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Informationen zum Dokument  BGE 123 III 473  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
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6. Im vorliegenden Fall hat die Generalversammlung den Widerruf i ...
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74. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 18. Juli 1997 i.S. Stratton Industrie Holding AG in Liquidation gegen Departement des Innern des Kantons Aargau und Handelsregisteramt des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde).
 
 
Regeste
 
Art. 739 Abs. 2 OR; Widerruf des Auflösungsbeschlusses einer Aktiengesellschaft.  
 
Sachverhalt
 
BGE 123 III, 473 (473)A.- Die Stratton Industrie Holding AG mit Sitz in Waltenschwil wurde am 20. März 1987 gegründet und am 9. April 1987 in das Handelsregister des Kantons Aargau eingetragen. Nachdem es zwischen den zwei die Gesellschaft beherrschenden Aktionären zu Auseinandersetzungen gekommen war, beschloss die Generalversammlung am 21. Oktober 1992 die Auflösung und anschliessende Liquidation der Gesellschaft und ernannte zwei Liquidatoren. Am 18. November 1992 erfolgte die Eintragung der Auflösung im Handelsregister. Am 1. Dezember 1992 wurde der Eintrag im Schweizerischen Handelsamtsblatt publiziert.
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In der Folge schied der eine der Aktionäre aus der Gesellschaft aus, indem er seine Aktien dem andern übertrug, der damit zum Alleinaktionär wurde. Darauf beschloss die Generalversammlung am 6. Juli 1994 einstimmig, den Auflösungsbeschluss zu widerrufen und die statutarische Geschäftstätigkeit ohne den Firmazusatz "in Liq." weiterzuführen. Zudem wurde vom Rücktritt der Liquidatoren Kenntnis genommen. Der Beschluss wurde öffentlich beurkundet.
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B.- Am 8. Juli 1994 meldete die Gesellschaft den Widerruf des Auflösungsbeschlusses vom 21. Oktober 1992 und die Löschung der beiden Liquidatoren beim Handelsregisteramt des Kantons Aargau BGE 123 III, 473 (474)zur Eintragung in das Register an. Der Anmeldung wurden Unterlagen beigelegt, aus denen hervorging, dass sich auf den Schuldenruf eine einzige Gläubigerin, die Involvo AG, gemeldet und diese ihre Zustimmung zum Widerruf des Auflösungsbeschlusses gegeben hatte. Beigelegt wurde zudem eine mit der Prüfungsbestätigung der Revisionsstelle versehene Erklärung der Liquidatoren, dass ausser dem Schuldenruf keine Liquidationshandlungen durchgeführt worden seien.
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Am 2. August 1994 verfügte das Handelsregisteramt des Kantons Aargau, die Anmeldung zur Eintragung des Widerrufsbeschlusses im Handelsregister sowie die Löschung der beiden Liquidatoren werde abgewiesen. Die von der Gesellschaft dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Departement des Innern des Kantons Aargau mit Verfügung vom 27. April 1995 abgewiesen.
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C.- Die Stratton Industrie Holding AG in Liquidation hat Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Sie beantragt dem Bundesgericht, die Verfügung des Handelsregisteramtes des Kantons Aargau vom 2. August 1994 und die Verfügung des Departementes des Innern des Kantons Aargau vom 27. April 1995 seien vollumfänglich aufzuheben; das Handelsregisteramt sei anzuweisen, den Generalversammlungsbeschluss vom 6. Juli 1994 betreffend den Widerruf des Auflösungsbeschlusses vom 21. Oktober 1992 und betreffend Weiterführung der Firma ohne den Zusatz "in Liquidation" sowie die Löschung der beiden Liquidatoren im Handelsregister einzutragen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt die Verfügung des Departements des Innern auf und weist die Streitsache zu neuer Entscheidung an dieses zurück.
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Aus den Erwägungen:
 
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Dieser Entscheid, der eine Genossenschaft betraf, wurde wie folgt begründet: Das Bundesgericht wies zunächst auf eine vor dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 18. Dezember 1936 über die Revision der Titel 24-33 des OR (1. Juli 1937) vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement sowie dem Bundesrat vertretene Auffassung hin, wonach der Auflösungsbeschluss der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft diese als Erwerbsgesellschaft auflöse und sie nur zum Zwecke der Liquidation bestehen bleibe; demgemäss habe die Generalversammlung nur noch beschränkte Befugnisse; sie könne keine Beschlüsse mehr fassen, die nicht die Durchführung der Liquidation beträfen, insbesondere nicht deren Aufhebung beschliessen (E. 3 S. 441). Das Bundesgericht befasste sich sodann mit der Entstehungsgeschichte von Art. 739 OR und hielt fest, aus den Materialien ergebe sich keine eindeutige Stellungnahme des Gesetzgebers zur Frage der Zulässigkeit des Widerrufs (E. 3 S. 442 und E. 5c). Es wies im weitern auf einen in der amtlichen Sammlung nicht veröffentlichten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 hin, in dem ausgeführt worden war, angesichts des klaren Wortlauts des Gesetzes, der den Niederschlag schon früher anerkannter Grundsätze bilde, könne kein Zweifel darüber bestehen, dass ein Beschluss auf Widerruf der Liquidation und Fortsetzung der Gesellschaft nicht zulässig sei (E. 3 S. 442). Das Bundesgericht zitierte anschliessend die einschlägige schweizerische Lehre und hielt fest, die Meinungen der Autoren seien geteilt (E. 3 S. 443). Zudem ergebe auch der Vergleich mit den Regelungen bzw. der Literatur und Praxis der Nachbarländer Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien kein einheitliches Bild (E. 3 S. 443 f. und E. 5d S. 447). Es verwarf sodann die in der Lehre vertretene Meinung (W. VON STEIGER, Zürcher Kommentar, N. 29 zu Art. 820 OR), wonach sich Art. 739 Abs. 2 OR nur mit den Befugnissen der Gesellschaftsorgane im Hinblick auf die Liquidation befasse und keine genügende Grundlage zur Lösung des Problems der Rückgründung bilde, und hielt an der im unveröffentlichten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 geäusserten Meinung fest, dass die Gesellschaftsorgane nach dem klaren Wortlaut von Art. 738/739 OR nicht befugt seien, den einmal gefassten Auflösungsbeschluss zu widerrufen (E. 5b). Das Bundesgericht räumte schliesslich ein, dass es Fälle geben möge, wo der Widerruf des Auflösungsbeschlusses die Interessen der Öffentlichkeit nicht BGE 123 III, 473 (476)gefährde, was aber nicht genüge, um eine vom eindeutigen Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung zu rechtfertigen (E. 5d S. 448).
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3. Die auf die damalige schweizerische Lehre bezügliche Feststellung in BGE 91 I 438 ff., dass die Meinungen geteilt seien, das heisst keine überwiegende Lehrmeinung bestehe, trifft für die nach 1965 erschienenen Publikationen nicht mehr zu. Der damals von W. VON STEIGER vertretenen Auffassung (von diesem bestätigt in ZBJV 103/1967, S. 122 f.), dass ein Widerruf des Auflösungsbeschlusses grundsätzlich zulässig sein müsse, hat sich nach 1965 die Mehrheit der Autoren angeschlossen. Zu erwähnen sind von GREYERZ (Schweizerisches Privatrecht, Bd. VIII/2, S. 279), BÜRGI (Zürcher Kommentar, N. 20 zu Art. 736), ROBERT HEBERLEIN (Die Kompetenzausscheidung bei der Aktiengesellschaft in Liquidation unter Mitberücksichtigung der Kollektivgesellschaft nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1969, S. 12 ff.), LUTZ MELLINGER (Die Fusion von Aktiengesellschaften im schweizerischen und deutschen Recht, Diss. Zürich 1971, S. 24 ff.), PETER STAEHELIN (Die Rückgründung aufgelöster Gesellschaften oder Genossenschaften, BJM 1973, S. 217 ff.), BÖCKLI (Schweizer Aktienrecht, 2. Auflage, S. 1027 Rz. 1955d), FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL (Schweizerisches Aktienrecht, § 55 N. 189 ff.; anders FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ, Einführung in das schweizerische Aktienrecht, 3. Auflage 1983, § 41 N. 9) und WALTER STOFFEL (SJK, Ersatzkarte 403, Die Aktiengesellschaft, XV, Auflösung, Liquidation und Überschuldung, S. 3 Fn. 6). Soweit sie sich zur Frage äussern, sind aber alle zitierten Autoren der Auffassung, dass der Widerruf im fortgeschrittenen Liquidationsstadium nicht mehr zuzulassen sei, wobei die Mehrheit von ihnen die Grenze übereinstimmend mit den Regelungen des deutschen und österreichischen Rechts im Zeitpunkt setzt, wo noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen worden ist. In diesem Zusammenhang ist im übrigen anzumerken, dass sich neben den vom Bundesgericht in BGE 91 I 438 ff. zitierten noch andere Autoren vor 1965 für die grundsätzliche Zulässigkeit des Widerrufs ausgesprochen haben (nämlich R. GOLDSCHMIDT, Grundfragen des neuen schweizerischen Aktienrechts, St. Gallen 1937, S. 60 ff.; FRITZ FUNK (Kommentar des Obligationenrechts, 2. Band, "Das Recht der Gesellschaften", 1951, N. 1 zu Art. 736 OR; WALTER R. SCHLUEP, Die wohlerworbenen Rechte des Aktionärs und ihr Schutz nach schweizerischem Recht, Diss. St. Gallen 1955, S. 74; CHARLES METZLER, Die Auflösungsgründe im Bereich der Aktiengesellschaft, Diss. Bern 1952, S. 5 f.). Der Kritik an BGE 91 I 438 ff. BGE 123 III, 473 (477)nicht angeschlossen haben sich ROBERT PATRY (Précis de droit suisse des sociétés, vol. II, La société anonyme, les sociétés mixtes, 1977, S. 267), GUHL/KUMMER/DRUEY (Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Auflage, S. 696) und STÄUBLI (in: Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht, Obligationenrecht II, N. 6 zu Art. 736 OR).
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Der Umstand, dass BGE 91 I 438 ff. in der Lehre überwiegend kritisiert wird, deutet auf eine gegenüber der damals getroffenen Lösung gewandelte Rechtsauffassung, auf eine andere Wertung der auf dem Spiel stehenden Interessen hin, was Anlass für eine Praxisänderung bilden kann (BGE 107 V 79 E. 5a mit Hinweisen; MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, N. 512 f. zu Art. 1 ZGB). Das wird durch die Stellungnahme des Eidgenössischen Amtes für das Handelsregister bestätigt, welches dem Bundesgericht eine Überprüfung seiner Praxis nahelegt und darauf hinweist, dass einer anderen Lösung keine öffentlichen oder rechtlich geschützten Interessen Dritter zwingend entgegenstünden. Es ist deshalb zu prüfen, ob an der mit BGE 91 I 438 ff. vorgenommenen Auslegung von Art. 739 Abs. 2 OR festgehalten werden kann.
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"Die Befugnisse der Organe der Gesellschaft werden mit dem Eintritt der Liquidation auf die Handlungen beschränkt, die für die Durchführung der Liquidation erforderlich sind, ihrer Natur nach jedoch nicht von den Liquidatoren vorgenommen werden können."
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Nach dem Wortlaut, auf den bei der Auslegung in erster Linie abzustellen ist (BGE 116 II 525 E. 2a; BGE 114 II 404 E. 3), werden die Befugnisse der Gesellschaftsorgane mit dem Eintritt der Liquidation in zweifacher Hinsicht beschränkt. Einerseits dürfen sie nur noch Handlungen vornehmen, die für die Durchführung der Liquidation erforderlich sind; andererseits sind sie dazu nur insoweit befugt, als die Handlungen nicht ihrer Natur nach von den Liquidatoren vorgenommen werden können. Diese doppelte Beschränkung der Befugnisse der Gesellschaftsorgane wurde in BGE 91 I 438 ff. in den Vordergrund gestellt. Dem Wortlaut kann indes mit dem Hinweis auf die "Natur" der Handlungen und damit auf die Gesetzessystematik auch eine positive Aussage über das Zusammenwirken von Organen und Liquidatoren sowie deren gegenseitige Kompetenzen entnommen werden. Und zwar im Sinne der Aussage, dass die Liquidatoren nicht über alle zur Durchführung der Liquidation erforderlichen BGE 123 III, 473 (478)Kompetenzen verfügen, sondern der Mitwirkung der Gesellschaftsorgane bedürfen, deren Fortbestand vorausgesetzt wird. Die Organe bleiben zuständig für Handlungen, die "nicht ihrer Natur nach von den Liquidatoren vorgenommen werden können" (frz. Wortlaut: "... et qui, de par leur nature, ne sont point du ressort des liquidateurs"; ital.: "... e che per la loro natura non possono essere eseguiti dei liquidatori"). Damit wird Bezug genommen auf die organisatorische Struktur der Gesellschaft und auf jene Aktivitäten der Gesellschaftsorgane, welche der Aufrechterhaltung der gesellschaftsrechtlichen Organisation dienen. Insoweit sieht das Gesetz keine besondere Kompetenzordnung für das Liquidationsstadium vor.
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a) Die Generalversammlung bleibt auch im Liquidationsstadium oberstes Organ der Gesellschaft, das nach wie vor den Willen der Aktionäre zum Ausdruck bringt (BÜRGI/NORDMANN, Zürcher Kommentar, N. 9 zu Art. 739 OR; STÄUBLI, a.a.O., N. 5 zu Art. 739 OR). Der Generalversammlung obliegen weiterhin Wahl und Abberufung von Verwaltung und Revisionsstelle (Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2, Art. 705 OR). Sie ist zur Abnahme der jährlichen Zwischenbilanz (Art. 743 Abs. 5 OR) und der Schlussbilanz verpflichtet, welche Grundlage für die Verteilung des Gesellschaftsvermögens bildet. Die Generalversammlung ist sodann zuständig zur Erteilung der Décharge an Verwaltung und Liquidatoren (BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 23 zu Art. 739 OR). Die Stellung der Generalversammlung als oberstes Gesellschaftsorgan manifestiert sich schliesslich in ihrer Kompetenz, den Liquidatoren die freihändige Verwertung zu verbieten (Art. 743 Abs. 4 OR) und selbst im Liquidationsstadium Statutenänderungen zu beschliessen, sofern sie mit der Liquidationstätigkeit vereinbar sind (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 66).
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Auch die Revisionsstelle behält während der Liquidation ihre Aufgaben (BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 34 zu Art. 739 OR). Ihre Pflichten bleiben weitgehend die gleichen wie vor dem Auflösungsbeschluss. So hat sie die Bilanzen - Liquidationseröffnungsbilanz (Art. 742 Abs. 1 OR), Zwischenbilanz und Schlussbilanz - zu prüfen und darüber Bericht zu erstatten (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 76). Nach Art. 729b Abs. 2 OR hat sie sodann bei offensichtlicher Überschuldung der Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, wenn der Verwaltungsrat die Anzeige unterlässt. Dieser Pflicht dürfte sie auch bei der aufgelösten Gesellschaft unterstellt sein, und zwar nicht nur, falls die Liquidation in den Händen BGE 123 III, 473 (479)des Verwaltungsrates liegt, sondern auch dann, wenn die Liquidation durch besondere Liquidatoren besorgt wird und diese die Überschuldung nicht anzeigen. Die subsidiäre Anzeigepflicht der Revisionsstelle ist bei der - nicht selten aus wirtschaftlichen Gründen - aufgelösten Gesellschaft nicht weniger von Bedeutung als bei der unaufgelösten, werbenden Gesellschaft (Revisionshandbuch der Schweiz 1992/TREUHAND KAMMER, bearb. von Pius Bachmann, Roger Bron et al., Bd. I, S. 493 f.; a.M.: STÄUBLI, a.a.O., N. 14 zu Art. 743 OR).
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b) Wesentliche Auswirkungen hat die Gesetzesvorschrift von Art. 739 Abs. 2 OR, die sich an die "Organe der Gesellschaft" schlechthin richtet und ihnen nach dem Wortlaut gleiche Befugnisbeschränkungen auferlegt, auf die Stellung des Verwaltungsrats. Hier zeigt sich indes deutlich, dass die Bestimmung zu wenig differenziert gefasst und deshalb mehrdeutig ist. Wird die Liquidation durch den Verwaltungsrat besorgt, ist die Befugnisbeschränkung zugunsten der Liquidatoren zwar gegenstandslos. Wird die Liquidation dagegen eigens hiefür bestimmten oder gewählten Liquidatoren übertragen, ist der Verwaltungsrat von den Befugnisbeschränkungen ungleich mehr betroffen als die Generalversammlung und die Revisionsstelle (vgl. dazu FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 72 ff.; BÜRGI/NORDMANN, a.a.O., N. 33 zu Art. 739 OR; F. VON STEIGER, Rechtsfragen betr. die Aktiengesellschaft in Liq., in: Die Schweizerische Aktiengesellschaft, 1949/50 Bd. 22, S. 40 ff.). Obliegt dem Verwaltungsrat in der unaufgelösten Gesellschaft die Führung der Geschäfte bzw. die Beaufsichtigung der Geschäftsführung (Art. 716, 716a und 716b OR), liegt nach der Auflösung die in der Liquidationstätigkeit bestehende Hauptaktivität der Gesellschaft in den Händen der Liquidatoren (Art. 742-745 OR). Diese und nicht der Verwaltungsrat haben im Falle der Überschuldung den Richter zu benachrichtigen (Art. 743 Abs. 2 OR). Kann der Verwaltungsrat für die unsorgfältige Führung der Geschäfte der unaufgelösten Gesellschaft zur Verantwortung gezogen werden, sind es nach der Auflösung der Gesellschaft die Liquidatoren (Art. 754 Abs. 1 OR). Die Bestimmung von Art. 739 Abs. 2 OR ist in ihrer Funktion als Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltungsrat und Liquidatoren, hinter der auch eine Verantwortungsabgrenzung steht, zweifellos zwingender Natur. Die im Vergleich zu Generalversammlung und Revisionsstelle ungleich stärkeren Auswirkungen der Liquidation auf die Kompetenzen des nicht liquidierenden Verwaltungsrates ändern aber nichts am Prinzip, dass der BGE 123 III, 473 (480)Auflösungsbeschluss und der anschliessende Eintritt der Gesellschaft in das Liquidationsstadium ihre Grundstruktur nicht verändert. Sie behält ihre juristische Persönlichkeit (Art. 739 Abs. 1 OR), ist mit der unaufgelösten Gesellschaft identisch (BGE 91 I 438 E. 4) und behält ihre gesetzlichen Organe. Die Befugnisse der Organe bleiben - abgesehen vom Sonderfall des nicht liquidierenden Verwaltungsrates - grundsätzlich erhalten und werden lediglich an die neue Aufgabe angepasst. Das gilt angesichts der oben dargelegten fortbestehenden Kompetenzen für die Generalversammlung und die Revisionsstelle generell. Damit wird für diese Organe bestätigt, worauf bereits der Wortlaut von Art. 739 Abs. 2 OR hindeutet, dass mit ihren "Handlungen", die "ihrer Natur nach nicht von den Liquidatoren vorgenommen werden können", wesensmässig andere Handlungen gemeint sind als solche, die zur eigentlichen "Durchführung der Liquidation" gehören und von den Liquidatoren besorgt werden. Die Kernfrage, ob die Generalversammlung auf den Auflösungsbeschluss zurückkommen und die Liquidationstätigkeit ausser Kraft setzen kann, lässt sich somit aufgrund des Wortlautes und der Gesetzessystematik nicht eindeutig beantworten. Die Bedeutung der Vorschrift ist deshalb unter Heranziehung weiterer Auslegungselemente zu finden; ihre Tragweite muss mittels Auslegung nach dem Zweck, nach den dem Gesetz zugrundeliegenden Wertungen bestimmt werden (BGE 114 V 220 E. 3a; BGE 110 Ib 1 E. 2c/cc S. 8; 121 III E. 1d/aa S. 225).
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a) Die Aktionäre, die aus wirtschaftlichen Gründen oder als Folge von gesellschaftsinternen Spannungen die Auflösung beschlossen haben, sind in erster Linie an einem optimalen Liquidationserlös interessiert. Sie können zur Förderung dieses Zieles auf die Gestaltung des Liquidationsverfahrens einwirken, indem sie Liquidatoren wählen, aber auch die gewählten Liquidatoren nötigenfalls abberufen BGE 123 III, 473 (481)(Art. 741 Abs. 1 OR), und sie entscheiden nach Art. 743 Abs. 4 OR darüber, ob die Liquidatoren Aktiven freihändig verkaufen dürfen. Es kann aber auch in ihrem Interesse liegen und sinnvoll sein, dass der Betrieb im Liquidationsstadium so lange weitergeführt wird, bis sich für das Unternehmen ein Käufer findet und dadurch ein optimaler Erlös erzielt wird (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 56 N. 106 und § 57 N. 30 zu Art. 739 OR). Bei veränderten Verhältnissen, zum Beispiel nach dem Wegfall der wirtschaftlichen oder gesellschaftsinternen Gründe, welche die Generalversammlung zum Auflösungsbeschluss veranlasst haben, können die Aktionäre aber auch daran interessiert sein, auf den Auflösungsbeschluss zurückzukommen und den Zustand vor der Auflösung der Gesellschaft wiederherzustellen. In der Lehre wird zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen mit der Änderung des Gesellschaftszwecks vergleichbaren Vorgang handelt, weil die Gesellschaft von ihrem beschränkten Liquidationszweck zum Zweck der aktiven Tätigkeit zurückkehrt (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 194). Ein solcher Beschluss fällt aber in die alleinige Kompetenz der Generalversammlung. Ihr steht das unübertragbare Recht zu, die Änderung des Gesellschaftszwecks zu beschliessen (Art. 698 Abs. 2 Ziff. 1, Art. 704 Abs. 1 Ziff. 1 OR). Dieses Recht gründet in der Stellung der Generalversammlung als oberstes Organ der Aktiengesellschaft (Art. 698 Abs. 1 OR) und ist letztlich Ausfluss des Prinzips der Körperschaftsautonomie, eines Fundamentes des Gesellschaftsrechts (W. VON STEIGER, ZBJV 103/1967 S. 123).
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Die Interessenlage der Beteiligten an dieser Zustandsveränderung ist vergleichbar mit jener beim Widerruf des über eine Gesellschaft eröffneten Konkurses. In der Lehre wird denn auch darauf hingewiesen, dass in Analogie zur Möglichkeit des Konkurswiderrufs nach Art. 195 SchKG und Art. 939 Abs. 2 OR auf die grundsätzliche Befugnis der Generalversammlung geschlossen werden müsse, den Auflösungs- bzw. Liquidationsbeschluss zu widerrufen (BÖCKLI, a.a.O., S. 1027 Rz. 1955d; BÜRGI, a.a.O., N. 20 zu Art. 736 OR). Die Analogie lässt sich allerdings nur dem Grundsatz nach rechtfertigen und fällt insoweit ausser Betracht, als nach Art. 195 Abs. 2 SchKG der Widerruf des Konkurses bis zum Schluss des Verfahrens möglich ist. Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage je nach dem Liquidationsstadium kann diese Regelung nicht auf die Liquidation einer Aktiengesellschaft übertragen werden (vgl. dazu unten E. 5b und c). Im übrigen besteht dafür auch kein praktisches Bedürfnis, BGE 123 III, 473 (482)da ein Widerruf nur solange angestrebt werden dürfte, als der Fortbestand der Gesellschaft für die Beteiligten noch von Interesse ist, was in der Regel nicht mehr zutrifft, wenn sich die Liquidation in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.
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b) Die gesetzliche Ausgestaltung des Liquidationsverfahrens ist weitgehend vom Gesichtspunkt geprägt, die Interessen der Gesellschaftsgläubiger zu sichern. Vornehmlich oder ausschliesslich dem Gläubigerschutz dienen die Vorschriften über die Verpflichtungen zur Bilanzerrichtung (Art. 742 Abs. 1 OR) und zum Schuldenruf (Art. 742 Abs. 2 OR), über die Verwertung der Aktiven und Erfüllung der Gesellschaftsverbindlichkeiten (Art. 743 Abs. 1 OR), über die gerichtliche Sicherstellung (Art. 744 OR) und insbesondere über die Verteilung des Gesellschaftsvermögens unter die Aktionäre (Art. 745 OR). Das Gesellschaftsvermögen darf erst dann an die Aktionäre verteilt werden, wenn alle Gläubiger befriedigt oder sichergestellt sind. Darin liegt der Ersatz für den durch die Liquidation bzw. die Vermögensverteilung bewirkten Wegfall der Garantien für die Erhaltung des Haftungssubstrates der unaufgelösten Gesellschaft. Dieses kann den Gläubigern durch die werbende Gesellschaft insofern nicht entzogen werden, als ihr Rückzahlungen des Grundkapitals an die Aktionäre nach Art. 680 Abs. 2 OR verboten sind. Tritt die Gesellschaft in Liquidation, fällt dieses Verbot dahin. An seine Stelle tritt die Verpflichtung zur Ersatzsicherheit für die Gläubiger. Diese Sicherheit kann die Gesellschaft nur solange stellen, als sich noch über das unverteilte Vermögen verfügt. Nach dessen Verteilung an die Aktionäre darf sie nicht mehr unternehmerisch tätig sein (PETER STAEHELIN, a.a.O., S. 221).
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Aus dieser Regelung ergibt sich eine unterschiedliche Interessenlage der Gesellschaftsgläubiger, je nachdem ihre Forderungen bereits im Zeitpunkt des Auflösungsbeschlusses bestanden oder erst nach dem Widerruf begründet wurden. Im ersten Fall ist der Gläubigerschutz im Liquidationsverfahren gewährleistet. Ein nach Beginn der Vermögensverteilung erfolgender Widerruf berührt die Interessen dieser Gläubiger nicht, da sie in diesem Stadium von der Gesellschaft befriedigt oder ihre Forderungen sichergestellt worden sein müssen. Eine Gefährdung ihrer Interessen ist deshalb bei gesetzmässigem Verlauf des Liquidationsverfahrens ausgeschlossen (ROBERT HEBERLEIN, a.a.O., S. 16). Anders verhält es sich dagegen im zweiten Fall (vgl. dazu PETER STAEHELIN, a.a.O., S. 223, und GOLDSCHMIDT, a.a.O., S. 61 f.). Wer nach dem Widerruf des Auflösungsbeschlusses Gläubiger der Gesellschaft wird, kann sich nur an noch BGE 123 III, 473 (483)vorhandenes Haftungssubstrat halten. Er wird daher ein vitales Interesse daran haben, dass das Gesellschaftsvermögen in der dem Widerruf vorangegangenen Liquidationsphase nicht verteilt wurde. Mit einer Verteilung in dieser Zwischenphase entstände eine Lücke im Gläubigerschutz, der entweder auf dem Haftungssubstrat der unaufgelösten Gesellschaft oder auf der Verpflichtung zur Ersatzsicherheit in der aufgelösten Gesellschaft beruht. Weil der Gesetzgeber einen lückenlosen Gläubigerschutz vorgesehen hat und dieser nur gewährleistet ist, wenn die Liquidation nach der Vermögensverteilung abgeschlossen wird, würde ein nach begonnener Vermögensverteilung gefasster Widerrufsbeschluss auf eine Umgehung der Bestimmungen über den Gläubigerschutz hinauslaufen. Zudem könnte auf diese Weise das Verbot der Kapitalrückzahlung an die Aktionäre umgangen werden (vgl. für das deutsche Recht HÜFFER, in: GESSLER/HEFERMEHL/ECKARDT/KROPFF, Aktiengesetz, Band V, N. 21 zu § 274). Die einem solchen Beschluss zugrunde liegenden Interessen der Aktionäre brechen sich in diesem Liquidationsstadium an den gesetzlich geschützten Gläubigerinteressen. Wenn die Liquidation so weit fortgeschritten ist, kann das Liquidationsverfahren nicht mehr durch Generalversammlungsbeschluss widerrufen, sondern muss es abgeschlossen werden.
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c) Demnach führt die Auslegung von Art. 739 Abs. 2 OR nach Wortlaut, Systematik und teleologischen Gesichtspunkten zum Ergebnis, dass der Widerruf des Auflösungsbeschlusses durch die Generalversammlung so lange zulässig ist, als noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen worden ist. Diese Lösung stimmt überein mit der heute überwiegend von der Lehre vertretenen Meinung, lässt sich mit der Entstehungsgeschichte von Art. 739 Abs. 2 OR vereinbaren (vgl. oben E. 2; BGE 91 I 438 E. 3 S. 442) und lehnt sich an die gesetzlichen Regelungen Deutschlands (§ 274 Abs. 1 des Aktiengesetzes von 1965) und Österreichs (§ 215 Abs. 1 des Aktiengesetzes von 1965) an. Keine Bedenken bestehen schliesslich unter dem im bereits zitierten Bundesgerichtsentscheid vom 14. September 1938 (abgedruckt in: Die Schweizerische Aktiengesellschaft 1938/39, S. 69) hervorgehobenen fiskalischen Aspekt, dass durch die Zulassung des Widerrufs Steuerumgehungen mittels Verwertung von sogenannten Aktienmänteln ermöglicht würden. Zum einen wird das Problem heute vom Steuerrecht selbst gelöst (vgl. Art. 5 Abs. 2 lit. b des Bundesgesetzes über die Stempelabgaben; SR 641.10; FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 192). Zum andern steht die hier befürwortete Lösung nicht BGE 123 III, 473 (484)im Widerspruch zur Widerrechtlichkeit des Mantelkaufs. Unter einem Aktienmantel wird eine wirtschaftlich vollständig liquidierte und von den Beteiligten aufgegebene, juristisch aber noch nicht aufgelöste Gesellschaft verstanden (BGE 55 I 134 ff.; 64 II 361 E. 1; Bundesgerichtsentscheid vom 4. September 1989 E. 1b, abgedruckt in: SJ 1990 S. 108). In diesem Stadium ist indes ein Widerruf des Auflösungsbeschlusses nicht mehr zulässig. Vorausgesetzt wird vielmehr, dass die Gesellschaft über ihr unverteiltes Gesellschaftsvermögen verfügt und ein Interesse an der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit besteht, es sich somit nicht um einen blossen Aktienmantel handeln kann.
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Der öffentlich beurkundete und zum Eintrag in das Handelsregister angemeldete Beschluss (dazu FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, a.a.O., § 55 N. 198) wurde sodann einstimmig gefasst, weshalb die Frage nach dem allenfalls erforderlichen Quorum nicht beantwortet werden muss. Einer - im vorliegenden Fall tatsächlich erfolgten - Zustimmung der Gesellschaftsgläubiger bedurfte der Beschluss im übrigen nicht, weil er deren Interesse an der Sicherung ihrer Forderungen nicht berührt. Die sinngemässe Anwendung von Art. 195 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG rechtfertigt sich wegen der Verschiedenheit der Verhältnisse beim Widerruf des Konkurses nicht. Unerlässlich ist dagegen, dass die Gesellschaft den Nachweis erbringt, dass im Zeitpunkt des Widerrufsbeschlusses noch nicht mit der Verteilung des Gesellschaftsvermögens begonnen wurde. Von welchem Organ und auf welche Art der Nachweis gegenüber dem Handelsregisterführer zu leisten ist, muss mangels einer Gesetzesvorschrift durch richterliche Rechtsschöpfung geregelt werden (Art. 1 Abs. 2 und 3 ZGB). Da die Liquidationstätigkeit und insbesondere auch die Vermögensverteilung in den Verantwortungsbereich der Liquidatoren fällt (Art. 742-745 OR), erscheint es sachgerecht, dass sie oder der nach Art. 740 Abs. 1 OR mit der Liquidation betraute Verwaltungsrat eine entsprechende schriftliche Bestätigung abgeben. Auch diese Voraussetzung ist hier erfüllt, wurde doch dem Handelsregisterführer eine schriftliche Erklärung der Liquidatoren eingereicht, wonach ausser dem Schuldenruf keine Liquidationshandlungen durchgeführt worden seien.
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