VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 633/2000  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 633/2000 vom 07.11.2001
 
[AZA 7]
 
I 633/00 Gr
 
II. Kammer
 
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Rüedi und Meyer;
 
Gerichtsschreiber Widmer
 
Urteil vom 7. November 2001
 
in Sachen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
M. H.________, 1980, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater D. H.________,
 
und
 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
 
A.- Die am 9. November 1980 geborenen Zwillingsbrüder M. und T. H.________ leiden an Mukoviszidose (zystischer Fibrose), einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 459 GgV-Anhang. Sie bezogen verschiedene Leistungen der Invalidenversicherung, u.a. bis Ende November 1998 einen Pflegebeitrag für eine Hilflosigkeit mittleren Grades. Zur Prüfung des Anspruchs auf eine Hilflosenentschädigung für Erwachsene führte die IV-Stelle Bern eine Abklärung durch (Abklärungsberichte Hilflosigkeit vom 24. Februar 1999).
 
Gestützt hierauf und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle mit zwei Verfügungen vom 30. April 1999 den Anspruch von M. und T. H.________ auf eine Hilflosenentschädigung ab, weil sie in sämtlichen alltäglichen Lebensverrichtungen nicht auf Dritthilfe angewiesen seien und auch keiner dauernden persönlichen Überwachung oder einer besonders aufwändigen Pflege bedürften.
 
B.- Der Vater von M. und T. H.________ führte Beschwerde mit dem Antrag, die beiden Verfügungen seien aufzuheben und es sei seinen beiden Söhnen eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit leichten Grades zuzusprechen.
 
Mit Entscheid vom 19. September 2000 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Verfügung betr. M. H.________ in Gutheissung der Beschwerde auf und sprach diesem ab
 
1. Dezember 1998 eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades zu (Dispositiv-Ziffer 1), während es die Beschwerde von T. H.________ abwies (Dispositiv-Ziffer 2).
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle, Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Entscheides sei aufzuheben.
 
Während der Vater von M. H.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, unterstützt das Bundesamt für Sozialversicherung das Rechtsbegehren der IV-Stelle.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1.- Die Vorinstanz hat die massgeblichen Bestimmungen über den Anspruch auf eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 36 Abs. 3 IVV) unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu den Begriffen Überwachung und Pflege im Sinne von Art. 36 Abs. 3 lit. b und c IVV (BGE 107 V 139; ZAK 1990 S. 46 Erw. 2c) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht wiederholt festgestellt hat, kann eine Pflege aus verschiedenen Gründen als aufwändig zu qualifizieren sein. Sie ist es nach einem quantitativen Kriterium, wenn sie einen grossen Zeitaufwand erfordert oder besonders hohe Kosten verursacht. In qualitativer Hinsicht kann sie es sein, wenn die pflegerischen Verrichtungen unter erschwerenden Umständen zu erfolgen haben, so etwa, weil sich die Pflege besonders mühsam gestaltet oder die Hilfeleistung zu aussergewöhnlicher Zeit zu erbringen ist. Im Rahmen von Art. 36 Abs. 3 lit. c IVV ist ein qualifiziertes Mass an Betreuung, nämlich eine besonders aufwändige Pflege, verlangt. Immerhin dürfen die Anforderungen an das zeitliche oder quantitative Mass nicht so hoch angesetzt werden, dass sie praktisch nur in Fällen erfüllt werden können, in denen bereits schwere oder mittelschwere Hilflosigkeit vorliegt. Vielmehr ist darauf zu achten, dass sich die Intensität der Hilfeleistungen, die im Rahmen der Tatbestände des Art. 36 Abs. 3 lit. a-d IVV verlangt wird, in einem gewissen Gleichmass hält. Ein täglicher Pflegeaufwand von 2 bis 2 ½ Stunden ist sicher dann als besonders aufwändige Pflege im Sinne von Art. 36 Abs. 3 lit. c IVV zu qualifizieren, wenn erschwerende qualitative Momente mitzuberücksichtigen sind (unveröffentlichte Urteile S. vom 28. Januar 1993, I 314/92, und G. vom 25. Mai 1987, I 142/86).
 
2.- Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades nach Art. 36 Abs. 3 lit. a, b und d IVV sind im vorliegenden Fall unbestrittenermassen nicht erfüllt. Zu prüfen ist einzig, ob der Beschwerdegegner eine solche Entschädigung beanspruchen kann, weil er im Sinne von Art. 36 Abs. 3 lit. c IVV einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwändigen Pflege bedarf.
 
Laut Abklärungsbericht Hilflosigkeit vom 24. Februar 1999 muss beim Beschwerdegegner täglich eine Klopftherapie seitlich am Brustkorb und am Rücken durchgeführt werden, welche von der Mutter vorgenommen wird und einen Zeitaufwand von 10-15 Minuten erfordert. Ferner übernimmt die Mutter die Narbenpflege, die etwa 5 Minuten dauert. Weitere Hilfeleistungen im Sinne einer Pflege sind im Bericht nicht angeführt. Die ausgewiesene Pflege von täglich rund 20 Minuten kann nicht als besonders aufwändig im Sinne von Art. 36 Abs. 3 lit. c IVV und der Gerichtspraxis bezeichnet werden. In der Vernehmlassung werden keine zusätzlichen, von Krisensituationen abgesehen, regelmässig anfallenden Pflegeleistungen im massgeblichen Prüfungszeitraum bis
 
30. April 1999 (Verfügungsdatum) namhaft gemacht. Selbst wenn das Besorgen und Bereitstellen der Medikamente als Pflege im weitesten Sinne zu betrachten wäre, fällt der hiefür erforderliche Zeitaufwand nicht derart stark ins Gewicht, dass insgesamt von einem besonderen Aufwand gesprochen werden müsste. Schliesslich ist nicht zu verkennen, dass der vom Vater des Beschwerdegegners geschilderte Alltag der Familie mit drei an zystischer Fibrose leidenden erwachsenen Söhnen sehr hohe Anforderungen an die Eltern stellt und mehr Zeit in Anspruch nimmt als die alltäglichen Verrichtungen in einem Durchschnittshaushalt.
 
Diese Aufwendungen können indessen von der Invalidenversicherung nicht durch Hilflosenentschädigung vergütet werden. Da der Beschwerdegegner die Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG und Art. 36 Abs. 3 lit. c IVV nicht erfüllt, entfällt die vom kantonalen Gericht vorgenommene Prüfung der Frage, ob die Verwaltungspraxis (vgl. Rz 8053 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH], gültig ab 1. Januar 2000), wonach bei Mukoviszidose (zystische Fibrose) die Abgabe von Hilfsmitteln zu Lasten der Invalidenversicherung (z.B. Klopfapparat oder PEP-Maske) den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung ausschliesst, gesetzmässig ist.
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
 
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
 
Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheides des Verwaltungsgerichts
 
des Kantons Bern vom 19. September 2000 aufgehoben.
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und
 
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
 
Luzern, 7. November 2001
 
Im Namen des
 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
 
Der Präsident der II. Kammer:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).