Art. 25 Abs. 1 IVV nicht auf die AHV-rechtliche Ordnung verweisen würde, müssten Leistungen wie Familienzulagen bei der Invaliditätsbemessung in dem Sinne unberücksichtigt bleiben, dass sie entweder gar nicht oder alternativ bei beiden Vergleichseinkommen veranschlagt werden.
 
3.3
 
3.3.1 In BGE 126 V 75 erwog das Eidgenössische Versicherungsgericht, für die Bestimmung des Invalideneinkommens sei primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person stehe. Liege kein tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen vor, könne rechtsprechungsgemäss auf statistische Durchschnittswerte, die so genannten Tabellenlöhne der Schweizerischen Lohnstrukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik (LSE) abgestellt werden. An diesen Grundsätzen ist festzuhalten. Laut Bericht der BEFAS (vom 23. November 1998) beträgt das Invalideneinkommen des Beschwerdegegners bei einer Leistung von 70 % Fr. 31'850.-, "berechnet nach Angaben der Firmen G.________ für Montagetätigkeiten, L.________ im Verpackungsbereich und C.________ für Arbeiten an Maschinen" (Bericht S. 6 oben). Die Verwaltung stellte auf diese Angaben ab, wobei sie von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % ausging. Mangels Anforderungsprofilen und weiteren Angaben zu den angeführten Arbeitsplätzen kann indes nicht überprüft werden, wie es sich mit der Zumutbarkeit der entsprechenden Verweisungstätigkeiten verhält. Der Umstand, dass der Aufenthalt in der BEFAS mehrere Tage dauerte und eingehend evaluiert wurde, welche Arbeiten dem Beschwerdegegner noch möglich sind, ändert nichts daran, dass die daraus resultierenden erwerblichen Verhältnisse nur pauschal und in nicht nachvollziehbarer Weise erhoben wurden. Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz für die Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch realisierbaren Einkommens in bundesrechtskonformer Weise auf die Tabellenlöhne abgestellt (vgl. auch die Urteile C. vom 12. Mai 2000, I 690/99, und J. vom 5. November 2001, U 316/99).
 
3.3.2 Die Vorinstanz hat den Abzug vom Tabellenlohn, der eine Schätzung darstellt und rechtsprechungsgemäss kurz zu begründen ist (BGE 126 V 75 Erw. 6), auf 25 % festgesetzt. Die Beschwerde führende IV-Stelle, welche sich für einen maximal 20%igen Abzug ausspricht, bringt keine triftigen Gründe vor, welche eine nach den Grundsätzen über die richterliche Ermessenskontrolle abweichende Ermessensausübung als näher liegend erscheinen liesse (vgl. Art. 132 lit. a OG; BGE 123 V 152 Erw. 2).
 
4.
 
Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid rechtens.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Luzern hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht (einschliesslich Mehrwertsteuer) eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.- zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 26. Juni 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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