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Informationen zum Dokument  BGE 127 IV 106  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Hat der Richter eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Tat zu beurt ...
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16. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. März 2001 i.S. X. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 68 Ziff. 2 StGB; (teilweise) retrospektive Konkurrenz bei ausländischem Abwesenheitsurteil.  
 
Sachverhalt
 
BGE 127 IV, 106 (106)Das Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F verurteilte den kolumbianischen Staatsangehörigen X. am 9. Juni 1998 wegen Betäubungsmittel- und Zolldelikten, begangen im Juli 1997, zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.
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Das Kreisgericht IX Schwarzenburg-Seftigen sprach X. am 28. April 2000 schuldig der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel, mehrfach, mengenmässig qualifiziert, gewerbs- und bandenmässig begangen gemeinsam mit Y. durch Entgegennahme, Ausfuhr, Durchfuhr, Beförderung, Einfuhr, Abgabe, Verkauf und Anstaltentreffen hiezu von mindestens 13,330 kg Kokaingemisch in der Zeit von Dezember 1996 bis zum 21. Februar 1999, und verurteilte ihn deswegen zu acht Jahren Zuchthaus sowie zu 15 Jahren Landesverweisung.
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Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X. am 31. August 2000 gestützt auf den rechtskräftigen erstinstanzlichen Schuldspruch in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren und zu 15 Jahren Landesverweisung.
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BGE 127 IV, 106 (107)Der Kassationshof des Bundesgerichts weist die von X. erhobene eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ab.
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Aus den Erwägungen:
 
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a) Der Beschwerdeführer vertritt wie bereits im Appellationsverfahren die Auffassung, vorliegend sei ein Fall von teilweiser retrospektiver Konkurrenz im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB gegeben, da er einen Teil der Gegenstand des angefochtenen Urteils bildenden Straftaten vor seiner Verurteilung durch das französische Gericht begangen habe. Er macht unter Berufung auf BGE 115 IV 17 E. 5b geltend, in Fällen dieser Art sei grundsätzlich eine Gesamtstrafe auszusprechen. Wenn die vor der ersten Verurteilung begangene Tat schwerer wiege als die nachher begangene, sei die Dauer der für die frühere Tat ausgesprochenen (Zusatz-)Strafe unter Berücksichtigung der späteren Tat angemessen zu erhöhen. Wenn dagegen die nach der ersten Verurteilung begangene Tat schwerer wiege, dann sei von der für diese Tat verwirkten Strafe auszugehen und deren Dauer wegen der vor der ersten Verurteilung begangenen Tat angemessen zu erhöhen, und zwar unter Berücksichtigung des Umstandes, dass für die frühere Tat eine Zusatzstrafe auszufällen sei. Werde vorliegend das Urteil des französischen Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 berücksichtigt, so sei auf die Ausfällung einer Zusatzstrafe für die zeitlich vor diesem Urteil verübten Taten zu verzichten und eine Strafe lediglich für die nach diesem Urteil begangenen Taten auszusprechen, wenn der Richter, der das zweite Urteil fälle, zum Schluss gelange, dass im ersten Urteil auch bei Kenntnis aller vor dessen Ausfällung begangenen Taten keine höhere Strafe ausgesprochen worden wäre. Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, dass das Strafmass des ersten Urteils auch bei Kenntnis der fünf Reisen des Beschwerdeführers vor Juni 1998 bestimmt nicht über die tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von zehn Jahren hinausgegangen wäre. Dies ergebe sich schon daraus, dass diese Strafe über dem Antrag des Staatsanwalts für sämtliche Straftaten liege. Eine Berücksichtigung von Art. 68 Ziff. 2 StGB bei der Strafzumessung müsse eine erhebliche BGE 127 IV, 106 (108)Herabsetzung der Freiheitsstrafe sowie auch der Nebenstrafe der Landesverweisung zur Folge haben.
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b) Nach der Auffassung der Vorinstanz bildet das Urteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 keine hinreichend feste Grundlage für eine allfällige (teilweise) Zusatzstrafe. Durch diesen Entscheid sei der Beschwerdeführer nicht im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB "verurteilt" worden. Der französische Abwesenheitsentscheid sei mangels hinreichender Beständigkeit kein Ersturteil. Er könne nach dem französischen Prozessrecht, wie sich auch aus einem Schreiben des Procureur de la République du Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 16. Juli 1999 ergebe, durch ein blosses Wiederaufnahmebegehren ("opposition") des Beschwerdeführers innert einer noch anzusetzenden Frist ohne weiteres aufgehoben werden. Dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung nach Frankreich ein solches Gesuch stellen werde, habe er bereits deutlich kundgetan. In diesem Fall werde aber in Sachen des Beschwerdeführers nach dessen Auslieferung eine neue, ordentliche Gerichtsverhandlung stattfinden. Das französische Gericht werde einen neuen Entscheid fällen, in welchem der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werde, die voraussichtlich deutlich unter der im Abwesenheitsurteil festgelegten Freiheitsstrafe von zehn Jahren liegen werde. Dies ergebe sich einerseits aus dem Vergleich dieser Strafe mit den Strafen, zu welchen die beiden Mitangeschuldigten des Beschwerdeführers durch das französische Gericht verurteilt worden seien, und andererseits daraus, dass es sich bei der Freiheitsstrafe von zehn Jahren um die zulässige Höchststrafe handle. Demnach sei für sämtliche überwiesenen Straftaten, die der Beschwerdeführer teils vor, teils nach seiner Verurteilung durch das französische Gericht begangen habe, eine selbstständige Strafe ohne Berücksichtigung von Art. 68 Ziff. 2 StGB und der diesbezüglichen Rechtsprechung auszufällen. Es werde am französischen Gericht liegen, gegebenenfalls in seinem neuen Urteil eine Zusatzstrafe auszufällen, wobei offen bleiben könne, ob das französische Recht eine Art. 68 Ziff. 2 StGB entsprechende Bestimmung kenne. Es könne auch dahingestellt bleiben, ob im internationalen Verhältnis eine Art. 350 Ziff. 2 StGB entsprechende Norm bestehe und wie diese anzuwenden wäre.
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c) Art. 68 Ziff. 2 StGB gilt auch im Fall einer im Ausland ausgesprochenen Grundstrafe (BGE 109 IV 90 E. 2b), und zwar auch, wenn sie Taten betrifft, die nicht unter die schweizerische Gerichtsbarkeit fallen (BGE 115 IV 17 E. 5a). Der Täter ist im Sinne von BGE 127 IV, 106 (109)Art. 68 Ziff. 2 StGB "verurteilt", wenn das Urteil gefällt worden ist, unter der Voraussetzung, dass es später rechtskräftig wird (BGE 109 IV 87 E. 2a). Allerdings hat der Richter, bevor er eine Zusatzstrafe ausfällt, die Rechtskraft des ersten Urteils abzuwarten. Denn nur ein rechtskräftiges Urteil bildet eine hinreichend feste Grundlage für eine Zusatzstrafe. Ist beispielsweise gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegt worden, muss zuerst der Ausgang des Berufungsverfahrens abgewartet werden; denn dieses könnte ergeben, dass der Beschuldigte freigesprochen oder lediglich zu einer Busse verurteilt wird, womit die Voraussetzung für eine Zusatzstrafe entfiele (BGE 102 IV 242 E. 4a, mit Hinweis).
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aa) Das Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 wird auf ein blosses Wiederaufnahmegesuch ("opposition") des Beschwerdeführers hin ohne weitere Bedingungen aufgehoben. Im Auslieferungsersuchen vom 16. Juli 1999 hat der Procureur de la République beim Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F unter anderem Folgendes festgehalten:
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"Si Monsieur ... (X.) ... est remis aux autorités françaises suite à
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la présente demande d'extradition, le mandat d'arrêt recevra exécution. Le
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jugement par défaut lui sera notifié et il aura la possibilité de former
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opposition.
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S'il forme opposition, le jugement du 9 juin 1998 sera considéré comme
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non avenu. Monsieur ... (X.) ... comparaîtra dans le délai maximum de 8
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jours devant le Tribunal Correctionnel de Bobigny en état de détention
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provisoire et avec l'assistance d'un avocat s'il en fait la demande. Il
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sera jugé à nouveau par cette juridiction."
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Nicht zuletzt auch in Anbetracht dieser Erklärung hat das Bundesgericht mit Entscheid vom 10. April 2000 die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen den Auslieferungsentscheid des Bundesamtes für Polizeiwesen abgewiesen (siehe Urteil des Bundesgerichts vom 10. April 2000, E. 5c).
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Der Beschwerdeführer hat auch bereits kundgetan, dass er "opposition" erheben werde. So erklärte er anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht IX Schwarzenburg-Seftigen, dass er das französische Urteil nicht akzeptieren werde, da er unschuldig sei.
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Das französische Urteil wird somit aller Voraussicht nach dahinfallen.
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bb) Unter diesen Umständen bildet das Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz keine hinreichend feste Grundlage für die Ausfällung einer (teilweisen) Zusatzstrafe. Die BGE 127 IV, 106 (110)Vorinstanz hat demnach ein Vorgehen in (teilweiser) Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB zu Recht abgelehnt.
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d) Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, ob die Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB im vorliegenden Fall auch aus weiteren Gründen ausser Betracht fiele.
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Insbesondere kann auch dahingestellt bleiben, ob an der Rechtsprechung, wonach Art. 68 Ziff. 2 StGB auch im Fall einer im Ausland rechtskräftig ausgesprochenen Grundstrafe gilt, uneingeschränkt festzuhalten sei.
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e) Im vorliegenden Verfahren ist nicht zu prüfen, ob das französische Recht eine Art. 68 Ziff. 2 StGB (betreffend retrospektive Konkurrenz) entsprechende Bestimmung kennt und ob diese gegebenenfalls auch bei einem ausländischen Ersturteil Anwendung findet. Es kann auch dahingestellt bleiben, wie vorzugehen wäre, falls das französische Gericht in einem neuen, ordentlichen Verfahren mangels einer Art. 68 Ziff. 2 StGB entsprechenden Bestimmung oder aus andern Gründen bei der Strafzumessung keine Rücksicht auf die im angefochtenen Urteil ausgefällte Strafe nehmen sollte. Allerdings dürfte in diesem Fall ein Vorgehen gemäss Art. 350 Ziff. 2 StGB schon deshalb ausser Betracht fallen, weil der schweizerische Richter nicht ein ausländisches Urteil aufheben kann. Schliesslich kann auch offen bleiben, wie vorzugehen wäre, wenn das französische Abwesenheitsurteil trotz eines diesbezüglichen Wiederaufnahmebegehrens des Beschwerdeführers nicht aufgehoben werden sollte.
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