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Informationen zum Dokument  BGE 138 III 489  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. (...) ...
3. Im Zeitpunkt der Errichtung des Erbvertrags am 11. November 19 ...
4. Unter Hinweis auf das Erbvertragsverbot im brasilianischen Rec ...
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71. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.A. und A.B. gegen B.A. und Mitb. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
5A_473/2011 vom 29. Mai 2012
 
 
Regeste
 
Art. 19 und 95 IPRG; Erbvertragsstatut und ausländisches Erbvertragsverbot.  
 
Sachverhalt
 
BGE 138 III, 489 (490)X. (Ehemann), Jahrgang 1918, und Y. (Ehefrau), Jahrgang 1923, heirateten 1958 in São Paolo, Brasilien. Ihre Ehe blieb kinderlos.
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Die Ehegatten X. und Y. liessen am 11. November 1992 an ihrem Wohnsitz in Appenzell einen Erbvertrag beurkunden, in dem sie sich gegenseitig als Alleinerben ihres ganzen Nachlasses einsetzten (Ziff. I). Jeder Ehegatte setzte für den Fall, dass er den anderen überleben sollte, die Geschwisterkinder und deren Nachkommen zu gleichen Teilen als Erben ein, d.h. zu einem Viertel die Kinder des Bruders A. von Y. sowie zu je einem Viertel die Kinder der beiden Schwestern B. und C. und des Bruders D. von X. (Ziff. II/2). Die Ehegatten erklärten, dass auf den Nachlass beider Ehegatten das schweizerische Recht anwendbar sein solle (Ziff. III des Erbvertrags).
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Am 10. Juni 2003 verstarb X. in Frankreich. Er war brasilianischer und deutscher Staatsangehöriger.
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Y. errichtete am 5. Januar 2005 in Paris, am 2. Februar 2005 in Paris und am 20. April 2005 in São Paolo letztwillige Verfügungen und setzte die beiden Kinder ihres Bruders A. als ihre universellen Rechts nachfolger ein. Sie schenkte ihnen am 1. Februar 2005 Liegenschaften in Paris und am 28. Oktober 2005 Liegenschaften in São Paolo.
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Am 19. November 2005 starb Y. (Erblasserin) in São Paolo. Sie war brasilianische Staatsangehörige.
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Mit Klage vom 8. Februar 2007 beantragten die Kinder der Geschwister B., C. und D. von X. (Beschwerdegegner), die letztwilligen Verfügungen und die Schenkungen der Erblasserin für ungültig zu erklären, eventualiter herabzusetzen, soweit dadurch der Erbvertrag zwischen der Erblasserin und ihrem vorverstorbenen Ehemann verletzt sei. Die Kinder des Bruders A. der Erblasserin (Beschwerdeführer) schlossen auf Abweisung der Klage. Das Bezirksgericht BGE 138 III, 489 (491)Appenzell wies die Klage ab. Auf Berufung der Beschwerdegegner hin setzte das Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden die letztwilligen Verfügungen der Erblasserin vom 5. Januar 2005, vom 2. Februar 2005 und vom 20. April 2005 herab, soweit dadurch die Erbenstellung der Beschwerdegegner zu insgesamt ¾ am in der Schweiz gelegenen Nachlass der Erblasserin verletzt ist.
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Die Beschwerdeführer beantragen dem Bundesgericht, die Klage der Beschwerdegegner abzuweisen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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(Zusammenfassung)
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Aus den Erwägungen:
 
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2.3 Streitig und zu prüfen ist, welchem Recht der Erbvertrag der Ehegatten untersteht. Weil die Schweiz das Haager Übereinkommen vom 1. August 1989 über das auf die Erbfolge anzuwendende Recht (Convention du premier août 1989 sur la loi applicable aux successions à cause de mort) lediglich unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat, und weil zur vorliegenden Frage zwischen der Schweiz und Brasilien keine völkerrechtlichen Verträge bestehen, beurteilt sich das anzuwendende Recht nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (Art. 1 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 IPRG [SR 291]). Die kantonalen Gerichte haben schweizerisches Erbrechtfür anwendbar erklärt. Die Beschwerdeführer machen geltend, anwendbar sei nicht schweizerisches, sondern brasilianisches Recht. Danach bestehe ein absolutes Erbvertragsverbot, so dass die von der Erblasserin am 20. April 2005 in São Paolo errichtete letztwillige Verfügung gültig sei und sie gestützt darauf als Alleinerben zu gelten hätten.
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3.1 Das auf "Erbverträge und gegenseitige Verfügungen von Todes wegen" (Marginalie) anwendbare Recht wird in Art. 95 IPRG BGE 138 III, 489 (492)geregelt. Der Erbvertrag untersteht danach dem Recht am Wohnsitz des Erblassers zur Zeit des Vertragsabschlusses (Abs. 1). Unterstellt ein Erblasser im Vertrag den ganzen Nachlass seinem Heimatrecht, so tritt dieses an die Stelle des Wohnsitzrechts (Abs. 2). Gegenseitige Verfügungen von Todes wegen müssen dem Wohnsitzrecht jedes Verfügenden oder dem von ihnen gewählten gemeinsamen Heimat recht entsprechen (Abs. 3). Vorbehalten bleiben in Abs. 4 die Bestimmungen über die Form und die Verfügungsfähigkeit (Art. 93 und 94 IPRG).
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3.3.2 Die gesetzgeberische Absicht kommt zwar nur im Wortlaut von Art. 95 Abs. 1 IPRG ("am Wohnsitz des Erblassers zur Zeit des Vertragsabschlusses") unzweideutig zum Ausdruck, ist jedoch auch im Fall von Art. 95 Abs. 3 IPRG zu beachten. Das Gesetz unterscheidet in Abs. 1 den Erbvertrag, in dem bloss eine Partei als Erblasser auftritt ("des Erblassers"), und in Abs. 3 den Erbvertrag, der gegenseitige BGE 138 III, 489 (493)Verfügungen von Todes wegen enthält und damit mehrere Erblasser umfasst ("jedes Verfügenden"; vgl. Botschaft, a.a.O., S. 392). Die Unterscheidung ändert indessen nichts an den in beiden Fällen gleichermassen bestehenden Bindungswirkungen des Erbvertrags, die durch den Wohnsitzwechsel des Erblassers oder auch nur eines der Verfügenden nicht hinfällig werden dürfen. Dass sich das anzuwendende Recht sowohl beim einseitigen Erbvertrag als auch beim zwei- oder mehrseitigen Erbvertrag nach dem Wohnsitz des bzw. jedes Erblassers im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses richtet, ist in der Lehre - soweit sie sich dazu äussert - anerkannt (vgl. GERARDO BROGGINI, Aspetti del nuovo diritto internazionale privato svizzero. Diritto matrimoniale e diritto successorio, in: Repertorio di giurisprudenza patria [Rep] 121/1988 S. 191 ff., 212; HEINI, in: Zürcher Kommentar, 2004, N. 3 und N. 9; DUTOIT, Droit international privé suisse, 4. Aufl. 2005, N. 4, und SCHNYDER/LIATOWITSCH, in: Basler Kommentar, 2. Aufl. 2007, N. 1 und 7, je zu Art. 95 IPRG).
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3.4 Die gegenteilige Ansicht, die die Beschwerdeführer auf die von ihnen eingeholten Rechtsgutachten stützen, kann nicht geteilt werden. Sie weisen allerdings zutreffend darauf hin, dass hier die schweizerischen Gerichte gemäss Art. 88 Abs. 1 IPRG deshalb zuständig sind, weil die Erblasserin eine Brasilianerin mit letztem Wohnsitz in Brasilien war und weil die brasilianischen Behörden sich mit dem im Ausland - hier: in der Schweiz und in Frankreich - gelegenen Nachlassvermögen nicht befassen. Richtig ist auch, dass sich in diesem Fall einer Nachlassspaltung nach verschiedenen Lehrmeinungen das anwendbare Recht grundsätzlich nach Art. 91 Abs. 1 IPRG bestimmen soll, um dadurch - soweit als möglich - eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen (vgl. HEINI, a.a.O., N. 10, und SCHNYDER/LIATOWITSCH, a.a.O., N. 7, je zu Art. 88 IPRG). Gegenüber dem Grundsatz in Art. 90 und 91 IPRG ("Letzter Wohnsitz") bleiben jedoch die Sonderanknüpfungen für die Form letztwilliger Verfügungen (Art. 93 IPRG), für die Verfügungsfähigkeit (Art. 94 IPRG) und für die Erbverträge und gegenseitigen Verfügungen von Todes wegen (Art. 95 IPRG) vorbehalten. Weshalb das allgemeine Erbstatut dem besonderen Erbvertragsstatut vorgehen soll, vermögen die Beschwerdeführer BGE 138 III, 489 (494)nicht nachvollziehbar zu begründen. Gerade weil die Sonderanknüpfung gemäss Art. 95 IPRG eine Beeinträchtigung der erbvertraglichen Bindungswirkungen durch Wohnsitzwechsel zu verhindern bezweckt, muss sie dem Erbstatut vorgehen und auch im Fall einer Nachlassspaltung berücksichtigt werden, die ihrerseits auf einen Wechsel des Wohnsitzes in einen Staat mit entsprechender Zuständigkeitsregelung zurückzuführen ist. Das Erbvertragsstatut gemäss Art. 95 IPRG hat als Spezialvorschrift gegenüber den übrigen erbrechtlichen Kollisionsnormen zu gelten (zur ähnlichen Regelung in Deutschland: STAUDINGER/DÖRNER, Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2007, N. 62 ff. zu Art. 26 EGBGB; vgl. zum Vorrang der spezielleren gegenüber der generelleren Vorschrift: FURRER/GIRSBERGER/SIEHR, Allgemeine Lehren, SPR Bd. XI/1: Internationales Privatrecht, 2008, § 5 N. 389 S. 131).
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4.1 Eine "Berücksichtigung zwingender Bestimmungen eines ausländischen Rechts" (Marginalie) lässt Art. 19 IPRG insofern zu, als anstelle des Rechts, das durch dieses Gesetz bezeichnet wird, die Bestimmung eines andern Rechts, die zwingend angewandt sein will, berücksichtigt werden kann, wenn nach schweizerischer Rechtsauffassung schützenswerte und offensichtlich überwiegende Interessen einer Partei es gebieten und der Sachverhalt mit jenem Recht einen engen Zusammenhang aufweist (Abs. 1). Ob eine solche Bestimmung zu berücksichtigen ist, beurteilt sich nach ihrem Zweck und den daraus sich ergebenden Folgen für eine nach schweizerischer Rechtsauffassung sachgerechte Entscheidung (Abs. 2). Die Berücksichtigung zwingender Bestimmungen eines ausländischen Rechts gestützt auf Art. 19 IPRG soll nach der Rechtsprechung die Ausnahme bleiben (vgl. BGE 136 III 392 E. 2.2 S. 395). Sie betrifft vor allem das internationale Wirtschaftsrecht, kann aber auch auf dem Gebiet des Erbrechts nicht ausgeschlossen werden (vgl. BUCHER, in: Commentaire romand, Loi sur le droit international privé, 2011, N. 4 zu Art. 19 IPRG).
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BGE 138 III, 489 (495)4.2 Das Kantonsgericht hat die drei Voraussetzungen gemäss Art. 19 Abs. 1 IPRG geprüft und als nicht erfüllt betrachtet. Es hat einerseits angenommen, es sei unklar, ob das brasilianische Erbvertragsverbot zwingend im internationalen Verhältnis anzuwenden sei, wenn die Vertragsparteien den Erbvertrag wie vorliegend an ihrem Wohnsitz in der Schweiz geschlossen hätten. Die Rechtsgutachter hätten festgehalten, dass der in der Schweiz abgeschlossene Erbvertrag die brasilianische Rechtsordnung nicht verletze und Erbverträge voraussichtlich mit ihrer Anerkennung in Brasilien rechnen könnten. Andererseits seien, so hat das Kantonsgericht dafürgehalten, keine schützenswerten und überwiegenden Interessen erkennbar, die die Nichtbeachtung des Erbvertrags zwingend erforderten. Schliesslich fehle dem vorliegenden Sachverhalt auch der enge Zusammenhang zum brasilianischen Recht.
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4.4 Dass das brasilianische Recht ein Erbvertragsverbot kennt, steht unangefochten fest. Für dessen Berücksichtigung gemäss Art. 19 IPRG ist indessen entscheidend, ob das Erbvertragsverbot brasilianischen Rechts auch auf den zu beurteilenden Sachverhalt zwingend angewendet werden will. Ungeachtet der fehlenden Verfassungsrügen (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 136 I 332 E. 2.1 S. 324) darf die Frage unter Willkürgesichtspunkten verneint werden. Das brasilianische Erbvertragsverbot zählt nach überwiegender Meinung nicht oder nicht mehr zum ordre public, soweit der Erbvertrag - wie hier - nach dem Recht am Ort des Vertragsabschlusses zulässig ist. Der Anwendungsbereich des ordre public im Erbrecht ist insoweit eingeschränkt (vgl. FERID/FIRSCHING/DÖRNER/HAUSMANN, Internationales Erbrecht, 9 Bde, 4. Aufl., Stand: Mai 2008, N. 48 und N. 103 für Brasilien). Der Befund entspricht offenbar einer allgemeinenBGE 138 III, 489 (496) Tendenz, die für andere Staaten mit einem ausdrücklichen Erbvertragsverbot festgestellt wird (vgl. ANDREA BONOMI, Les pactes successoraux en droit international privé - Remarques comparatives à la lumière des droits français, italien, espagnol et suisse, in: Les pactes successoraux en droit comparé et en droit international privé, 2008, S. 11 ff., 23 ff.).
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