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Informationen zum Dokument  BGer H 47/2001  Materielle Begründung
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BGer H 47/2001 vom 11.03.2002
 
[AZA 7]
 
H 47/01 Vr
 
III. Kammer
 
Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger und Bundesrichter
 
Kernen; Gerichtsschreiber Ackermann
 
Urteil vom 11. März 2002
 
in Sachen
 
1. A.________,
 
2. B.________, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdegegnerin,
 
und
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
 
A.- A.________ und B.________ waren Verwaltungsräte und Geschäftsleiter der Firma L.________ AG. Nachdem am 15. März 2000 über diese Firma der Konkurs hatte eröffnet werden müssen, verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Aargau je mit Verfügung vom 9. Juni 2000 A.________ und B.________ unter solidarischer Haftung zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge (einschliesslich Verwaltungskostenbeiträge, Mahngebühren, Betreibungskosten und Verzugszinsen) im Betrag von Fr. 362'001. 25.
 
B.- Nachdem A.________ und B.________ Einspruch erhoben hatten, machte die Ausgleichskasse am 9. August 2000 ihre Forderung im Umfang von Fr. 355'637. 30 (wobei eine allfällige Konkursdividende der L.________ AG in Liquidation abzutreten sei) klageweise beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau geltend. Das Gericht hiess die Schadenersatzklage und die Abtretung der allfälligen Konkursdividende mit Entscheid vom 5. Dezember 2000 gut.
 
C.- A.________ und B.________ führen Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem sinngemässen Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Klage abzuweisen.
 
Die Ausgleichskasse schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
D.- Das nachträglich eingereichte Gesuch des B.________ um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung wurde mit Zwischenentscheid vom 3. Juli 2001 abgewiesen; der erneut verfügte Kostenvorschuss wurde nicht bezahlt.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- a) Nach Art. 150 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG kann die Partei, die das Eidgenössische Versicherungsgericht anruft, zur Sicherstellung der mutmasslichen Gerichtskosten angehalten werden. Bei fruchtlosem Ablauf der für die Sicherstellung gesetzten Frist wird gemäss Art. 150 Abs. 4 OG auf die Rechtsvorkehr nicht eingetreten.
 
b) Der Beschwerdeführer 2 hat den Kostenvorschuss von Fr. 9000.- innert der mit Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 3. Juli 2001 gesetzten Frist, welche am 4. September 2001 (Art. 32 Abs. 1 und Art. 34 OG in Verbindung mit Art. 135 OG) ablief, nicht geleistet, weshalb androhungsgemäss auf seine Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten ist.
 
2.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
3.- Die Vorinstanz hat die Voraussetzungen für den Schadenersatzanspruch nach Art. 52 AHVG, die subsidiäre und solidarische Haftung der verantwortlichen Organe einer juristischen Person (BGE 123 V 15 Erw. 5b, 119 V 87 Erw. 5a, je mit Hinweis), das Verfahren (Art. 81 AHVV), die Verwirkung des Anspruches (Art. 82 Abs. 1 AHVV, BGE 118 V 195 Erw. 2b mit Hinweisen) sowie die Rechtfertigungs- und Schuldausschliessungsgründe (BGE 108 V 183) zutreffend dargestellt.
 
Darauf kann verwiesen werden.
 
4.- Das kantonale Gericht hat die Tatbestandselemente des Art. 52 AHVG als erfüllt betrachtet und in der Folge die Schadenersatzpflicht bejaht.
 
a) Der Beschwerdeführer 1 bestreitet, dass er eine schuldhafte Pflichtverletzung begangen habe. Wie die Vorinstanz zu Recht ausgeführt hat, ist dem Beschwerdeführer 1 aber eine grobfahrlässige Missachtung der Vorschriften und damit eine schuldhafte Pflichtverletzung vorzuwerfen, da er als einer von zwei einzelzeichnungsberechtigten Verwaltungsräten und Geschäftsleitern die Pflicht und die Möglichkeit gehabt hätte, die Sozialversicherungsbeiträge rechtzeitig abzuliefern.
 
b) Der Beschwerdeführer 1 verneint ein Verschulden insbesondere damit, dass die Bank die Zahlungsaufträge zur Begleichung der Sozialversicherungsbeiträge nicht ausgeführt habe.
 
aa) Es ist deshalb zu prüfen, ob ein Schuldvorwurf an den Beschwerdeführer 1 entfällt, weil es ihm in seiner Stellung als Organ der L.________ AG wegen deren Bindung an die den Schuldendienst regelnde Bank faktisch nicht möglich gewesen war, für die Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge besorgt gewesen zu sein. Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts kann ein Verschuldensvorwurf in solchen Fällen (insbesondere bei Globalzessionen) entfallen. Als Entschuldigungsgrund kommt dabei nur ein Abhängigkeitsverhältnis in Frage, das der Beschwerdeführer 1 aus schützenswerten unternehmerischen oder betriebswirtschaftlichen Überlegungen, der Not der Stunde gehorchend, eingehen musste; dabei bleiben - in Anbetracht der Unübertragbarkeit der ahv-rechtlichen Arbeitgeberpflichten - die Organe auch in einem solchen Fall verpflichtet, das ihnen noch Mögliche und Zumutbare für die Begleichung der Sozialversicherungsbeiträge zu unternehmen. Bestehen demgegenüber Anhaltspunkte dafür, dass sich die Unternehmung bewusst in Abhängigkeit zur Bank gebracht hätte, um sich dann für den Fall von Zahlungsausständen gegenüber der Sozialversicherung darauf zu berufen, zur Wahrnehmung ihrer Arbeitgeberpflichten gar nicht mehr in der Lage gewesen zu sein, könnte von einem Entschuldigungsgrund von vornherein nicht gesprochen werden (Urteile P. vom 24. September 2001, H 343/00, U. vom 5. Februar 2001, H 235/99, W. vom 9. November 2000, H 195/00, nicht veröffentlichte Urteile P. vom 27. Juli 1998, H 269/96 [vgl. RDAT 1999 I Nr. 72 S. 279], B. vom 16. Juni 1998, H 330/97, G. vom 10. Februar 1998, H 189/97, A. vom 18. März 1997, H 62/96, S. vom 7. Juli 1994, H 294/93, M.
 
vom 17. Februar 1994, H 131/93; Thomas Nussbaumer, Die Haftung des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, AJP 1996, S. 1078). Zudem ist zu beachten, dass eine Globalzession für sich allein keinen genügenden Entlastungsgrund darstellt, da die Organe auch diesfalls grundsätzlich verantwortlich bleiben (Urteil W. vom 5. September 2001, H 377/00, mit Hinweis auf Urteil O. vom 19. Januar 2000, H 177/99).
 
bb) Aufgrund der Akten ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der Beschwerdeführer 1 die L.________ AG absichtlich unter einen (behaupteten) bestimmenden Einfluss der Bank brachte, um sich seiner Arbeitgeberhaftung zu entziehen.
 
cc) Die (massiven) Zahlungsausstände betreffend Sozialversicherungsbeiträge bestanden schon seit der Gründung der L.________ AG. Es ist somit davon auszugehen, dass die Firma von Beginn weg ungenügend finanziert gewesen ist; von einem nur vorübergehenden finanziellen Engpass kann nicht gesprochen werden. Unter diesen Umständen bestanden keine hinreichend zuverlässigen Anhaltspunkte, welche dem Beschwerdeführer 1 bei objektiver Betrachtungsweise die Annahme erlaubt hätten, die Gesellschaft könnte durch die Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge saniert und die Beiträge innert nützlicher Frist nachbezahlt werden. Eine schützenswerte unternehmerische oder betriebswirtschaftliche Überlegung, die - der Not der Stunde gehorchend - das Eingehen eines Abhängigkeitsverhältnisses zur Bank entschuldigen würde, konnte somit gar nicht vorliegen. Auch das kantonale Gericht weist zutreffend darauf, dass die Zahlungsausstände betreffend Sozialversicherungsbeiträge schon lange vor dem Drängen der Bank auf Rückzahlung des Kontokorrentkredites resp. vor der Sperrung des Kontos eingetreten sind.
 
c) Auch aus der am 2. November 1998 von seinem Privatkonto erfolgten Überweisung von Fr. 100'000.- an die Ausgleichskasse kann der Beschwerdeführer 1 nichts zu seinen Gunsten ableiten, da sich dadurch seine Arbeitgeberhaftpflicht einzig im Umfang - nicht aber in der Qualität - verringert hat.
 
d) Es kann offen bleiben, ob der (behauptete) Einfluss der Bank auf den Geschäftsgang der L.________ AG derart bestimmend war, dass sie als faktisches Organ angesehen und damit selber nach Art. 52 AHVG haftpflichtig werden könnte (vgl. BGE 114 V 80 Erw. 3 sowie Thomas Nussbaumer, Das Schadenersatzverfahren nach Art. 52 AHVG, in René Schaffhauser/Ueli Kieser [Hrsg. ], Aktuelle Fragen aus dem Beitragsrecht der AHV, St. Gallen 1998, S. 103 f.), da die Arbeitgeberhaftung des Art. 52 AHVG gemäss Rechtsprechung als Solidarhaftung ausgestaltet ist (BGE 119 V 87 Erw. 5a mit Hinweis).
 
5.- Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend gehen die Kosten zu Lasten des Beschwerdeführers 1 (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I.Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers
 
2 wird nicht eingetreten.
 
II.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers 1 wird abgewiesen.
 
III. Die Gerichtskosten von Fr. 9000.- werden dem Beschwerdeführer
 
1 auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss
 
verrechnet.
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 11. März 2002
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der III. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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