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Informationen zum Dokument  BGE 117 II 399  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Gemäss Art. 58 Abs. 1 OR haftet der Werkeigentümer f ...
3. a) Die Toiletten im Untergeschoss des Hotels der Beklagten sin ...
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74. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 9. Juli 1991 i.S. Lise C. gegen Hotel B. AG (Berufung)
 
 
Regeste
 
Art. 58 OR; Werkeigentümerhaftung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 117 II, 399 (399)Am 23. August 1987 suchte die damals achtzig Jahre alte Lise C. in Begleitung ihres Ehemannes im Hotel B. die im Untergeschoss befindlichen Toiletten auf. Beim Verlassen der Toiletten stürzte sie im Vorraum über eine zwölf Zentimeter hohe Stufe und zog sich dabei verschiedene Verletzungen zu.
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Am 24. August 1988 reichte Frau C. beim Appellationshof des Kantons Bern gegen die Eigentümerin des Hotels B., die Hotel B. AG, Klage ein, mit der sie die Zusprechung von Schadenersatz in einem gerichtlich zu bestimmenden, Fr. 8'000.-- übersteigenden Betrag zuzüglich Fr. 30'000.-- Genugtuung verlangte. Nachdem der Appellationshof am 29. Mai 1989 das Verfahren auf die Frage beschränkt hatte, ob ein Werkmangel vorliege, verneinte er dies mit Urteil vom 13. September 1990 und wies dementsprechend die Klage ab.
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Die Klägerin hat gegen das Urteil des Appellationshofs Berufung eingereicht, die vom Bundesgericht gutgeheissen wird.
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Aus den Erwägungen:
 
2. Gemäss Art. 58 Abs. 1 OR haftet der Werkeigentümer für den Schaden, der durch fehlerhafte Anlage oder Herstellung BGE 117 II, 399 (400)oder durch mangelhaften Unterhalt des Werks verursacht wird. Ob ein Werk fehlerhaft angelegt oder mangelhaft unterhalten ist, hängt vom Zweck ab, den es zu erfüllen hat, da es einem bestimmungswidrigen Gebrauch nicht gewachsen zu sein braucht. Ein Mangel liegt somit vor, wenn das Werk beim bestimmungsgemässen Gebrauch keine genügende Sicherheit bietet. Ein Werk gilt deshalb nur dann als mängelfrei, wenn es mit denjenigen baulichen und technischen Schutzvorrichtungen versehen ist, die notwendig sind, um eine sichere Benutzung zu gewährleisten (BGE 116 II 423 mit Hinweisen). Vorzubeugen hat der Werkeigentümer nicht jeder denkbaren Gefahr, sondern nur jener, die sich aus der Natur des Werks und seiner normalen Benützung ergibt. Er darf Risiken ausser acht lassen, welche von Personen, die erlaubterweise mit dem Werk in Berührung kommen, mit einem Mindestmass an Vorsicht vermieden werden können. An die Sicherheit öffentlicher Gebäude oder privater Gebäude mit Publikumsverkehr sind indessen höhere Anforderungen zu stellen. Auch ältere oder behinderte Personen müssen sich in solchen Gebäuden ohne Aufwendung besonderer Aufmerksamkeit sicher und gefahrlos bewegen können (BGE 88 II 420 /21, BGE 57 II 50). Bei der Beurteilung ist sodann zu berücksichtigen, ob die Beseitigung allfälliger Mängel oder das Anbringen von Sicherheitsvorrichtungen technisch möglich ist und die entsprechenden Kosten in einem vernünftigen Verhältnis stehen zum Schutzinteresse der Benützer und zum Zweck des Werks (BGE 100 II 139 mit Hinweisen).
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3. a) Die Toiletten im Untergeschoss des Hotels der Beklagten sind durch einen Vorraum erreichbar, der aus zwei gegeneinander versetzten, 126 bzw. 98,5 Zentimeter breiten und ca. zwei Meter langen rechteckigen Raumteilen besteht. Die Stufe von zwölf Zentimetern Höhe befindet sich beim rund ein Meter breiten Durchgang zwischen den beiden Raumteilen. Der Fussboden des ganzen Vorraums ist mit rot-braunen quadratischen Tonerde-Platten bedeckt mit Ausnahme der Stufe, deren Belag aus einer Reihe schmalerer, rechteckiger Platten des gleichen Materials und in gleicher Farbe besteht. Die Türe vom Vorraum zur Damentoilette liegt etwas versetzt gegenüber dem Tritt. Sie öffnet sich gegen innen und ist mit einer Schliessautomatik versehen. Die Wände des Vorraums sind hell verputzt. Zwei Deckenspots, die im Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin eingeschaltet waren, beleuchten den Vorraum gut.
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BGE 117 II, 399 (401)b) Jeder Niveauunterschied birgt die Gefahr in sich, dass Personen stolpern oder stürzen, wenn sie ihn übersehen. Für die Beurteilung, ob darin ein Werkmangel liegt, kommt deshalb der baulichen Ausgestaltung, der Sichtbarkeit und dem Grad der Aufmerksamkeit der Personen, die sich in dessen Bereich bewegen, eine massgebliche Bedeutung zu. Gemäss den tatsächlichen Feststellungen des Appellationshofs war die unterschiedliche Höhe des Fussbodens im Vorraum der Toiletten technisch notwendig, da sonst die Abwasserleitungen mit unzumutbaren Kosten hätten tiefer gelegt werden müssen. Die Stufe ist technisch einwandfrei konstruiert und an einer zweckmässigen, gut sichtbaren Stelle angebracht, nämlich am Übergang zwischen den beiden gegeneinander versetzten Raumteilen. Zutreffend hält die Vorinstanz sodann fest, dass eine einzelne Stufe regelmässig unfallträchtiger ist als eine Treppe mit mindestens drei Stufen, weil sie wegen des geringeren Niveauunterschieds leichter übersehen wird. Aufgrund der baulichen Verhältnisse lässt sich indessen ein geringer Höhenunterschied nicht immer durch eine Abschrägung oder eine Folge von zwei bis drei Tritten überwinden. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall nur eine Stufe vorhanden war, kann daher nicht als Werkmangel gewertet werden.
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Ein solcher Mangel darf sodann auch nicht schon daraus abgeleitet werden, dass bereits früher Personen wegen des Tritts gestürzt sind (vgl. BGE 87 II 313, 66 II 111). Gemäss dem angefochtenen Urteil haben sich bei dieser Stufe in früheren Jahren zwei kleinere Unfälle ereignet. Auch der Ehemann der Klägerin ist am Unfalltag, nachdem er sie zur Damentoilette begleitet hatte und sich ins Restaurant zurückbegab, über die Stufe im Vorraum gestolpert. Diese doch gehäuften Vorkommnisse können indessen - auch nach der Praxis des Bundesgerichts - als Indizien für die Gefährlichkeit der Stufe und damit für das Vorliegen eines Werkmangels gewertet werden (OFTINGER/STARK, Schweizerisches Haftpflichtrecht, 4. Aufl., Bd. II/1, S. 212, N. 85 zu § 19; KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Bd. I, S. 152).
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c) Welche Aufmerksamkeit von den Benützern eines Werks erwartet werden kann, hängt von den konkreten Umständen ab. Verlangt wird lediglich ein Mindestmass an Vorsicht (BGE 106 II 210, BGE 66 II 111) bzw. ein vernünftiges, dem Durchschnitt entsprechendes vorsichtiges Verhalten (BGE 91 II 209). In Gebäuden muss zwar immer mit Stufen gerechnet werden. Daraus darf aber nicht abgeleitet werden, der Benützer habe beim Gehen dem Verlauf BGE 117 II, 399 (402)des Bodens besondere Aufmerksamkeit zu schenken, selbst wenn nichts auf Niveauunterschiede, Vertiefungen oder ähnliche Unregelmässigkeiten hindeutet. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass unfallträchtige Stellen so gekennzeichnet werden, dass er sie auch bei einem bloss flüchtigen Blick auf den Boden erkennt. Das gilt in besonderem Masse für öffentliche Gebäude oder private Gebäude mit erheblichem Publikumsverkehr. Im vorliegenden Fall lagen keine Umstände vor, welche einen durchschnittlichen Benützer hätten veranlassen müssen, dem Bodenverlauf in den Toiletten besondere Beachtung zu schenken. Die örtlichen Verhältnisse führen jedenfalls dazu, dass sich der Blick beim Verlassen der Damentoilette der Ausgangstüre des Vorraums zuwendet, die sich schräg gegenüber in einer Entfernung von lediglich etwa zweieinhalb Metern befindet, und dass dabei der dazwischenliegende Boden nur flüchtig überblickt wird.
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Fehl geht die Behauptung der Beklagten, die Klägerin habe die Stufe darum übersehen, weil sie die Damentoilette fluchtartig verlassen habe. Zum einen findet sich im angefochtenen Urteil keine entsprechende Feststellung. Zum andern lässt sich aus den Angaben der Vorinstanz über die örtlichen Verhältnisse und den Ablauf der Ereignisse eher das Gegenteil ableiten. Anzunehmen ist, dass die Schliessautomatik der Türe zur Damentoilette diese während mehrerer Sekunden noch soweit geöffnet hielt, dass der Ehemann die Klägerin beim Sturz sehen konnte; um die Entfernung von gut einem Meter von dieser Türe bis zur Stufe zurückzulegen, genügten aber der Klägerin auch bei langsamem Gang wenige Sekunden. Der Klägerin kann deshalb nicht vorgeworfen werden, sie habe sich nicht durchschnittlich vorsichtig verhalten.
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d) Die einzige Vorkehr der Beklagten, um die Benützer auf die Stufe im Vorraum aufmerksam zu machen, bestand darin, dass diese mit Platten eines etwas anderen Formats belegt wurde. Der Appellationshof führt dazu aus, damit sei die Stufe "optisch zweckmässig hervorgehoben", "ohne weiteres erkennbar" und "für den vernünftig aufmerksamen Bürger gut sichtbar" gewesen, was von der Klägerin bestritten wird. Die Feststellungen der Vorinstanz sind nur insoweit tatsächlicher Natur und deshalb für das Bundesgericht verbindlich (Art. 63 Abs. 2 OG), als sie den Sachverhalt hinsichtlich der baulichen Ausgestaltung und der Sichtbarkeit betreffen. Eine vom Bundesgericht überprüfbare Wertung liegt jedoch vor bezüglich der Frage, welcher Grad an Aufmerksamkeit erwartet werden darf und ob die tatsächlich getroffenen BGE 117 II, 399 (403)Vorkehren unter diesem Gesichtspunkt ausreichten, um eine Gefahr für den Benützer auszuschliessen.
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Wenn der Appellationshof die Verwendung eines etwas anderen Plattenformats ohne jede weitere Markierung genügen lassen will, um die Stufe als gut sichtbar zu beurteilen, geht er von einem zu strengen Massstab bezüglich der Aufmerksamkeit des Benützers aus. Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt, dass eine einzelne Stufe auch bei Aufwendung durchschnittlicher Aufmerksamkeit leicht übersehen wird. Der Appellationshof verweist zwar auf die von der Beklagten vorgelegte Fotodokumentation als Beleg dafür, dass es durchaus üblich sein soll, Treppen und Stufen durch farbgleiche, andersformatige Bodenplatten hervorzuheben. Der Umstand allein, dass eine Konstruktionsart üblich ist, vermag indessen den Werkeigentümer nicht zu entlasten (BGE 90 II 231 mit Hinweisen). Die fotografierten Beispiele beziehen sich im übrigen vorwiegend auf grössere und kleinere Treppen, bei welchen der Niveauunterschied ohnehin schon ins Auge fällt, nicht aber auf eine einzelne Stufe. Das einzige Beispiel mit einer einzelnen Stufe betrifft ein privates Mehrfamilienhaus und nicht ein Gebäude mit viel Publikumsverkehr wie das Hotel der Beklagten.
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e) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts rechtfertigt sich ein strengerer Massstab der Beurteilung dann, wenn einfache und mit wenig Kosten verbundene Vorkehren genügen würden, um der Gefahr wirksam vorzubeugen (BGE 106 II 210, 96 II 37). Unter diesem Gesichtspunkt beanstandet die Klägerin zu Recht, dass ein anderes Material für den Belag der Stufe hätte gewählt oder zumindest die Stufenkante hätte auffällig markiert werden müssen. Die notwendigen Kosten wären nicht ins Gewicht gefallen. Dass damit die Stufe auch bei einem flüchtigen Blick erheblich besser erkennbar gewesen wäre, leuchtet ein. Entgegen dem Einwand der Beklagten würde eine solche deutliche optische Markierung auch einen Benützer, der zur gegenüber liegenden Ausgangstüre blickt, auf die Stufe aufmerksam machen.
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Das Anbringen eines Warnschildes würde die Gefahr ebenfalls erheblich verringern. Verfehlt ist die von der Beklagten vorgebrachte Behauptung, Warnschilder seien nur bei ganz besonderen, atypischen und unerwarteten Gefahrenlagen angezeigt. Das wird schon durch die im Alltag sehr häufige Verwendung der Warnung "Achtung Stufe" widerlegt. Dass im Hotel der Beklagten sodann - wie sie behauptet - hundert gleichartige, isolierte Stufen wie im Vorraum zu den Toiletten existieren und somit auch mit Warnschildern BGE 117 II, 399 (404)versehen werden müssten, geht aus dem angefochtenen Urteil nicht hervor. Zudem hängt die Pflicht zur Anbringung von Warnschildern im wesentlichen auch von der Intensität des Publikumverkehrs ab. Die Verhältnisse im Vorraum der Toilette können nicht ohne weiteres auf andere Orte im Gebäude übertragen werden. Schliesslich trifft auch nicht zu, dass das Warnschild die Aufmerksamkeit der Benützer gerade von der gefährlichen Stufe ablenken würde, wie die Beklagte befürchtet. Das lässt sich durch eine geeignete Plazierung des Schildes ohne weiteres vermeiden.
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Das Vorliegen eines Werkmangels ist somit wegen ungenügender optischer Hervorhebung der Stufe und des Fehlens eines Warnschildes zu bejahen. Ob ein solcher Mangel auch darin zu sehen ist, dass die Stufe nicht besonders beleuchtet war, wie die Klägerin geltend macht, kann deshalb dahingestellt bleiben.
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