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Informationen zum Dokument  BGer 5P.26/2001  Materielle Begründung
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BGer 5P.26/2001 vom 19.04.2001
 
[AZA 0/2]
 
5P.26/2001/min
 
II. Z I V I L A B T E I L U N G ********************************
 
19. April 2001
 
Es wirken mit: Bundesrichter Reeb, Präsident der II. Zivilabteilung,
 
Bundesrichter Raselli, Bundesrichter Meyer und
 
Gerichtsschreiber von Roten.
 
---------
 
In Sachen
 
A.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Schneider-Hess, Thundorferstrasse 13,8501 Frauenfeld,
 
gegen
 
B.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Erich Moser, Bankplatz 1, Postfach 617, 8501 Frauenfeld, Obergericht des Kantons Thurgau,
 
betreffend
 
Art. 9 und Art. 29 Abs. 2 BV
 
(nachehelicher Unterhalt; Verfahren und Beweiswürdigung),
 
wird festgestellt und in Erwägung gezogen:
 
1.- Im Ehescheidungsverfahren der Parteien hielt das Obergericht des Kantons Thurgau in zweiter Instanz fest, die am 15. Mai 1971 geschlossene Ehe gelte als mit Wirkung ab
 
4. Oktober 1999 rechtskräftig geschieden (Ziffer 1). Es verpflichtete B.________, Jahrgang 1945, der von ihm geschiedenen Ehefrau einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von Fr. 2'000.-- bis Ende Oktober 2010 zu bezahlen (Ziffer 2 lit. a). Das Obergericht rechnete A.________, Jahrgang 1947, ein hypothetisches Erwerbseinkommen als Sekretärin im Umfang von Fr. 3'000.-- bis Fr. 3'500.-- pro Monat an (E. 3d S. 10 ff. des Urteils vom 16. Mai 2000). Die 1976 und 1977 aus der Ehe hervorgegangenen Kinder sind volljährig.
 
A.________ hat gegen das Urteil des Obergerichts eidgenössische Berufung eingereicht und staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 (Schutz vor Willkür) und von Art. 29 Abs. 2 BV (Anspruch auf rechtliches Gehör) erhoben. Mit dieser beantragt sie dem Bundesgericht die Aufhebung von Ziffer 2 lit. a des angefochtenen Urteils.
 
Das Obergericht und B.________ schliessen auf Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde.
 
2.- Wird das nämliche Urteil gleichzeitig mit staatsrechtlicher Beschwerde und Berufung angefochten, ist die Entscheidung über diese in der Regel bis zur Erledigung jener auszusetzen (Art. 57 Abs. 5 OG). Die Voraussetzungen für ein ausnahmsweises Abweichen von dieser Regel (BGE 122 I 81 E. 1 S. 83) sind nicht gegeben, nachdem die Beschwerdeführerin vorab die Beweiswürdigung als willkürlich rügt, die für ihre Eigenversorgungskapazität (Art. 125 Abs. 1 ZGB: "selbst aufkommt") massgebend ist und im Verfahren der eidgenössischen Berufung verbindlich sein wird (BGE 126 III 189 E. 2a Abs. 3 S. 191; 125 III 78 E. 3a S. 79). Welche Tatsachen feststehen müssen, um die geltend gemachte Rechtsfolge zu begründen, bestimmt das materielle Recht (BGE 123 III 35 E. 2b S. 40); Sachverhaltsermittlung - Tatsachenfeststellung und Beweiswürdigung - steht stets vor dem Hintergrund des massgebenden Rechts (vgl. Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht,
 
3. A. Zürich 1979, S. 156), so dass auch im Rahmen dieses Beschwerdeverfahrens auf einzelne rechtliche Gesichtspunkte einzugehen sein wird (E. 4c Abs. 2 und 3 hiernach). Die weiteren Eintretensfragen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Im Zusammenhang mit der Beurteilung der einzelnen Rügen wird auf die Probleme zurückzukommen sein, die sich aus der Konnexität der beiden Bundesrechtsmittel ergeben (Art. 84 Abs. 2 OG).
 
3.- Eine eventuelle Verletzung des rechtlichen Gehörs erblickt die Beschwerdeführerin darin, dass in den "Ergebnissen" des Obergerichts (scil. S. 3 bis 5 des angefochtenen Urteils) jegliche Ausführungen über ihre Vorbringen anlässlich der mündlichen Berufungsverhandlung zum Thema "Ausbildung und Erwerbstätigkeit während der Ehe" fehlten. Die Beschwerdeführerin behält sich vor, das Fehlen jeglicher Darstellung über diese Aussagen als Verletzung des rechtlichen Gehörs zu rügen, sollte das Obergericht ihrem Antrag nicht entsprechen, die Plädoyernotizen und die Beilage A dazu, welche detailliert ihre Ausbildung sowie ihre Arbeitseinsätze während der Ehe zusammenstelle, zu den Akten zu nehmen. Es kann offen bleiben, ob eine derart bedingte Rüge zulässig ist (zur bedingten Beschwerde: BGE 125 II 192 E. 2b S. 196). Das Obergericht hat den entsprechenden Sachverhalt in E. 3d S. 10 ff.
 
des angefochtenen Urteils hinlänglich geschildert und damit die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör - nach Art. 4 aBV gleich wie nach Art. 29 Abs. 2 BV (BGE 126 V 130 E. 2a) - abgeleitete Behördenpflicht erfüllt, entscheidwesentliche Parteiäusserungen in den Akten festzuhalten bzw. zu Protokoll zu nehmen (vgl. dazu BGE 126 I 213 E. 2 S. 217; 124 V 372 E. 3b S. 375/376 und 389 E. 3b und 4 S. 390 f.). Ob und inwiefern Art. 51 Abs. 1 lit. b OG betreffend Parteiverhandlungen höhere Anforderungen an das Verfahren vor den kantonalen Behörden und an die Abfassung der Entscheide stellt, ist gegebenenfalls im Verfahren der Berufung zu prüfen (Art. 84 Abs. 2 OG; Poudret/Sandoz-Monod, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, II, Bern 1990, N. 3 zu Art. 51 OG, S. 364 mit weiteren Nachweisen).
 
4.- Gemäss Art. 125 ZGB ist nachehelicher Unterhalt geschuldet, wenn einem Ehegatten nicht zugemutet werden kann, "dass er für den ihm gebührenden Unterhalt unter Einschluss einer angemessenen Altersvorsorge selbst aufkommt" (Abs. 1); beim Entscheid, "ob ein Beitrag zu leisten sei und gegebenenfalls in welcher Höhe und wie lange" (Abs. 2 Ingress), sind insbesondere "die berufliche Ausbildung und die Erwerbsaussichten der Ehegatten sowie der mutmassliche Aufwand für die berufliche Eingliederung der anspruchsberechtigten Person" (Abs. 2 Ziffer 7) zu berücksichtigen. Die Beschwerdeführerin rügt, das Obergericht habe einzelne Beweise auf willkürliche Art und Weise gewürdigt und die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens sei auch im Ergebnis willkürlich.
 
a) Das Obergericht hat der Beschwerdeführerin nicht ein (tatsächlich) erzieltes, sondern ein (hypothetisch) erzielbares Erwerbseinkommen angerechnet und damit die Frage beantwortet, ob ihr die (Wieder-)Aufnahme oder Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit nach der Scheidung tatsächlich möglich und zumutbar ist. Soweit es um die "Zumutbarkeit" geht, liegt eine Rechtsfrage vor, die im Verfahren der eidgenössischen Berufung überprüft werden kann (BGE 126 III 10 E. 2b S. 13); die entsprechenden Ausführungen in der staatsrechtlichen Beschwerde dazu sind unzulässig (Art. 84 Abs. 2 OG). Was die "tatsächliche Möglichkeit" anbetrifft, ist zu unterscheiden, ob die obergerichtlichen Annahmen auf konkreten Anhaltspunkten oder auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhen; während Schlussfolgerungen aus allgemeiner Lebenserfahrung auf Berufung hin überprüft werden können, bilden solche aus Indizien Ergebnis der Beweiswürdigung (BGE 126 III 10 E. 2b S. 12). Im letzteren Bereich steht dem Sachrichter ein weiter Spielraum des Ermessens zu (BGE 83 I 7 S. 9; 120 Ia 31 E. 4b S. 40). Wie die Beschwerdeführerin richtig hervorhebt, kann eine Beweiswürdigung immerhin dann als willkürlich erscheinen, wenn der Sachrichter einseitig einzelne Beweise berücksichtigt und andere, aus denen sich Gegenteiliges ergeben könnte, ausser Acht lässt (BGE 100 Ia 119 E. 4 S. 127 und E. 6 S. 130; 118 Ia 28 E. 1b S. 30; zuletzt: Urteil des Bundesgerichts vom 22. März 1999, E. 3b, in: Praxis 88/1999 Nr. 163 S. 857 f.).
 
b) Das Obergericht hat die berufliche Ausbildung der Beschwerdeführerin als "solide" und "recht gut" qualifiziert.
 
Die Beschwerdeführerin rügt diese Bewertung als willkürlich, weil die Ausbildung zur Sekretärin an der Hotelfachschule in Lausanne im Jahre 1968/69 stattgefunden, lediglich ein Jahr gedauert und dabei je aus einem Halbjahr Ausbildung und Praktikum bestanden habe. Das Obergericht hat indessen nicht nur darauf abgestellt, welche Schulen die Beschwerdeführerin besucht hat, sondern insbesondere auf ihre berufliche Tätigkeit und Erfahrung. Es hat - wie der Beschwerdegegner hervorhebt - eine Gesamtwürdigung vorgenommen.
 
Nach eigenen Angaben war die Beschwerdeführerin vor der Heirat während fünf Jahren als Sekretärin tätig, und zwar zunächst im Hotelfach (gemäss Beilage A: drei Sommersaisons und das Ausbildungsjahr) und danach vollzeitlich in der Privatwirtschaft.
 
Während der Ehe arbeitete sie von 1971 bis 1975 stundenweise in der Verwaltung (Amt für Zivilschutz), von 1981 bis 1989 stundenweise im Tourismussektor (Verkehrsbüro) und von 1991 bis 1993 teilzeitlich (20 %) in der Privatwirtschaft (vgl. E. 3d/aa S. 10 des angefochtenen Urteils sowie Beilage A, act. 3/6).
 
Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin den Beruf einer Sekretärin in verschiedenen Branchen ausgeübt und nach den jeweiligen Arbeitsunterbrüchen offenkundig problemlos (selbst) Teilzeitstellen gefunden hat, lassen unter Willkürgesichtspunkten ohne weiteres den obergerichtlichen Schluss zu, sie habe - wenn allenfalls auch nicht auf Grund einer umfassenden Schulung, so doch in der Praxis ("on the job") - eine "solide" bzw. "recht gute" Ausbildung erhalten. Ihr Einwand vor Obergericht, es habe sich bei diesen beruflichen Tätigkeiten überwiegend um unqualifizierte Aushilfsarbeiten gehandelt, durfte als nicht glaubhaft ausser Acht gelassen werden: Diese Darstellung ist einerseits durch nichts belegt und erscheint andererseits im Vergleich zu ihren vorbehaltlosen Angaben in der ersten Einvernahme, auf die das Obergericht abgestellt hat, als reine Schutzbehauptung der Beschwerdeführerin (vgl. zur Beweiswürdigungsregel der "Aussagen der ersten Stunde": BGE 115 V 133 E. 8c und E. 11a S. 143 f.; 121 V 45 E. 2a S. 47).
 
c) Das Obergericht hat keinen zusätzlichen Unterhaltsbeitrag für die Übergangszeit bis zur Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin in den Berufsalltag vorgesehen.
 
Die Beschwerdeführerin hält dies insbesondere deshalb für willkürlich, weil sie den früher losen Kontakt zur Arbeitswelt 1993 - angeblich mit Zustimmung des Beschwerdegegners - völlig aufgegeben und sich dem gänzlich neuen Interessengebiet der Psychologie und Esoterik zugewendet habe, was nicht als neue berufliche Aktivität gewertet werden dürfe. Auch habe sie niemals eine auf den Beruf als Sekretärin bezogene Weiterbildung absolviert; beispielsweise verfüge sie über keinerlei PC-Kenntnisse.
 
Einen mutmasslichen Aufwand für die Wiedereingliederung nicht zu berücksichtigen, ist jedenfalls im Ergebnis nicht willkürlich (Art. 9 BV; BGE 126 I 168 E. 3a S. 170).
 
Denn die Beschwerdeführerin hat in ihrem gesamten Berufsleben immer wieder den Arbeitsplatz gewechselt und auch nach längeren Unterbrüchen (z.B. 1976 bis 1981) neue Teilzeitanstellungen gefunden, so dass - unter Berücksichtigung auch der "anziehenden Konjunktur" (E. 3d/aa S. 11 des angefochtenen Urteils) - die Annahme als vertretbar erscheint, sie werde sich nach der Scheidung ohne Übergangszeit wieder in das Berufsleben eingliedern können. Aus rechtlicher Sicht ist zudem entscheidend, dass beide Parteien bereits am Vermittlungsvorstand im Dezember 1998 die - alsdann im Herbst 1999 rechtskräftig gewordene - Scheidung wollten, weshalb die Beschwerdeführerin nach Treu und Glauben verpflichtet gewesen wäre, statt einfach passiv zu bleiben, sich ab jenem Zeitpunkt auf die Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit vorzubereiten und sich die ihr angeblich fehlenden Kenntnisse (z.B. EDV) anzueignen (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des Bundesgerichts vom 25. Januar 2001 i.S. G. c/ G., E. 2c Abs. 2 und 3 S. 8 f., 5C.222/2000). Der Beschwerdegegner verweist darauf zu Recht.
 
Das Obergericht hat eine Erwerbstätigkeit als Sekretärin für tatsächlich möglich gehalten und nicht angenommen, die Beschwerdeführerin könne auf dem Gebiet, dem sie sich ab 1993 zuwandte (z.B. fernöstliche Atmungs- und Bewegungstherapie), ein Einkommen erzielen. Aus rechtlicher Sicht ist entscheidend, dass es bei der Frage der Wiedereingliederung auf objektive Kriterien ankommt und nicht auf den persönlichen Wunsch der Beschwerdeführerin (vgl. BGE 121 III 297 E. 3b S. 299). Es ist daher auch nicht willkürlich, dass das Obergericht die tatsächliche Möglichkeit nicht näher geklärt hat, ob die Beschwerdeführerin auf dem besagten Gebiet ein ausreichendes Erwerbseinkommen erzielen könnte.
 
d) Schliesslich wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die tatsächlich angenommenen Verdienstmöglichkeiten.
 
Ihre Willkürrügen sind unbegründet. Zwar ist das Obergericht durchaus davon ausgegangen, die Beschwerdeführerin könne angesichts ihrer recht guten Ausbildung, ihrer Lebens- und Berufserfahrung sowie der relativ guten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt bei fünfundsiebzigprozentiger Erwerbstätigkeit ein Bruttoeinkommen von Fr. 3'195.-- bis Fr. 3'550.-- erzielen.
 
Wenn das Obergericht aber anschliessend erwogen hat, es sei von einem hypothetischen Durchschnittseinkommen der Beschwerdeführerin über die nächsten zehn Jahre von zwischen Fr. 3'000.-- bis Fr. 3'500.-- auszugehen, so beruhen diese Nettobeträge nicht - wie die Beschwerdeführerin geltend macht - auf einer unrichtigen Bemessung der vom erwähnten Bruttoverdienst abzuziehenden Soziallasten (6.1 % statt 12 - 15 %).
 
Im angenommenen Nettoeinkommen sind vielmehr "Schwankungen im Beschäftigungsgrad und allfällige Lohnerhöhungen eingeschlossen" (E. 3d/bb S. 12 des angefochtenen Urteils).
 
e) Auf Grund der vorgetragenen Rügen kann das Ergebnis der obergerichtlichen Beweiswürdigung zusammenfassend nicht als willkürlich bezeichnet werden, es sei der Beschwerdeführerin tatsächlich möglich, über die nächsten zehn Jahre aus Sekretariatsarbeit ein Nettoeinkommen von Fr. 3'000.-- bis Fr. 3'500.-- pro Monat zu erzielen. Ihre staatsrechtliche Beschwerde bleibt damit auch im Hauptanfechtungspunkt erfolglos.
 
5.- Die unterliegende Beschwerdeführerin wird kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.- Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
4.- Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
_____________
 
Lausanne, 19. April 2001
 
Im Namen der II. Zivilabteilung
 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
 
Der Präsident:
 
Der Gerichtsschreiber:
 
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