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Informationen zum Dokument  BGer I 671/2001  Materielle Begründung
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BGer I 671/2001 vom 05.02.2003
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
 
Tribunale federale delle assicurazioni
 
Tribunal federal d'assicuranzas
 
Sozialversicherungsabteilung
 
des Bundesgerichts
 
Prozess
 
{T 7}
 
I 671/01
 
Urteil vom 5. Februar 2003
 
II. Kammer
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Batz
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
S.________, 1946, Beschwerdegegnerin,
 
Vorinstanz
 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
 
(Entscheid vom 16. Oktober 2001)
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1946 geborene S.________ leidet als Folge einer im Kindesalter durchgemachten Poliomyelitis vor allem an Restlähmungen des Rumpfes und der Beine sowie an einer paralytischen Skoliose bei Status nach Spondylodese. Die Invalidenversicherung erbrachte verschiedene Leistungen, darunter namentlich seit 1960 Heilgymnastik bzw. ambulante Physiotherapie und diverse Hilfsmittel. Die ambulante Physiotherapie war letztmals am 14. Februar 1995 für die Dauer vom 1. September 1994 bis 31. August 1999 zugesprochen worden.
 
Ein erneutes Gesuch der Versicherten um Kostengutsprache für die Physiotherapie ab 1. September 1999 wies die IV-Stelle Luzern nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 6. Juli 2000 ab.
 
B.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess mit Entscheid vom 16. Oktober 2001 die dagegen eingereichte Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung vom 6. Juli 2000 auf und verpflichtete die IV-Stelle, für die Kosten der ambulanten Physiotherapie ab 1. September 1999 aufzukommen.
 
C.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherung führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verfügung vom 6. Juli 2000 wiederherzustellen.
 
Die Versicherte schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die IV-Stelle trägt auf Gutheissung der Beschwerde an.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenige Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 6. Juli 2000) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die neuen Bestimmungen nicht anwendbar.
 
2.
 
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
 
3.
 
3.1 Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen über den Anspruch auf medizinische Massnahmen physiotherapeutischer Art bei Lähmungen und andern motorischen Funktionsausfällen (insbesondere Art. 12 Abs. 1 und 2 IVG sowie Art. 2 Abs. 2 und 3 IVV) und die dazu ergangene Rechtsprechung im Wesentlichen (vgl. auch BGE 108 V 217 Erw. 1a mit weiteren Hinweisen) zutreffend dargelegt. Es kann darauf verwiesen werden.
 
3.2 Erwähnt sei lediglich nochmals, dass Art. 12 IVG namentlich bezweckt, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw. 1, 102 V 41 f.).
 
Das Gesetz umschreibt die Vorkehren medizinischer Art, welche von der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff "Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird, seien sie kausal oder symptomatisch, auf das Grundleiden oder dessen Folgeerscheinungen gerichtet, stellen solche Heilmassnahmen, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an sich dar. Dem labilen pathologischen Geschehen hat die Rechtsprechung seit jeher im Prinzip alle nicht stabilisierten Gesundheitsschäden gleichgestellt, die Krankheitswert haben. Demnach gehören jene Vorkehren, welche auf die Heilung oder Linderung pathologischen oder sonstwie Krankheitswert aufweisenden Geschehens labiler Art gerichtet sind, nicht ins Gebiet der Invalidenversicherung. Erst wenn die Phase des (primären oder sekundären) labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein stabiler bzw. relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist, kann sich - bei volljährigen Versicherten - überhaupt die Frage stellen, ob eine Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung übernimmt in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren, sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen. Dagegen hat die Invalidenversicherung eine Vorkehr, die der Behandlung des Leidens an sich zuzuzählen ist, auch dann nicht zu übernehmen, wenn ein wesentlicher Eingliederungserfolg vorausgesehen werden kann. Der Eingliederungsgerfolg, für sich allein betrachtet, ist im Rahmen des Art. 12 IVG kein taugliches Abgrenzungskriterium, zumal praktisch jede ärztliche Vorkehr, die medizinisch erfolgreich ist, auch im erwerblichen Leben eine entsprechende Verbesserung bewirkt (BGE 120 V 279 Erw. 3a, 115 V 194 Erw. 3, 112 V 349 Erw. 2, 105 V 19 und 149, 104 V 82, 102 V 42).
 
3.3 Die Rechtsprechung hat festgehalten, dass sich stabilisierende Vorkehren stets gegen labiles pathologisches Geschehen richten. Deshalb muss eine kontinuierliche Therapie, die notwendig ist, um das Fortschreiten eines Leidens zu verhindern, als Behandlung des Leidens an sich bewertet werden. Keine stabile Folge von Krankheit, Unfall oder Geburtsgebrechen ist daher ein Zustand, der sich nur dank therapeutischer Massnahmen einigermassen im Gleichgewicht halten lässt, gleichgültig welcher Art die Behandlung sei. Ein solcher Zustand ist, solange er im Gleichgewicht bewahrt werden kann, wohl stationär, aber nicht im Sinne der Rechtsprechung stabil. Die medizinische Vorkehren, die zur Aufrechterhaltung des stationären Zustandes erforderlich sind, können daher von der Invalidenversicherung nicht übernommen werden (BGE 102 V 42 f.; AHI 1999 S. 127 Erw. 2d, ZAK 1988 S. 86 f. Erw. 1).
 
4.
 
Vorliegend gelangen die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung auf Grund der in den Akten liegenden Unterlagen, insbesondere der Arztberichte des Dr. med. M.________ (vom 29. September 1988 und 11. September 1987; vgl. auch Bericht des Dr. med. K.________ vom 13. September 2000), namentlich mit Recht zum Schluss, dass die bei der Beschwerdegegnerin seit ca. 40 Jahren durchgeführte Physiotherapie bzw. Heilgymnastik voraussichtlich dauernd weiter benötigt wird, weshalb die in Frage stehenden Vorkehren nicht auf stabile Folgen der Lähmungen und damit auch nicht auf einen zumindest relativ stabilisierten Zustand gerichtet sind. Bei den umstrittenen Therapien geht es nach den zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes vielmehr primär darum, einer drohenden Verschlechterung durch dauernde physiotherapeutische Behandlungen entgegen zu wirken und auf diese Weise den Gesundheitszustand einigermassen im Gleichgewicht zu halten (vgl. Erw. 3.3 hievor). IV-Stelle und Bundesamt halten dazu - auf Grund der eigenen Angaben der Beschwerdegegnerin und des Dr. M.________ (vgl. u.a. Bericht vom 11. September 1987) - denn auch fest, dass sich ohne Physiotherapie der Gesundheitszustand der Versicherten verschlechtere. Damit liegt aber, wie die Verwaltung zutreffend darlegt, ein im Sinne der Rechtsprechung stationärer, nicht jedoch stabiler Zustand vor, weshalb die anbegehrten Therapien invalidenversicherungsrechtlich als Behandlung des Leidens an sich zu bewerten sind. Bei diesen Gegebenheiten kann die streitige Physiotherapie nicht als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 IVV qualifiziert werden. Daran vermögen die Ausführungen der Vorinstanz - namentlich auch die unter Bezugnahme auf AHI 1999 S. 125 ff. erfolgten Erwägungen - nichts zu ändern. Dass zudem die vorgenommenen Behandlungen sich günstig auf die Arbeits- resp. Erwerbsfähigkeit auswirken bzw. für die Erhaltung derselben wesentlich sind, wie seitens der Vorinstanz und der Beschwerdegegnerin eingewendet wird, gibt ebenfalls zu keiner andern Beurteilung Anlass. Denn ein - in der Regel mit jeder Therapie verbundener - Eingliederungserfolg allein ist nicht entscheidend dafür, ob eine medizinische Vorkehr als Eingliederungsmassnahme im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG anerkannt werden kann (dazu Erw. 3.2 hievor in fine mit Hinweisen). Ebensowenig kann den Erwägungen der Vorinstanz beigepflichtet werden, wonach bei der Beschwerdegegnerin - insbesondere laut Ausführungen des Arztes Dr. M.________ - ein stabiler Defektzustand vorliege, weil nach den zutreffenden Darlegungen der Verwaltung insgesamt kein stabiler oder zumindest relativ stabilisierter Gesundheitszustand - bei welchem Begriff es sich entgegen dem, was die Vorinstanz anzunehmen scheint, ohnehin nicht um eine medizinische, sondern um eine juristische Qualifikation handelt - gegeben ist. Es muss daher bei der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Invalidenversicherung die anbegehrte, an sich zweckmässige und sinnvolle Physiotherapie gleichwohl nicht zu übernehmen hat, indem die Massnahme in den Bereich der Krankenversicherung gehört. Im Übrigen kann auf die eingehenden Ausführungen der Verwaltung, insbesondere auch des Bundesamtes in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde, verwiesen werden, denen das Eidgenössische Versicherungsgericht nichts beizufügen hat.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 16. Oktober 2001 aufgehoben.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der IV-Stelle Luzern und der Ausgleichskasse Luzern zugestellt.
 
Luzern, 5. Februar 2003
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Die Vorsitzende der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
 
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