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Informationen zum Dokument  BGE 105 V 274  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidg. Versicherungsgeric ...
2. Es stellt sich vorab die Frage, ob über einen allfäl ...
3. Streitig ist somit zunächst die Frage, ob ein Nachzahlung ...
4. Im vorliegenden Fall hat die Versicherte die Kassenverfüg ...
5. Die Versicherte hat ferner die (ebenfalls vom 17. Dezember 197 ...
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59. Auszug aus dem Urteil vom 28. November 1979 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen Kolocova und Versicherungsgericht des Kantons Bern
 
 
Regeste
 
Art. 5 VwVG. Mit der Festsetzung des Leistungsbeginns in einer Verfügung wird der Anspruch auf Leistungen für die vorangehende Zeit in der Regel ausgeschlossen (Erw. 2).  
 
Sachverhalt
 
BGE 105 V, 274 (275)A.- Ruzena Kolocova musste sich im Dezember 1974 einer Diskushernienoperation unterziehen, welcher wegen postoperativ persistierender lumboischialgischer Schmerzen im September 1975 eine operative Revision folgte. Darnach meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Rente an. Nach der Darstellung des Versicherungsgerichts des Kantons Bern nahm sie die Anmeldung im Zusammenhang mit dem Gesuch um medizinische Leistungen im November 1975 vor, nach Auffassung der Ausgleichskasse des Kantons Bern erst am 5. Januar 1976. Mit Verfügung vom 17. Dezember 1976 sprach ihr die Ausgleichskasse eine ganze einfache Invalidenrente nebst Zusatzrente vom November 1975 bis August 1976 zu. Mit einer weiteren Verfügung gleichen Datums wurde ihr ab September 1976 eine halbe Rente zugesprochen. Gegen diese Verfügung beschwerte sich Ruzena Kolocova beim Versicherungsgericht des Kantons Bern, welches die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 1977, versandt am 9. August 1977, abwies. Am 23. September 1977 sprach Ruzena Kolocova auf der Gemeindeausgleichskasse vor und verlangte Ergänzungsleistungen. Die Gemeindeausgleichskasse besorgte die nötigen Unterlagen und leitete die Sache mit ihren Berechnungen für die Jahre 1976/1977 am 23. August 1978 an die Ausgleichskasse des Kantons Bern weiter, welche das Gesuch am 7. September 1978 mit der Begründung abwies, die Einkommensgrenze sei ab 1. September 1977 überschritten worden.
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B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich Ruzena Kolocova beim Versicherungsgericht des Kantons Bern und machte sinngemäss geltend, sie habe die Ergänzungsleistungen nicht nur ab 1. September 1977, sondern auch für die Jahre 1975 und BGE 105 V, 274 (276)1976 beantragt. Das Versicherungsgericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 13. Dezember 1978 in dem Sinne gut, dass die Ausgleichskasse zusätzlich über einen allfälligen Ergänzungsleistungsanspruch in der Zeit vom 1. November 1975 bis 31. August 1977 zu befinden habe.
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die kantonale Ausgleichskasse die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides. Sie vertritt die Auffassung, dass sie den Ergänzungsleistungsanspruch von Ruzena Kolocova entsprechend dem Datum der Anmeldung erst ab September 1977 habe prüfen können.
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Ruzena Kolocova beantragt sinngemäss die Bestätigung des vorinstanzlichen Entscheides. Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst sich der Auffassung der Ausgleichskasse an und beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Aus den Erwägungen:
 
1. Gemäss Art. 128 OG beurteilt das Eidg. Versicherungsgericht letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 97 und 98 lit. b bis h OG auf dem Gebiete der Sozialversicherung. Es liegt im Wesen des verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens, dass grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse beurteilt bzw. überprüft werden, zu denen die zuständige Verwaltungsbehörde vorgängig verbindlich - in Form einer Verfügung - Stellung genommen hat. Demgemäss bestimmt die Verfügung auch den Prozessgegenstand des Beschwerdeverfahrens. Die Verwaltungsverfügung ist somit Anfechtungsobjekt im Beschwerdeverfahren; ohne Verfügung über den bestimmten Gegenstand fehlt es an diesem Anfechtungsobjekt und mithin an einer Sachurteilsvoraussetzung (BGE 104 V 180, BGE 102 V 152, EVGE 1968 S. 224; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege 1979, S. 97).
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In ihrer Vernehmlassung an die Vorinstanz machte die Ausgleichskasse geltend, sie habe mit ihrer Verfügung festhalten wollen, "dass einerseits ab Anmeldemonat kein Ergänzungsleistungsanspruch bestehe und anderseits eine Nachzahlung für BGE 105 V, 274 (277)die Zeit vor dem 1. September 1977 nicht möglich sei". Die Vorinstanz folgte dieser Auslegung, indem sie annahm, dass "zumindest sinngemäss nach den gesamten Umständen auch über eine eventuelle Nachzahlung, d.h. eine rückwirkende Ausrichtung von Ergänzungsleistungen entschieden worden ist". Dieser Auffassung ist beizupflichten, kann doch allgemein gesagt werden, dass mit der Festsetzung eines Leistungsbeginns in einer Verfügung der Anspruch auf Leistungen für die vorangehende Zeit in der Regel ausgeschlossen wird, ausser es würden ganz besondere Umstände vorliegen. In diesem Sinne ist mit der Verfügung vom 7. September 1978 auch über einen allfälligen Anspruch auf Ergänzungsleistungen für die Zeit vor dem 1. September 1977 entschieden worden, weshalb die Vorinstanz zu Recht auf die dagegen erhobene Beschwerde eingetreten ist. Demgemäss hat auch das Eidg. Versicherungsgericht die Sache materiell zu behandeln.
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Nach Art. 3 Abs. 6 ELG ist der Bundesrat befugt, über Beginn und Ende des Anspruchs sowie über die Nachzahlung und die Rückforderung von Leistungen nähere Vorschriften aufzustellen. Er hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, indem er in Art. 21 Abs. 1 ELV festhält, dass - unter Vorbehalt von Art. 22 Abs. 1 ELV - der Anspruch auf Ergänzungsleistung erstmals für den Monat besteht, in welchem die Anmeldung eingereicht worden ist und sämtliche gesetzliche Voraussetzungen erfüllt sind. Eine Nachzahlung ist möglich, wenn die Anmeldung für die Ergänzungsleistung innert sechs Monaten seit der Zustellung der Verfügung über eine Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung eingereicht wird. Der Anspruch beginnt in diesem Fall mit dem Monat der Anmeldung für die Rente, frühestens jedoch mit der Rentenberechtigung (Art. 22 Abs. 1 ELV). Bei einer Herabsetzung einer laufenden Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder der Invalidenversicherung mittels Verfügung findet Abs. 1 Anwendung (Art. 22 Abs. 2 ELV).
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Gemäss den Ausführungen der Vorinstanz führt die vernünftige Auslegung von Art. 22 Abs. 1 ELV dazu, dass der Beginn der Frist auf den Zeitpunkt der Rechtskraft der massgeblichen Verfügung gelegt wird. Demgegenüber vertritt die Ausgleichskasse in Übereinstimmung mit dem Bundesamt für Sozialversicherung BGE 105 V, 274 (278)die Auffassung, aus dem Wortlaut von Art. 22 Abs. 1 ELV sei zu schliessen, dass eine Nachzahlung von Ergänzungsleistungen nur möglich sei, wenn eine entsprechende Anmeldung innert sechs Monaten seit der Zustellung der Rentenverfügung eingereicht wurde.
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Die Beurteilung dieser Frage hängt davon ab, was für eine Bedeutung dem in Art. 22 Abs. 1 ELV enthaltenen Begriff der Verfügung beizumessen ist. Entgegen der Ansicht der Ausgleichskasse ist darunter nicht nur die Kassenverfügung zu verstehen, sondern bei Weiterzug derselben auch der Entscheid der nächsthöheren kantonalen Instanz und letztlich auch das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts. Dass ein der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegender Beschwerdeentscheid eine Verfügung darstellt, ergibt sich klar aus Art. 98 in Verbindung mit Art. 97 OG. Nach Lehre und Praxis des Verwaltungsrechts kommt in Analogie dazu bei Weiterzug dem Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts ebenfalls Verfügungscharakter zu (vgl. GYGI, a.a.O., S. 98).
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Ob in Art. 22 Abs. 1 ELV lediglich die weiterziehbare Kassenverfügung oder bei Weiterzug allenfalls jene der entsprechenden Gerichtsinstanz gemeint ist, kann nur aus dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift geschlossen werden. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, will die Bestimmung dem Versicherten sechs Monate Zeit einräumen, um sich über die Erfolgsaussichten einer allfälligen Ergänzungsleistungsanmeldung klar zu werden. Zieht ein Versicherter die Verfügung einer unteren Instanz über die AHV- oder IV-Rente weiter, steht die Berechnungsgrundlage der Ergänzungsleistung noch in Frage. Weder der Versicherte noch die Versicherung können in diesem Zeitpunkt eine gesicherte Beurteilung über den Ergänzungsleistungsanspruch vornehmen. Daraus folgt aber, dass unter Verfügung im Sinne von Art. 22 Abs. 1 ELV nur die rechtskräftige Verfügung verstanden werden darf. In Präzisierung der Ausführungen der Vorinstanz kommt es daher für die Frist von Art. 22 Abs. 1 ELV auf den Zeitpunkt an, in welchem die in Rechtskraft erwachsene Verfügung zugestellt wurde.
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4. Im vorliegenden Fall hat die Versicherte die Kassenverfügung vom 17. Dezember 1976, mit welcher ihr eine ganze einfache Invalidenrente vom November 1975 bis August 1976 zugesprochen worden ist, nicht weitergezogen. Diese ist daher in Rechtskraft erwachsen. Wenn die Versicherte daher für die BGE 105 V, 274 (279)nämliche Zeit Ergänzungsleistungen geltend machen wollte, hätte sie dies nach Art. 22 Abs. 1 ELV binnen sechs Monaten seit der Zustellung jener Verfügung tun müssen. Da sie mit der Anmeldung vom 23. September 1977 diese halbjährige Frist offensichtlich nicht eingehalten hat, steht ihr für die Zeit bis August 1976 zum vornherein kein Anspruch auf Ergänzungsleistungen zu.
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5. Die Versicherte hat ferner die (ebenfalls vom 17. Dezember 1976 datierende) Verfügung, mit welcher die ganze Rente ab September 1976 auf eine halbe reduziert worden ist, weitergezogen. Das Versicherungsgericht des Kantons Bern hat die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 1977, versandt am 9. August 1977, abgewiesen. Da die Versicherte die Sache darnach auf sich beruhen liess, trat jener Entscheid in Rechtskraft. Es liegt demnach auf der Hand, dass die Versicherte mit der Anmeldung vom 23. September 1977 für die von der zweiten Verfügung erfasste Zeit ab September 1976 die Ergänzungsleistungen nach Art. 22 Abs. 1 und 2 ELV rechtzeitig geltend gemacht hat. Da die Ausgleichskasse den allfälligen Ergänzungsleistungsanspruch für die Zeit vom 1. September 1976 bis 31. August 1977 wegen angeblich verspäteter Anmeldung nicht überprüft hat, muss sie dies nachholen.
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Wenn die Vorinstanz auch den Anspruch auf Ergänzungsleistungen für die Zeit vom November 1975 bis August 1976 überprüft haben wollte, so geschah dies deshalb, weil sie die beiden Rentenverfügungen offenbar als eine Einheit betrachtete. Da die Versicherte seinerzeit aber lediglich die Herabsetzung der ganzen auf eine halbe Rente und deren Berechnung angefochten hat, ist die Anmeldung für Ergänzungsleistungen vor dem 1. September 1976, wie schon gesagt, als verspätet zu beurteilen.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 13. Dezember 1978 in dem Sinne abgeändert, dass die Verwaltung zu prüfen und darüber zu verfügen hat, ob Ruzena Kolocova in der Zeit vom 1. September 1976 bis 31. August 1977 einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat.
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