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Informationen zum Dokument  BGE 129 III 320  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
5. Die Beklagte macht geltend, die Vorinstanz habe bundesrechtswi ...
6. Der Vertrag mit sittenwidrigem Inhalt ist abzugrenzen vom sitt ...
7. Zu beurteilen bleiben damit allein noch die Folgen der Vertrag ...
Erwägung 7.1
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53. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. Stadt Zürich gegen ABZ Recycling AG (Berufung)
 
 
4C.352/2002 vom 21. Februar 2003
 
 
Regeste
 
Vertragsrechtliche Auswirkungen einer Beamtenbestechung.  
Zustandekommen des Vertrages trotz Korruption (E. 6.2)? Unverbindlichkeit des Vertrages wegen absichtlicher Täuschung (E. 6.3)?  
Folgen der Vertragsanfechtung wegen eines Willensmangels.  
Grundsatz: Dahinfallen des Vertrages ex tunc (E. 7.1.1). Bei ganz oder teilweise abgewickelten Dauerschuldverhältnissen: Kündigung ex nunc (E. 7.1.2); Vorbehalt (E. 7.1.4). Unterschied zum faktischen Vertragsverhältnis (E. 7.1.3). Vergütung der erbrachten Leistungen (E. 7.2) und Schadenersatz (E. 7.3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 129 III, 320 (321)A.- Die ABZ Recycling AG (Klägerin) befasst sich mit der Entsorgung von Klärschlamm. In einem Fünfjahresvertrag mit der Stadt Zürich (Beklagte) verpflichtete sie sich, dieser ab 1. Januar 1990 entwässerten Klärschlamm abzunehmen, nach Orange (Frankreich) zu transportieren und dort zu Kompost verarbeiten zu lassen. Die BGE 129 III, 320 (322)Beklagte ihrerseits verpflichtete sich zur Lieferung einer jährlichen Mindestmenge von 6'000 Tonnen Klärschlamm und zur Leistung eines Entgelts von Fr. 387.30 pro entsorgte Tonne (nachfolgend Klärschlammvertrag).
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Im Rahmen eines Strafverfahrens (so genannte "Zürcher Klärschlammaffäre") erhärtete sich der Verdacht, dass die Klägerin einem Beamten der Beklagten im Zusammenhang mit dem Klärschlammvertrag Fr. 200'000.- bis Fr. 300'000.- hatte zukommen lassen. Dies veranlasste die Beklagte im Jahre 1993 zur Anfechtung des Vertrags, worauf sie die Klägerin nicht mehr mit Klärschlamm belieferte und sich weigerte, deren Rechnungen über bereits nach Orange transportierten und dort verwerteten Klärschlamm zu begleichen.
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B.- Mit Klage vom 5. Juli 1993 belangte die Klägerin die Beklagte auf rund Fr. 620'000.- nebst Zins für erbrachte Leistungen sowie entgangenen Gewinn auf der vertraglich garantierten, aber nicht gelieferten Klärschlammmenge des Jahres 1992 und behielt sich die Geltendmachung weiteren Schadens und einer Genugtuung vor.
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Die Beklagte widersetzte sich der Forderung und verlangte widerklageweise die Verurteilung der Klägerin zur Herausgabe von ungerechtfertigten Bereicherungen und zu Schadenersatz im Umfange von insgesamt vier Millionen Franken.
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C.- Das Bezirksgericht Zürich hiess mit Urteil vom 10. September 1999 die Hauptklage im Betrage von Fr. 608'906.- und die Widerklage im Betrage von Fr. 250'052.- gut. Nach Verrechnung der beiden auf den Urteilstermin aufgezinsten Forderungen verurteilte es die Beklagte zur Bezahlung von Fr. 489'940.- nebst Zins ab Urteilsdatum.
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Auf Berufung der Beklagten und Anschlussberufung der Klägerin wies das Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, mit Urteil vom 20. November 2001 Klage und Widerklage ab. Es verneinte die Prozessführungsbefugnis der Klägerin bezüglich der Klageforderung, weil diese teilweise verpfändet worden war und daher nach Auffassung des Gerichts nur mit Zustimmung der Pfandgläubigerinnen hätte eingeklagt werden dürfen (Art. 906 Abs. 2 ZGB). Die Widerklageforderung hielt es materiell für unbegründet.
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Das Bundesgericht, II. Zivilabteilung, hiess mit Urteil vom 30. Mai 2002 eine Berufung der Klägerin teilweise gut und wies die Streitsache zur Neubeurteilung der Hauptklage an die Vorinstanz zurück. Es erkannte, die Forderung habe unbesehen ihrer Verpfändung von der Klägerin im Alleingang eingeklagt werden dürfen. Auf BGE 129 III, 320 (323)eine gegen die Abweisung der Widerklage gerichtete Anschlussberufung der Beklagten trat das Bundesgericht nicht ein.
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D.- Mit Urteil vom 17. September 2002 hiess das Obergericht die Klage im (aufgezinsten) Betrage von Fr. 740'176.70 nebst Zins ab Urteilsdatum der ersten Instanz teilweise gut.
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Mit Berufung vom 31. Oktober 2002 beantragte die Beklagte dem Bundesgericht, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Mit Beschluss vom 24. Oktober 2002 berichtigte das Obergericht sein Urteil vom 17. September 2002 und hiess die Klage neu im Betrage von Fr. 867'536.60 nebst Zins gut.
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Auch dagegen führte die Beklagte am 2. Dezember 2002 Berufung mit den Anträgen, den Beschluss des Obergerichtes aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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E.- Eine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde gegen das obergerichtliche Urteil vom 17. September 2002 zog die Beklagte wiederum zurück.
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Das Bundesgericht weist die beiden Berufungen ab, soweit darauf einzutreten ist.
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Aus den Erwägungen:
 
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BGE 129 III, 320 (324)Dass Nichtigkeit und Anfechtbarkeit von Rechtsgeschäften in alternativer Konkurrenz stehen können, ist seit langem bekannt (vgl. schon THEODOR KIPP, Über Doppelwirkungen im Recht, insbesondere über die Konkurrenz von Nichtigkeit und Anfechtbarkeit, in: Festschrift für Ferdinand von Martitz, Berlin 1911, S. 211 ff.; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl., Bd. I, Rz. 717). Dass zudem die Rechtsfolgen der Nichtigkeit und der durch Anfechtung bewirkten Unverbindlichkeit eines Vertrags, namentlich beim ganz oder teilweise abgewickelten Dauerschuldverhältnis identisch sein können, entspricht verbreiteter Auffassung (PIERRE TERCIER, La corruption et le droit des contrats, in: SJ 1999 S. 225 ff., 266 ff.; KRAMER, Berner Kommentar, N. 240 ff. zu Art. 1 OR und N. 313 zu Art. 19/20 OR; derselbe, Münch Komm, 4. Aufl., N. 68 ff. der Einleitung vor § 241 BGB; SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 184 zu Art 23/24 OR und N. 102 ff. zu Art. 31 OR; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, a.a.O., Rz. 942 ff.). Die Frage kann indessen offen bleiben, weil die Vorinstanz die Sittenwidrigkeit des Klärschlammvertrags bundesrechtskonform verneint hat.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten ist in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, ob die vertragsbezogene Korruption unter Strafe gestellt ist. Geht es wie hier um einen Tatbestand der Bestechung (Art. 288, 315 f. aStGB, Art. 322ter ff. StGB), ist geschütztes Rechtsgut der Strafnormen das Vertrauen der Allgemeinheit in die Objektivität und Sachlichkeit amtlicher Tätigkeit, in die Unparteilichkeit der rechtsstaatlichen Amtsführung und Aufgabenerfüllung (Botschaft des Bundesrates vom 19. April 1999 zur Revision des Korruptionsstrafrechts, BBl 1999 S. 5497 ff., 5505 f. und 5523). Die Strafbarkeit beschränkt sich daher nicht auf die Vorteilsvergabe für pflichtwidriges Amtshandeln, sondern beschlägt jeden dem BGE 129 III, 320 (325)Amtsträger nicht gebührenden Vorteil im Zusammenhang mit seiner - auch pflichtgemässen - Amtsführung (Art. 316 aStGB; Art. 322quinquies f. StGB; Botschaft, S. 5506 und 5534 ff.; CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Bd. II, Bern 2002, S. 700 ff.). Die bestechungsbezogene Rechtswidrigkeit erfasst somit für sich allein den Inhalt der durch die Vorteilsvergabe bewirkten oder belohnten Amtshandlungen nicht. Damit fallen entsprechende Verträge wegen des strafbaren Verhaltens im Bestechungstatbestand nur dann unter die Verbotsnormen von Art. 19 und 20 OR, wenn die Strafbarkeit sich auf den Vertragsinhalt erstreckt (vgl. analog zu den wettbewerbsrechtlichen Unlauterkeiten: KRAMER, Berner Kommentar, N. 142 zu Art. 19/20 OR).
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Die von der Beklagten angeführte Entscheidung der Genfer Cour de Justice Civile (publ. in: SJ 1979 S. 21 ff.) steht mit dieser Auffassung nicht in Widerspruch. Das Gericht hatte dort die Nichtigkeit eines durch Korruption bewirkten Vertrages mit der Begründung bejaht, die vertragschliessende Aktiengesellschaft und der fehlbare Beamte hätten eine wirtschaftliche Einheit gebildet, weshalb es aus dem Institut des Durchgriffs durch die juristische Person die Korruption und deren rechtsgeschäftlichen Folgen trotz formeller Dualität der Parteien als einheitliches Verhalten wertete und deshalb insgesamt Nichtigkeit annahm. Hier liegen die Verhältnisse indessen anders.
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Zu beachten ist weiter, dass die Strafbarkeit von Schmiergeldversprechen sich nicht im Amtsbezug erschöpft, sondern durchaus auch in rein privatrechtlichen Verhältnissen gegeben sein kann (insbesondere als ungetreue Geschäftsbesorgung nach Art. 158 StGB; weitere mögliche Tatbestände bei TERCIER, a.a.O., S. 239 f.). Ebenfalls hier aber gilt der Grundsatz, dass die Korruption für sich allein die Gültigkeit des dadurch bewirkten Rechtsgeschäfts nicht beeinträchtigt, erfülle sie einen Straftatbestand oder nicht.
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Die Vorinstanz hat damit kein Bundesrecht verletzt, wenn sie die Nichtigkeit des Klärschlammvertrags unbesehen des Bestechungsbezugs verneinte.
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Die Vorinstanz hat einen wesentlichen Grundlagenirrtum der Beklagten bei Abschluss des Vertrags bejaht und daraus auf dessen Unverbindlichkeit geschlossen. Insoweit ist ihr Urteil nicht angefochten und daher im Berufungsverfahren nicht zu überprüfen.
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Die Beklagte macht darüber hinaus geltend, zufolge der festgestellten Korruption sei der Klärschlammvertrag gar nicht zustande gekommen oder jedenfalls wegen absichtlicher Täuschung unverbindlich.
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6.1 Erneut stellt sich die Frage, ob die Beklagte an diesen Rügen ein hinreichendes Rechtsschutzinteresse hat, wenn die Unverbindlichkeit des Vertrags so oder anders nicht mehr im Streite liegt (vgl. E. 5.1 hievor). Dies umso mehr, als die auf Schadenersatz gerichtete Widerklage der Beklagten unter allen Titeln rechtskräftig abgewiesen ist und umgekehrt eine Schadenersatzpflicht nach Art. 26 OR nicht im Streite liegt, mithin auch insoweit eine Besserstellung der Beklagten aus dem Täuschungstatbestand gegenüber dem wesentlichen Irrtum nicht offensichtlich ist (vgl. BGE 40 II 534 E. 4; zu möglichen unterschiedlichen Rechtsfolgen von Täuschung und Irrtum im Dauerschuldverhältnis allerdings SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 102 ff. zu Art. 31 OR). Die Frage kann wiederum offen bleiben, weil die Rügen unbegründet sind.
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Konsens wird durch tatsächlich übereinstimmend verstandene oder nach dem Vertrauensprinzip übereinstimmend zu verstehende Willenserklärungen bewirkt. Inwiefern diese Voraussetzungen bei Abschluss des Klärschlammvertrags nicht gegeben waren, ist weder den Feststellungen der Vorinstanz noch den Darlegungen der Beklagten zu entnehmen. Die Rüge, der Vertragstatbestand habe sich nicht verwirklicht, ist unbegründet.
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6.3 Tatbestandsmerkmal der absichtlichen Täuschung im Sinne von Art. 28 OR ist u.a. der Täuschungserfolg. Die Täuschung muss für den Vertragsabschluss das kausale Motiv sein, der Gegner muss den Getäuschten verleitet haben. Daran gebricht es, wenn der Getäuschte den Vertrag auch ohne Täuschung geschlossen hätte (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 83 zu Art. 28 OR; VON TUHR/PETER, BGE 129 III, 320 (327)Allgemeiner Teil des Schweizerischen Obligationenrechts, Bd. I, Zürich 1979, S. 322 f.; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, a.a.O., Rz. 856; BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Zürich 1988, S. 220 f.; ALFRED KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, Bern 1996, S. 279 f.; ENGEL, Traité des obligations en droit suisse, 2. Aufl., Bern 1997, S. 354 f.).
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Die Vorinstanz hielt für unbewiesen, dass die Zahlung der Schmiergelder einen Einfluss auf den Abschluss, die Gestaltung oder die Abwicklung des Klärschlammvertrags hatte. Darin liegt Beweiswürdigung, welche das Bundesgericht im Berufungsverfahren nicht überprüfen kann (BGE 127 III 543 E. 2c). Die Beweislast für die Kausalität der Täuschung aber trägt der Getäuschte (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 171 zu Art. 28 OR). Blieb die Kausalität unbewiesen, hat das Obergericht folglich der Beklagten die Berufung auf absichtliche Täuschung bundesrechtskonform versagt. Die insoweit abweichende Auffassung von EVELINE WYSS/HANS CASPAR VON DER CRONE (Bestechung bei Vertragsschluss, in: SZW 2003 S. 35 ff., 40) geht von anderen, von der Vorinstanz nicht festgestellten tatsächlichen Verhältnissen aus.
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Erwägung 7.1
 
7.1.1 Der Vertrag ist für den Irrenden unverbindlich (Art. 23 OR). Unabhängig davon, ob der so genannten Anfechtungs- oder der so genannten Ungültigkeitstheorie gefolgt wird (BGE 114 II 131 E. 3b; SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 115 ff. zu Art. 23/24 OR; SCHWENZER, Basler Kommentar, N. 8 ff. zu Art. 23 OR), ist Rechtsfolge der begründeten Geltendmachung des Willensmangels grundsätzlich das Dahinfallen des Vertrags ex tunc (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 123 zu Art. 23/24 OR und N. 14 zu Art. 31 OR; SCHWENZER, Basler Kommentar, N. 15 zu Art. 31 OR). Bereits erbrachte Leistungen sind zurückzuerstatten. Dabei sind nach herkömmlicher Ansicht die Grundsätze der Vindikation einerseits und der ungerechtfertigten Bereicherung anderseits anwendbar (BGE 114 II 131 E. 3; SCHMIDLIN, Berner Kommentar, BGE 129 III, 320 (328)N. 86 ff. zu Art. 31 OR; SCHWENZER, Basler Kommentar, N. 15 zu Art. 31 OR).
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In der Lehre wird zudem mit guten Gründen die Auffassung vertreten, nicht nur im Falle des verzugsbedingten Rücktritts vom Vertrag, sondern auch bei dessen Unverbindlichkeit wegen Willensmängeln sei von einem vertraglichen Rückabwicklungsverhältnis auszugehen, welches auf dem ursprünglichen formalen Konsens gründe (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 16 ff., 56 ff. und 97 zu Art. 31 OR; SCHWENZER, Basler Kommentar, N. 15 zu Art. 31 OR). Insoweit bleibt der Vertragsschluss trotz berechtigter Anfechtung nicht bedeutungslos. Dies zeigt sich etwa darin, dass die Rückerstattung empfangener Leistungen trotz Ungültigkeit des Vertrags in Beachtung dessen Synallagmas Zug um Zug zu erfolgen hat (BGE 111 II 195 E. 3; SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 94 zu Art. 31 OR mit weiteren Hinweisen).
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Das Gesetz regelt diesen Tatbestand nicht allgemein, hat aber für den Arbeitsvertrag in Art. 320 Abs. 3 OR eine Sonderordnung getroffen, wonach für die gegenseitigen Ansprüche und Verpflichtungen die Gültigkeit des unverbindlichen Vertrags bis zu dessen Aufhebung fingiert wird. Dass das Gesetz diesen Grundsatz nicht ausdrücklich auf andere Dauerschuldverhältnisse ausgedehnt hat, schliesst nicht aus, ihn auf dem Wege teleologischer Auslegung zu verallgemeinern und analog anzuwenden. In der neueren Lehre wird denn überwiegend die Auffassung vertreten, die Anfechtung eines ganz oder teilweise abgewickelten Dauerschuldverhältnisses wegen eines Willensmangels wirke als Kündigung ex nunc, wobei diese Lösung im Irrtumsbereich zusätzlich auf Art. 25 Abs. 1 OR abgestützt wird (SCHMIDLIN, Berner Kommentar, N. 184 zu Art. 23/24 OR und N. 102 ff. zu Art. 31 OR; SCHWENZER, Basler Kommentar, N. 7, Vorbemerkungen zu Art. 23-31 OR; dieselbe, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 2000, Rz. 39.25; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, a.a.O., Rz. 942 ff.; SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Zürcher Kommentar, N. 565 zu Art. 1 OR; KRAMER, Berner Kommentar, N. 313 zu Art. 19/20 OR; KELLER/SCHÖBI, Allgemeine BGE 129 III, 320 (329)Lehren des Vertragsrechts, Bd. I, 3. Aufl., Basel 1988, S. 278 f. und 311; HANS MERZ, Vertrag und Vertragsschluss, 2. Aufl., Freiburg 1992, S. 9 ff.).
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Diese Lösung hat sich ebenfalls in andern vergleichbaren Rechtsordnungen durchgesetzt (grundlegend bereits FRANZ GSCHNITZER, Die Kündigung nach deutschem und österreichischem Recht, in: Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts, 76/1926, S. 317 ff., 396 ff.; aus der jüngeren Literatur namentlich ERNST A. KRAMER, Der Irrtum beim Vertragsschluss: eine weltweit rechtsvergleichende Bestandsaufnahme, in: Veröffentlichungen des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung, Zürich 1998, S. 130 mit Hinweisen). Auch das Bundesgericht hat diese juristische Konstruktion bereits in Erwägung gezogen (Urteil 4C.444/1994 vom 20. Juli 1995, E. 4a).
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7.1.3 Die Behandlung der Anfechtung eines ganz oder teilweise bereits abgewickelten Dauerschuldverhältnisses als ausserordentliche Kündigung ex nunc bedeutet im Grundsatz, dass sie nicht zurückwirkt und der abgewickelte Teil des Vertrags als voll gültig erachtet wird, was für die abgelaufene Vertragsdauer im Synallagma die parteiautonom begründeten Ansprüche unberührt lässt. Damit erübrigt sich die Annahme eines so genannt faktischen Vertragsverhältnisses, wie sie Rechtsprechung und Lehre verschiedentlich in Betracht gezogen haben (BGE 119 II 437 E. 3b/bb; BGE 110 II 244 E. 2d, kritisch dazu KRAMER, Berner Kommentar, N. 313 zu Art. 19/20 OR; Urteile 4C.284/2000 vom 23. Januar 2002, E. 2c/aa und 4C.222/1998 vom 14. Januar 1999, E. 5; BUCHER, Basler Kommentar, N. 76 zu Art. 1 OR; TERCIER, a.a.O., S. 267 ff.). Dies gilt jedenfalls dort, wo - wie bei der Irrtumsanfechtung - die Invalidierung des Vertrags nicht von Amtes wegen festgestellt, sondern durch Ausübung eines Gestaltungsrechts herbeigeführt wird. Praktikabilitätsgründe wegen der Schwierigkeiten der Rückabwicklung rechtfertigen hier, dieser Willenserklärung die Bedeutung einer Kündigung beizumessen. Allerdings sind die dogmatischen Unterschiede auch nicht überzubetonen. Im Ergebnis führt die Annahme eines faktischen Vertragsverhältnisses bis zum Zeitpunkt der Irrtumsanfechtung kaum zu andern Lösungen als die Annahme einer Vertragsbeendigung durch Kündigung (KRAMER, Der Irrtum beim Vertragsschluss, a.a.O., S. 130; GAUCH/SCHLUEP/SCHMID/REY, a.a.O., Rz. 944; TERCIER, a.a.O., S. 268 f.; vgl. immerhin E. 7.3 hienach).
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7.1.4 Ein Vorbehalt zur reinen Auflösung des Vertrags ex nunc ist jedoch für den Fall anzubringen, dass der Willensmangel sich im BGE 129 III, 320 (330)Synallagma selbst auswirkte, d.h. für das Leistungsversprechen des Irrenden in quantitativer Hinsicht bestimmend war. Hier vermag die Anfechtung insoweit zurückzuwirken, als die gegenseitigen Leistungen in gerichtlicher Vertragsanpassung neu bewertet und bei gegebener Kausalität des Irrtums auf ihr Gleichgewicht nach dem Regelungsgedanken von Art. 20 Abs. 2 OR modifiziert werden (Urteil 4C.444/1994 vom 20. Juli 1995, E. 4a; TERCIER, a.a.O., S. 269; KOZIOL/WELSER, Bürgerliches Recht, Bd. I, 12. Aufl., S. 141 f.; KRAMER, Münch Komm, a.a.O.; vgl. auch BGE 107 II 419 E. 3a; BGE 123 III 292 E. 2e/aa).
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Daran ändert der Einwand der Beklagten nichts, es sei rechtlich unhaltbar, der Klägerin auch die Gewinnmarge des vereinbarten Entgelts zu belassen, da sie diesen Gewinn nur wegen der erfolgten Bestechung und damit aufgrund einer strafbaren Handlung habe erzielen können. Abgesehen davon, dass allfällige Bereicherungs- oder Schadenersatzansprüche der Beklagten nach dem Gesagten rechtskräftig abgewiesen wurden und nicht mehr zu prüfen sind, verkennt die Beklagte, dass die pönale Sanktionsfunktion gegenüber Korruption primär dem Strafrecht und dem Recht des öffentlichen Dienstes zukommt. Das Privatrecht greift nur insoweit ein, als es die Lösung der betroffenen Partei von einem makelbehafteten Vertrag erlaubt und Anspruch auf Ausgleich rechtswidrig oder rechtlos bewirkter Vermögenseinbussen, Vermögenszugänge und Vermögensverschiebungen gibt. Diese Ansprüche aber haben eine Ausgleichs- und keine Privilegierungs- oder Diskriminierungsfunktion. Das Privatrecht gründet insoweit auf dem Prinzip der relativen zweiseitigen Rechtfertigung, was ausserhalb klarer gesetzlicher Anordnungen oder vertraglicher Regelung (z.B. Konventionalstrafe) keine privatrechtlichen Sanktionen gegenüber einer Partei zulässt, denen BGE 129 III, 320 (331)keine Ausgleichsfunktion auf der andern Seite zukommt (FRANZ BYDLINSKI, System und Prinzipien des Privatrechts, Wien 1996, S. 92 ff.).
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Ist aber festgestellt, dass der Inhalt des Klärschlammvertrags durch die Schmiergelder nicht beeinflusst wurde, d.h. der Vertrag auch ohne Korruption zu denselben Bedingungen abgeschlossen worden wäre, bleibt für eine Preiskorrektur im Sinne eines Gewinnausschlusses kein Raum. Dies würde vielmehr zu einer Privilegierung der Beklagten führen, welche sich allein aus ihrem Willensmangel nicht begründen liesse. Dazu gibt das allgemeine Privatrecht keine Handhabe (a.A. EVELINE WYSS/HANS CASPAR VON DER CRONE, a.a.O., S. 42 f., welche von einem blossen Anspruch auf Verwendungsersatz aus Geschäftsführung ohne Auftrag ausgehen).
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