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Informationen zum Dokument  BGE 111 V 310  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. a) Art. 42 Abs. 1 IVG, soweit vorliegend von Bedeutung, gibt i ...
2. Streitig und näher zu prüfen ist, ob der Entschä ...
3. Im vorliegenden Fall hat die Versicherte für die Zeit ihr ...
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58. Urteil vom 14. November 1985 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Di Matteo und Di Matteo gegen Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen und Obergericht des Kantons Schaffhausen
 
 
Regeste
 
Art. 42 Abs. 4, 43 Abs. 3 IVG; Art. 35 Abs. 2, 36 Abs. 3 lit. d IVV.  
- Gesetzeskonforme Auslegung einer Verordnungsbestimmung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 111 V, 310 (311)A.- Die Versicherte leidet seit ihrer Geburt (26. Juli 1965) an Retinopathia pigmentosa beidseits, die eine fortschreitende, schwere Sehbehinderung zur Folge hatte. Die Invalidenversicherung übernahm die invaliditätsbedingten Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung zur Telefonistin in einer Eingliederungsstätte für Sehbehinderte. Im Rahmen dieser Ausbildung absolvierte sie ab Mitte Januar 1984 bei einer Bank in Bern ein Praktikum. Während dieser Zeit mietete sie im Blindenheim Bern ein Zimmer; für die Kosten von Unterkunft und Verpflegung kam die Invalidenversicherung auf.
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Am 3. Januar 1984 hatte sich die Versicherte gestützt auf Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung leichten Grades angemeldet. Diesen Anspruch lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen unter Hinweis auf Art. 35 Abs. 2 IVV ab; da die Invalidenversicherung während der Ausbildungszeit auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung übernehme, bestehe bis zum Abschluss der Ausbildung kein Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung (Verfügung vom 23. Februar 1984).
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B.- Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hiess die hiegegen erhobene Beschwerde in dem Sinne gut, dass es die Ablehnungsverfügung aufhob und die Sache an die Verwaltung zurückwies, damit diese prüfe, ob der Versicherten während ihres Aufenthaltes im Blindenheim Bern die Möglichkeit zur Pflege gesellschaftlicher Kontakte geboten werde; treffe dies zu, sei das Gesuch um Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung abzuweisen, andernfalls gutzuheissen (Entscheid vom 28. Dezember 1984).
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C.- Gegen diesen Entscheid führen das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) und die Versicherte je Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Während das BSV die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides beantragt, stellt die Versicherte das Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung des vorinstanzlichen BGE 111 V, 310 (312)Entscheides, ab 1. August 1983 eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades zuzusprechen.
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Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Versicherten. Das BSV und die Versicherte lassen sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gegenpartei je in ablehnendem Sinne vernehmen.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1. a) Art. 42 Abs. 1 IVG, soweit vorliegend von Bedeutung, gibt in der Schweiz wohnhaften invaliden Versicherten, die hilflos sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Als hilflos gilt, wer wegen der Invalidität für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 42 Abs. 2 IVG). Absatz 4 der Gesetzesbestimmung ermächtigt den Bundesrat, ergänzende Vorschriften zu erlassen, namentlich über die Bemessung der Hilflosigkeit sowie über den Anspruch des Versicherten auf eine Hilflosenentschädigung, wenn dieser wegen eines schweren Gebrechens für den Kontakt mit der Umwelt einer besonderen Hilfe von erheblichem Umfang bedarf. Diese letzte Erweiterung der Delegationsnorm geht auf das seit 1. Januar 1979 in Kraft stehende Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 über die 9. AHV-Revision zurück (AS 1978 I 407).
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Bereits vorher hatte der Bundesrat mit der Verordnungsänderung vom 29. November 1976, in Kraft seit 1. Januar 1977 (AS 1976 II 2655 f.), in Art. 36 IVV drei Grade der Hilflosigkeit umschrieben, nämlich die schwere (Abs. 1), die mittelschwere (Abs. 2) und die leichte Hilflosigkeit (Abs. 3). Nach der erwähnten Erweiterung der Delegationsbestimmung des Art. 42 Abs. 4 IVG hat der Bundesrat mit der seit anfangs 1979 geltenden Verordnungsänderung vom 5. April 1978 (AS 1978 I 440) den bisherigen Tatbeständen der leichten Hilflosigkeit gemäss Art. 36 Abs. 3 lit. a bis c IVV eine lit. d angefügt. Danach liegt eine leichte Hilflosigkeit auch dann vor, wenn der Versicherte trotz der Abgabe von Hilfsmitteln wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen kann.
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b) Laut Bericht des Blinden-Leuchtturms Zürich vom 8. Oktober 1981 hat der Sehrest der Versicherten seit einem Jahr BGE 111 V, 310 (313)bedeutend abgenommen, nämlich von 0,5 auf 0,1 mit einer nicht unbedeutenden Gesichtsfeldeinschränkung. Angesichts dieser Verhältnisse sind vorliegend die Voraussetzungen zur Annahme einer leichten Hilflosigkeit im Sinne von Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV offensichtlich erfüllt (vgl. BGE 107 V 29), was denn auch von keiner Seite in Abrede gestellt wird.
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a) Die gesetzliche Grundlage für die Einschränkung von Überentschädigungen beim Zusammenfallen von Leistungen der AHV und IV bildet Art. 43 IVG. Nach dessen Abs. 2 besteht u.a. kein Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung, wenn diese bei Eingliederungsmassnahmen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung überwiegend oder vollständig übernimmt, wobei der Bundesrat Ausnahmen vorsehen kann. Durch Abs. 3 von Art. 43 IVG erteilte der Gesetzgeber dem Bundesrat den Auftrag und die Kompetenz zum Erlass von Vorschriften zur Verhinderung von Überentschädigungen u.a. beim Zusammenfallen von mehreren Leistungen der Invalidenversicherung. Im Rahmen dieser Delegationsnormen hat der Bundesrat für das Zusammenfallen von Renten sowie Verpflegungs- und Unterkunftskosten bei Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen die Art. 24bis und Art. 28 Abs. 3 IVV erlassen. Diese Ordnung über die Leistungskumulation von Renten und Verpflegungs-/Unterkunftskosten ist auf Hilflosenentschädigungen sinngemäss anwendbar (BGE 108 V 81 Erw. 2a). Was speziell die Hilflosenentschädigung anbelangt, schliesst Art. 35 Abs. 2 IVV den Anspruch aus, solange der Versicherte sich zur Durchführung von Massnahmen gemäss den Art. 12, 13, 16 (erstmalige berufliche Ausbildung), 17, 19 oder 21 IVG in einer Anstalt aufhält (wobei im übrigen gemäss Verordnungsänderung vom 12. September 1984, in Kraft seit 1. Januar 1985, dieser Aufenthalt mindestens 24 Tage im Kalendermonat dauern muss; AS 1984 II 1187). Bei der erwähnten Einführung der lit. d von Art. 36 Abs. 3 IVV auf den 1. Januar 1979 war der BGE 111 V, 310 (314)vorstehende Art. 35 Abs. 2 IVV unverändert belassen worden (AS 1978 I 440).
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b) Das BSV macht zu Art. 35 Abs. 2 IVV geltend, diese Bestimmung beruhe auf der Überlegung, dass der Versicherte von der Invalidenversicherung nicht zwei Leistungen erhalten solle, die gleiche oder ähnliche Zwecke erfüllen. Bei Körperbehinderten erbringe das Pflegepersonal während des Aufenthalts in einer Anstalt weitgehend die Hilfe in den alltäglichen Lebensverrichtungen. Die Sehbehinderten befänden sich zwar in einer teilweise unterschiedlichen Situation, weil sie die Hilflosenentschädigung nach Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV nicht als Abgeltung für die Hilfe Dritter bei der Pflege und Betreuung, sondern für die Dienstleistungen zur gesellschaftlichen Kontaktnahme erhalten würden, wozu das Anstaltspersonal nur ausnahmsweise in der Lage sei. Dennoch müsse Art. 35 Abs. 2 IVV auch auf Hilflosenentschädigungen nach Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV angewendet werden, weil "keine diesbezügliche Ausnahmebestimmung" vorliege; eine andere Regelung bedürfte "einer Verordnungsänderung".
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Diese am Wortlaut von Art. 35 Abs. 2 IVV verhaftete Argumentation geht fehl. Art. 35 Abs. 2 IVV ist als Norm einer vom Bundesrat gestützt auf das IVG erlassenen unselbständigen Rechtsverordnung auf seine Gesetzmässigkeit hin überprüfbar (BGE 110 V 256 Erw. 4a mit Hinweisen). Im Streitfall hat der Richter von Amtes wegen zu prüfen, ob sich die angewendete Verordnungsbestimmung im Rahmen der generellen Vollzugsermächtigung oder gegebenenfalls einer speziellen formellgesetzlichen Delegationsnorm hält (BGE 110 V 68). Dabei ist die Verordnungsbestimmung gesetzeskonform auszulegen. Dies ergibt sich aus dem Prinzip des Vorranges des Gesetzes, wonach kein Rechtssatz einem ranghöheren Rechtssatz widersprechen darf (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl., Bd. I, S. 352). Die Auslegung der Verordnungsbestimmung hat sich demnach an den Grundsätzen und Regeln des übergeordneten formellen Gesetzes zu orientieren (vgl. GRISEL, Traité de droit administratif, S. 135). Unter diesem Gesichtspunkt der gesetzeskonformen Verordnungsauslegung kann Art. 35 Abs. 2 IVV nicht dahingehend verstanden werden, dass allein der Umstand des Anstaltsaufenthaltes eines in Eingliederung befindlichen Versicherten dessen Anspruch auf Hilflosenentschädigung ausschliesst. Die Anwendbarkeit von Art. 35 Abs. 2 IVV setzt vielmehr voraus, dass die Zusprechung einer Hilflosenentschädigung an einen Versicherten, BGE 111 V, 310 (315)der sich zum Zwecke der erwähnten Eingliederungsmassnahmen in einer Anstalt aufhält, zu einer gemäss Art. 43 Abs. 3 IVG auf dem Verordnungswege zu verhindernden Überentschädigung führen würde. Nichts anderes ergibt sich im Lichte von Art. 42 Abs. 4 IVG, auf den sich das BSV ebenfalls beruft. Denn diese Gesetzesbestimmung ermächtigt den Bundesrat lediglich, "ergänzende Vorschriften" zu erlassen, was durch die nähere Umschreibung der verschiedenen Hilflosigkeitsgrade in Art. 36 IVV geschehen ist. Erst wenn einer dieser Tatbestände erfüllt ist, stellt sich unabhängig davon die andere, im Rahmen von Art. 35 Abs. 2 IVV zu entscheidende Frage, um die es hier geht, ob sich aus der dem Versicherten grundsätzlich zustehenden Hilflosenentschädigung durch das Zusammentreffen mit andern Leistungen der Invalidenversicherung eine Überentschädigung ergibt.
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c) Tritt der Bezüger einer Entschädigung wegen schwerer oder mittelschwerer Hilflosigkeit (Art. 36 Abs. 1 und Abs. 2 IVV) zu einem der in Art. 35 Abs. 2 IVV genannten Zwecke in eine Anstalt ein, so würde die Weitergewährung der Hilflosenentschädigung in solchen Fällen tatsächlich regelmässig zu einer Überentschädigung führen. Das gleiche gilt auch für die Tatbestände der leichten Hilflosigkeit gemäss lit. a bis c von Art. 36 Abs. 3 IVV. Denn bei einem Anstaltsaufenthalt dürfte in diesen Fällen die leichte Hilfsbedürftigkeit regelmässig schon durch die dort gebotene Betreuung oder sonstige Dritthilfe abgegolten sein. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich der vorliegend erfüllte Tatbestand der leichten Hilflosigkeit gemäss Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV wesentlich von den vorstehenden lit. a bis c. Die Versicherte wendet zutreffend ein, dass keine Überentschädigung vorliegen kann, wenn die Invalidenversicherung einerseits im Rahmen eines Anstaltsaufenthaltes Pflege und Unterkunft übernimmt und anderseits durch Gewährung einer Hilflosenentschädigung nach Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV die erforderlichen Dienstleistungen zum Besuch auswärtiger Veranstaltungen vergütet. Wie selbst das BSV einräumt, werden die für schwer Sehbehinderte (und die andern in Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV erwähnten Versicherten) erforderlichen Dienstleistungen zur gesellschaftlichen Kontaktnahme nur ausnahmsweise vom Anstaltspersonal erbracht. Aus den Materialien zu dem im Rahmen der 9. AHV-Revision neugefassten Art. 42 Abs. 4 IVG geht denn auch klar hervor, dass mit der Einführung der neuen Entschädigung eine besondere Art der Hilfsbedürftigkeit abgegolten werden sollte. Mit einer Sonderleistung für BGE 111 V, 310 (316)Schwerinvalide sollte "an die zur Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt" erforderlichen invaliditätsbedingten Mehrkosten ein Beitrag entrichtet werden können (BBl 1976 III 34 f.). Während somit Art. 36 Abs. 3 IVV in den lit. a bis c jene Formen leichter Hilflosigkeit entschädigt, auf die bei einem Anstaltsaufenthalt regelmässig durch interne Vorkehren der Betreuung etc. Rücksicht genommen wird, will lit. d die Hilfsbedürftigkeit nach aussen abgelten. Auch ist es nicht entscheidend, ob der Versicherte effektiv den Kontakt mit der Umwelt sucht und wegen gebrechensbedingt notwendiger, erheblicher Dritthilfe tatsächlich Unkosten hat; die spezielle Leistungsart des Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV entschädigt vielmehr die Möglichkeit des Versicherten, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten. Es ist deshalb, entgegen der Auffassung des BSV, auch nicht von Belang, ob die Kontakte während des Anstaltsaufenthaltes oder am Wochenende, wenn sich der Versicherte zu Hause aufhält, gepflegt werden.
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d) Nach dem Gesagten führt die Zusprechung einer Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit nach Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV an einen Versicherten, der sich im Sinne von Art. 35 Abs. 2 IVV zur Eingliederung in einer Anstalt aufhält, regelmässig nicht zu einer Überentschädigung. In solchen Fällen vermag deshalb Art. 35 Abs. 2 IVV den Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung in aller Regel nicht auszuschliessen. Es besteht kein Anlass, die Voraussetzungen, unter denen dies doch ausnahmsweise der Fall sein könnte, vorliegend näher zu umschreiben. Die weiteren vom BSV erwähnten Gesichtspunkte der Verfahrensökonomie bzw. administrativen Einfachheit vermögen zu keinem anderen Ergebnis zu führen.
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BGE 111 V, 310 (317)Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Versicherten werden der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 28. Dezember 1984 und die Kassenverfügung vom 23. Februar 1984 aufgehoben, und es wird die Sache zur Zusprechung einer Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit an die Ausgleichskasse des Kantons Schaffhausen zurückgewiesen.
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II. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherung wird abgewiesen.
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