VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1P.142/2003  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1P.142/2003 vom 07.04.2003
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1P.142/2003 /mks
 
Urteil vom 7. April 2003
 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
 
Bundesrichter Fonjallaz,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald, Postfach 31, 5330 Zurzach,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
 
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau,
 
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
Art. 29 Abs. 2 BV (Strafverfahren; rechtliches Gehör),
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, vom 16. Januar 2003.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 25. Juni 2002 verurteilte das Bezirksgericht Baden X.________ wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 11 Jahren Zuchthaus und Fr. 5'000.-- Busse. X.________ war im bezirksgerichtlichen Verfahren amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Valentin Landmann und erbeten verteidigt durch Fürsprecher Urs Oswald.
 
Am 20. September 2002 erhob der amtliche Verteidiger im Namen von X.________ gegen das bezirksgerichtliche Urteil Berufung.
 
Am 5. Dezember 2002 sandte die obergerichtliche Instruktionsrichterin dem amtlichen Verteidiger ein Schreiben mit folgendem Inhalt zu:
 
"Sehr geehrter Herr Dr. Landmann,
 
nach Auffassung des Obergerichtes kann im obgenannten Verfahren auf die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung verzichtet werden.
 
Wir fragen Sie deshalb an, ob Sie auf eine mündliche Verhandlung verzichten. Die Beurteilung erfolgt dann aufgrund der Akten.
 
Wir bitten Sie, uns ihren Entscheid innert 10 Tagen seit Zustellung dieses Schreibens mitzuteilen, andernfalls werden wir zu einer Verhandlung vorladen."
 
Mit Schreiben vom 9. Dezember 2002 antwortete Rechtsanwalt Landmann dem Obergericht Folgendes:
 
"Nach Rücksprache mit dem Klienten können wir Ihnen bestätigen, dass wir mit dem Verzicht auf mündliche Berufungsverhandlung einverstanden sind."
 
Nachdem auch der Staatsanwalt auf eine mündliche Verhandlung verzichtet hatte, fällte das Obergericht am 16. Januar 2003 sein Urteil. In teilweiser Gutheissung der Berufung sprach es X.________ in einem Anklagepunkt frei. Es bestrafte ihn mit 9 1/2 Jahren Zuchthaus und Fr. 5'000.-- Busse. Im Übrigen wies es die Berufung ab.
 
B.
 
X.________, vertreten durch den erbetenen Verteidiger, erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes aufzuheben.
 
C.
 
Die Staatsanwaltschaft beantragt unter Verzicht auf eine Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde.
 
Das Obergericht hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, das Bezirksgericht habe dem erbetenen Verteidiger weder ein Urteilsdispositiv noch ein begründetes Urteil zugestellt. Beim der staatsrechtlichen Beschwerde beigelegten Urteilsexemplar handle es sich um eine Urteilsausfertigung, die dem amtlichen Verteidiger zugestellt und dann an den Beschwerdeführer weitergeleitet worden sei. Mangels Zustellung des bezirksgerichtlichen Urteils an den erbetenen Verteidiger habe dieser auch keine Berufung einreichen können. Einzig der amtliche Verteidiger habe die Berufung erklärt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2002 sei das Obergericht an den amtlichen Verteidiger gelangt und habe ihm die Frage unterbreitet, ob er auf eine mündliche Verhandlung verzichte. Der erbetene Verteidiger sei nicht angefragt worden, ob auch er auf eine mündliche Verhandlung verzichte. Gleichwohl sei keine Berufungsverhandlung durchgeführt worden. Das Urteil sei aufgrund der Akten gefällt worden. In der Folge habe der Beschwerdeführer vom amtlichen Verteidiger ein Exemplar des angefochtenen Urteils erhalten. Der Beschwerdeführer sei darüber aufgebracht gewesen, dass keine Verhandlung durchgeführt worden sei. Er habe sich an den erbetenen Verteidiger gewandt und sich nach dem Grund des Verzichts auf eine Berufungsverhandlung erkundigt. Dabei habe er gegenüber dem erbetenen Verteidiger geltend gemacht, er beharre auf einer Berufungsverhandlung.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, es liege wohl ein Versehen des Obergerichtes vor. Nachdem bereits im bezirksgerichtlichen Verfahren festgestanden sei, dass der Beschwerdeführer zusätzlich von einem erbetenen Verteidiger vertreten werde, hätte die Anfrage betreffend Verhandlungsverzicht auch dem erbetenen Verteidiger unterbreitet werden müssen. Dieser hätte auf keinen Fall auf eine Berufungsverhandlung verzichtet, da die Durchführung einer solchen in einem derart gewichtigen Strafverfahren erfahrungsgemäss von zentraler Bedeutung sei. Der erbetene Verteidiger hätte anlässlich der Berufungsverhandlung noch ausführlich zur Beweislage Stellung nehmen können. Mit dem Verzicht auf eine Berufungsverhandlung ohne Zustimmung des erbetenen Verteidigers sei der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt worden. Daran ändere nichts, dass der amtliche Verteidiger auf eine Berufungsverhandlung verzichtet habe. Das Obergericht hätte den erbetenen Verteidiger nicht übergehen bzw. im Verhältnis zum amtlichen Verteidiger hintanstellen dürfen. Die Strafprozessordnung des Kantons Aargau kenne kein "Vorrecht des amtlichen Verteidigers". Wenn zwei Verteidiger eingesetzt seien und dies den zuständigen Instanzen bekannt sei, so hätten sich die Gerichte mit beiden Verteidigern in Verbindung zu setzen.
 
1.2 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern. Dem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörde, die Argumente und Verfahrensanträge der Partei entgegenzunehmen und zu prüfen (BGE 127 I 54 E. 2b; 124 I 241 E. 2 mit Hinweisen).
 
1.3 Gemäss § 222 Abs. 1 StPO/AG führt das Obergericht unter anderem bei der Beurteilung in Fällen wie hier, in denen im angefochtenen Urteil eine Freiheitsstrafe von über 18 Monaten ausgesprochen wurde, eine Parteiverhandlung durch. Diese kann unterbleiben, sofern die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Gemäss § 56 StPO/AG ist Partei im Strafverfahren unter anderem der Beschuldigte oder Angeklagte (Ziff. 1). Der Verteidiger ist nicht Partei.
 
Der amtliche Verteidiger verwendete in seinem Antwortschreiben vom 9. Dezember 2002 die Formulierung "nach Rücksprache mit dem Klienten". Daraus ergibt sich, dass der amtliche Verteidiger mit dem Beschwerdeführer die Frage des Verhandlungsverzichts besprochen hat. Der Beschwerdeführer konnte sich also dazu äussern und hat dies offensichtlich auch getan. Jedenfalls macht er in der staatsrechtlichen Beschwerde substantiiert nichts anderes geltend. Das Obergericht seinerseits hat von der Stellungnahme des Beschwerdeführers Kenntnis genommen und gestützt darauf und die entsprechende Antwort des Staatsanwalts auf eine mündliche Verhandlung verzichtet. Konnte sich der Beschwerdeführer aber äussern und hat er dies getan, so ist keine Verletzung des rechtlichen Gehörs gegeben. Hätte er auch im Berufungsverfahren zusätzlich durch den erbetenen Verteidiger vertreten sein wollen, hätte er spätestens in diesem Zeitpunkt diesen oder das Obergericht informieren müssen. Da der erbetene Verteidiger im Berufungsverfahren überhaupt nicht in Erscheinung getreten war, ist es nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht die Anfrage betreffend Verhandlungsverzicht einzig dem amtlichen Verteidiger zugestellt hat.
 
Zutreffend weist das Obergericht in der Vernehmlassung im Übrigen darauf hin, dass bei einer Mehrheit von Verteidigern Probleme mit den Fristen entstehen, wenn eine gerichtliche Sendung jedem von ihnen zugestellt wird. Löst die Zustellung - wie hier - eine Frist aus, laufen verschiedene Fristen nebenher, wenn den einzelnen Anwälten die gerichtliche Sendung nicht am gleichen Tag zugestellt werden kann. Dieses der Rechtssicherheit abträgliche Ergebnis wird vermieden, wenn die Zustellung nur an einen der Verteidiger erfolgt
 
2.
 
Da keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt, ist die Beschwerde abzuweisen.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht (1. Strafkammer) des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 7. April 2003
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).