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Informationen zum Dokument  BGE 97 IV 46  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
4. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass in Dornach un ...
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14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. April 1971 i.S. Stolle gegen Justizdirrektion des Kantons Appenzell A. Rh.
 
 
Regeste
 
Art. 1 Abs. 1 Bundesgesetz über die Handelsreisenden. Zum Begriff des Handelsreisenden. Änderung der Rechtsprechung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 97 IV, 46 (46)A.- 1.- Manfred Stolle betreibt in Recklingen (Deutschland) einen Buch- und Zeitschriftenvertrieb. In der Schweiz hat er keine Geschäftsniederlassung, hingegen eine Postfachadresse in Basel. Das Postfach wird von einer gewissen Frau Steiner zwei- bis dreimal wöchentlich geleert und die Korrespondenz an Stolle weitergeleitet, wofür Frau Steiner eine Entschädigung von Fr. 60.- im Monat erhält.
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2.- Ende Juli 1968 sprachen bei Frau Trudy Herndl in Dornach zwei ausländische Studenten vor und überredeten sie zum Abschluss eines Abonnements der Monatszeitschrift "Westermann". Sie gaben an, für den Buch- und Zeitschriftenvertrieb BGE 97 IV, 46 (47)Stolles tätig zu sein, und waren nicht im Besitz der Taxkarte für Handelsreisende.
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Ein deswegen vom Gerichtspräsidenten von Dorneck-Thierstein gegen Stolle angehobenes Strafverfahren wurde in der Folge vom Verhöramt Trogen weitergeführt.
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3.- Am 17. Dezember 1968 erschien in Heiden bei Frau Ruth Zanetti-Kocher ein Student angeblich belgischer Nationalität, um Bestellungen für "Grzimeks Tierleben", "Kunst im Bild" und "Brockhaus Enzyklopädie" aufzunehmen. Der Bestellschein, auf welchem der Name der Lieferfirma fehlte, entsprach dem Frau Herndl ausgestellten. Der Student gab vor, er müsse mit seinen Kameraden 200 Bestellungen vorweisen, um das Stipendiengeld zu erhalten. Frau Zanetti bestellte 13 Bände von "Grzimeks Tierleben", worauf sie am 2. Januar 1969 bereits eine Kaufsbestätigung Stolles erhielt.
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4.- Am 18. März 1969 stellte die Polizei fest, dass der niederländische Student Onno Mulder in Bremgarten bei Bern versuchte, Bestellungen für die vorgenannten Bücher aufzunehmen, ohne im Besitze einer Handelsreisendenkarte zu sein. Der von der Polizei behändigte Bestellschein entsprach den in den früheren Fällen abgegebenen Belegen, und der von Mulder verteilte Prospekt bezeichnete als Vertriebsstelle: "Manfred Stolle, Buch- und Zeitschriftenverlag, Basel 5, Postfach 340". Das wegen dieses Falles gegen Stolle in Bern angehobene Strafverfahren wurde in der Folge an die Behörden des Kantons Appenzell A. Rh. abgetreten.
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B.- Am 20. Mai 1970 verurteilte das Bezirksgericht Vorderland Stolle wegen fortgesetzter Widerhandlung gegen Art. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 lit. a und Art. 5 des Bundesgesetzes über die Handelsreisenden (HRG) sowie wegen fortgesetzter Übertretung der Art. 3 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 3 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) zu einer auf drei Jahre bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von einem Monat und zu Fr. 1'000.-- Busse.
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Auf Appellation Stolles stellte das Obergericht des Kantons Appenzell A. Rh. das vom Richteramt Dorneck-Thierstein übernommene Verfahren wegen Verjährung ein, sprach im übrigen den Appellanten bloss der wiederholten Widerhandlung gegen Art. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 lit. a und Art. 5 HRG schuldig und verurteilte ihn gemäss Art. 14 Abs. 1 lit. a BGE 97 IV, 46 (48)HRG zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 500.--.
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C.- Stolle führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und er von Schuld und Strafe freizusprechen. Die Verfahrenskosten seien dem Staat Appenzell A. Rh. aufzuerlegen und dieser zu verpflichten, den Beschwerdeführer angemessen ausserrechtlich zu entschädigen.
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Die Justizdirektion des Kantons Appenzell A. Rh. hat sich mit dem Antrag auf Abweisung der Beschwerde vernehmen lassen.
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Aus den Erwägungen:
 
4. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass in Dornach und Bremgarten von Studenten ohne Taxkarte namens seiner Firma auf von dieser vertriebene Bücher Bestellungen aufgesucht worden sind. Dagegen wendet er ein, er habe die betreffenden Bestellungen nicht aufsuchen lassen; denn er habe von den fraglichen Vertretern keine Kenntnis gehabt, weil sie im Namen von Werbeagenturen tätig gewesen seien, mit denen er zusammengearbeitet habe. Ein Aufsuchenlassen im Sinne des Gesetzes käme nur in Frage, wenn zwischen ihm und den betreffenden Studenten ein Anstellungs- oder Mandatsverhältnis bestanden hätte. In BGE 82 IV 44 unten habe denn auch der Kassationshof als Kriterium für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Firmainhabers eine vertragliche Beauftragung des Vertreters angenommen. Ein solches Vertragsverhältnis sei nicht nachgewiesen. Auch gehe aus den Bestellungsformularen nicht hervor, wer der Verkäufer gewesen sei.
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Die Vorinstanz stellt demgegenüber fest, Stolle habe bewusst ausländische Studenten für sich arbeiten und Bestellungen aufsuchen lassen. Das ergebe sich aus den Aussagen Mulders vor Richteramt Bern (recte: vor der Kantonspolizei), wonach er gleichentags in die Schweiz eingereist sei, um für Stolle, nicht für irgendeine ausländische Werbeagentur, Bestellungen aufzunehmen. Auch habe der genannte Student über entsprechende Prospekte verfügt. Schliesslich habe auch nach den Angaben der Frau Zanetti der Student, welcher bei ihr vorgesprochen habe, erklärt, dass er für Manfred Stolle - und nicht für eine Werbeorganisation - tätig sei. Diese Feststellungen sind tatsächlicher Natur und binden den Kassationshof (Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Sie können deshalb mit der Nichtigkeitsbeschwerde BGE 97 IV, 46 (49)nicht angefochten werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Soweit der Beschwerdeführer mit der Behauptung, es gehe aus den Bestellungsformularen nicht hervor, wer der Verkäufer gewesen sei, zu bestreiten versucht, dass die fraglichen Studenten für ihn geworben haben, verstösst er gegen diese Vorschriften und ist daher nicht zu hören.
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a) Ist aber nach dem Gesagten davon auszugehen, dass jene Studenten für Stolle - und nicht für irgendeine Werbeagentur - Bestellungen aufgesucht haben und dass dies mit Wissen des Beschwerdeführers geschehen ist, so kann dem Obergericht nicht vorgeworfen werden, es habe mit der rechtlichen Unterstellung dieses Sachverhaltes unter Art. 14 Abs. 1 lit. a HRG Bundesrecht verletzt, weil es ausser acht gelassen habe, dass der Beschwerdeführer die besagten Studenten nicht persönlich gekannt habe. Abgesehen davon, dass es sich hiebei um eine unbewiesene Behauptung handelt, verlangt das Gesetz eine solche Kenntnis auf seiten des Vertretenen nicht. Käme darauf etwas an, so könnte der verantwortliche Leiter eines Unternehmens mit starker Arbeitsteilung, der untergeordnete Angestellte damit betraut, durch ihm nicht bekannte Dritte Bestellungen auf Waren seiner Firma aufsuchen zu lassen, sich mit jener Ausrede stets seiner Pflicht entschlagen, für die Beschaffung der Ausweiskarten seiner Vertreter besorgt zu sein (vgl. BGE 88 IV 148). Damit würde jedoch das Gesetz umgangen und Missbräuchen Tür und Tor geöffnet.
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b) Was sodann den Einwand anbelangt, ein Aufsuchenlassen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 lit. a HRG setze ein Anstellungs- oder Mandatsverhältnis zwischen dem Handelsreisenden und seiner Firma voraus, so lässt er sich im wesentlichen auf einen nicht veröffentlichten Entscheid des Kassationshofes aus dem Jahre 1948 stützen, wo ausgeführt wurde, Vertreter im Sinne von Art. 1 HRG sei nicht schon, wer ein einzelnes Geschäft vermittle, sondern nur wer aufgrund eines mit dem Vertretenen bestehenden Vertragsverhältnisses von einiger Ständigkeit für diesen Bestellungen aufsuche (Urteil vom 28. Mai 1948 i.S. Aeschbacher). Dagegen bleibt offen, ob auch BGE 82 IV 44 E. 1 in gleichem Sinne zu verstehen sei, weil darin neben dem "selbständigen Agenten" einzig noch der "unselbständige Vertreter" erwähnt wurde. Der vom Beschwerdeführer allein angerufenen, in Erwägung 2 des zuletzt genannten Entscheides enthaltenen Feststellung, dass der nicht als Agent handelnde Vertreter BGE 97 IV, 46 (50)vertraglich mit dem Aufsuchen von Bestellungen beauftragt worden sei, weshalb die Firma für den Ausweis habe sorgen müssen, kann jedenfalls nur entnommen werden, dass im konkreten Fall ein solches Auftragsverhältnis bestanden hatte, nicht aber auch, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit stets eine vertragliche Vereinbarung zwischen Vertreter und Vertretenem voraussetze.
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Doch wie dem auch sei, muss man sich ernstlich fragen, ob die im obgenannten nicht veröffentlichten Urteil dem Begriff des Vertreters nach Art. 1 HRG gegebene Auslegung nicht zu eng sei. Zwar wird man weiterhin daran festhalten müssen, dass nicht schon Handelsreisender ist, wer eine einzelne Bestellung aufnimmt, sondern nur, wer eine auf Bestellungsaufsuche gerichtete Reisetätigkeit von einiger Dauer ausübt. Dagegen verlangt der Grundgedanke des HRG, der auf den Schutz einerseits des ortsansässigen Handels gegen die Konkurrenz auswärtiger Firmen und anderseits des Publikums vor Missbräuchen im Reiseverkehr gerichtet ist (BGE 70 IV 43Nr. 10, BGE 82 IV 45 E. 3 a, vgl. auch BGE 85 IV 162), dass jede auf eine gewisse Dauer angelegte Reisetätigkeit der genannten Art, bei welcher der Reisende als Vertreter auftritt und dazu bevollmächtigt ist, dem HRG unterstellt wird, unbekümmert darum, ob ihr ein zwischen dem Vertreter und dem Vertretenen abgeschlossenes Vertragsverhältnis zugrunde liegt oder ob sie im blossen Rahmen einer direkten Stellvertretung gemäss Art. 32 OR ausgeübt wird. Die Interessensphäre des lokalen Handels oder des Publikums nämlich kann durch den Kleinreisenden einer auswärtigen Unternehmung, der ohne irgendwelche vertragliche Bindung zur Bestellungsaufsuche bloss ermächtigt ist, ebensosehr verletzt werden wie durch den Reisenden, der zu seiner Firma in einem Anstellungs-, Auftrags- oder sonstigen Vertragsverhältnis steht. Die ratio legis rechtfertigt es somit - und der Wortlaut des Gesetzes steht dem keineswegs entgegen -, abweichend von der im Falle Aeschbacher vertretenen Auffassung in den Begriff des Vertreters nach Art. 1 Abs. 1 HRG auch den Reisenden einzubeziehen, der zum Vertretenen nicht in einem Vertragsverhältnis steht, von ihm jedoch zur Ausübung seiner Vertretertätigkeit ermächtigt worden ist und sich tatsächlich als dessen Vertreter ausgibt.
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Mit dem Obergericht ist daher anzunehmen, Stolle habe im Sinne von Art. 14 Abs. 1 lit. a HRG durch die fraglichen Studenten BGE 97 IV, 46 (51)Bestellungen aufsuchen lassen; denn nach der bereits angeführten verbindlichen Annahme der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer jene bewusst für sich arbeiten lassen, und zwar nicht bloss zur Aufnahme einer einzelnen Bestellung. Das kann in Verbindung mit der anderen Erwägung des angefochtenen Urteils, wonach ein direkter Auftrag zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals des Aufsuchenlassens von Bestellungen nicht nötig sei, nur bedeuten, dass Stolle es wissentlich zugelassen hat, dass die fraglichen Studenten als seine Vertreter handelten. Diese Feststellung enthält zusammen mit der weiteren vorinstanzlichen Annahme, dass die genannten Studenten sich tatsächlich als Vertreter Stolles ausgegeben haben, alle Elemente einer direkten Stellvertretung, nämlich ein Handeln im Namen des Vertretenen und die Vertretungsmacht. Diese letztere ist - und das fällt hier entscheidend ins Gewicht - nicht nur ein selbständiges, von einem Kausalverhältnis (Dienstvertrag, Auftrag usw.) unabhängiges Rechtsgeschäft (BGE 78 II 372E. 2 a), sondern sie bedarf auch keiner Form mit der Folge, dass sie in konkludenter Weise erteilt werden kann (BGE 62 II 154; BECKER, Kommentar, N. 5 zu Art. 32 OR; OSER/SCHÖNENBERGER, Kommentar, N. 25 zu Art. 32 OR; GUHL, Das schweizerische OR, 4. Aufl., S. 129; v. TUHR/SIEGWART, Allgemeiner Teil des schweizerischen OR, S. 310). Entsprechend wurde von Rechtsprechung und Lehre angenommen, dass, wer es wissentlich geschehen lässt, dass ein anderer sich als sein Vertreter benimmt, diesem damit Vollmacht erteilt (BGE 31 II 672,BGE 54 II 281und die bereits angeführte Literatur). Mindestens das aber hat der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nach den genanntem Feststellungen des Obergerichtes getan.
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