VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 114 II 396  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Erwägungen:
2. Vor dem Kassationsgericht des Kantons Zürich war einzig n ...
3. Nach der Meinung der Beschwerdeführerin führt die Be ...
4. Obschon im vorliegenden Fall die Abänderung der vorsorgli ...
5. a) Nach Art. 169 ZGB kann ein Ehegatte nur mit der ausdrü ...
6. a) Nun ist zwar - jedenfalls dem Grundsatz nach - die Feststel ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
76. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. November 1988 i.S. H.-M. gegen H. (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
Regeste
 
Familienwohnung (Art. 145 und 169 ZGB).  
2. Ein Ehegatte kann sich auch während des Scheidungsprozesses auf Art. 169 ZGB berufen. Doch verliert der von dieser Bestimmung gewährte Schutz seine Berechtigung, wenn der Ehegatte die Familienwohnung endgültig verlassen hat oder verlassen muss und wenn keine Aussicht mehr besteht, dass die Ehegatten in der vormaligen Familienwohnung das Zusammenleben wieder aufnehmen werden (E. 5).  
3. Es ist im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden, wenn durch die vorsorgliche Massnahme nach Art. 145 ZGB der richterliche Entscheid über den triftigen Grund im Sinne von Art. 169 Abs. 2 ZGB schon vorweggenommen wird (E. 6).  
 
Sachverhalt
 
BGE 114 II, 396 (397)A.- Mit Beschluss vom 1. Februar 1988 verpflichtete das Obergericht des Kantons Zürich, an welches die Ehefrau rekurriert hatte, den Ehemann zu monatlichen Unterhaltsbeiträgen von Fr. 10'000.-- bis zum Auszug der Ehefrau aus der ehelichen Wohnung. Von diesem Zeitpunkt an sollte der Ehemann monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 7'000.-- entrichten. Ferner verlängerte das Obergericht die Frist zum Auszug aus der bisherigen Familienwohnung, die der Ehefrau in erster Instanz gesetzt worden war, bis zum 31. Juli 1988 und bestätigte die Aufhebung der zwei Jahre zuvor angeordneten Kanzleisperre über die im Eigentum des Ehemannes stehende Liegenschaft.
1
Eine Nichtigkeitsbeschwerde der Ehefrau gegen diesen Beschluss des Obergerichts wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 23. Juni 1988 abgewiesen.
2
B.- Die Ehefrau erhob beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Diese wurde abgewiesen mit den folgenden
3
 
Erwägungen:
 
4
Diese Frage hat das Kassationsgericht verneint, weil Gegenstand des Abänderungsverfahrens im Rahmen von Art. 145 ZGB vor Obergericht nur die Unterhaltsbeiträge an die Ehefrau und die Tochter sowie die Benutzung der bisherigen ehelichen Liegenschaft und deren Sicherung durch eine Kanzleisperre gewesen seien. In diesem Zusammenhang sei über eine Veräusserung oder eine andere Beschränkung von Rechten an der Familienwohnung nicht entschieden worden. Darum - das heisst um die Familienwohnung betreffende Rechtsgeschäfte - aber gehe es immer, wenn Art. 169 ZGB zum Zuge komme. Zwar sei eine Veräusserung der bisherigen ehelichen Liegenschaft schon in Aussicht genommen worden und habe der Beschwerdegegner beim Bezirksgericht um die Zustimmung gemäss Art. 169 Abs. 2 ZGB ersucht. Indessen müsse die Beschwerdeführerin ihre Einwände gegen den Verkauf des Einfamilienhauses in jenem Verfahren vorbringen; im BGE 114 II, 396 (398)vorliegenden Verfahren nach Art. 145 ZGB sei sie diesbezüglich nicht beschwert. Da Art. 169 ZGB im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen nicht zur Diskussion stand, konnte nach der Auffassung des Kassationsgerichts auch keine Rede von der Verletzung klaren (neuen) Rechts sein.
5
3. Nach der Meinung der Beschwerdeführerin führt die Betrachtungsweise des Kassationsgerichts zu einem völlig sachfremden und damit willkürlichen Ergebnis. Wenn sich das Kassationsgericht weigere, im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen gemäss Art. 145 ZGB auch Art. 169 ZGB anzuwenden, so unterlaufe es damit die letztere, zum Schutz der Familienwohnung aufgestellte Bestimmung. Auch liege ein Zirkelschluss in den Überlegungen des Kassationsgerichts: Mit den vorsorglichen Massnahmen, die nach der Auffassung des Kassationsgerichts ohne Rücksicht auf Art. 169 ZGB anzuordnen seien, werde die Ehefrau zum Verlassen der ehelichen Liegenschaft gezwungen, und im folgenden Verfahren nach Art. 169 Abs. 2 ZGB werde die richterliche Zustimmung zur Veräusserung der Familienwohnung damit begründet, dass nach der Ausweisung der Ehefrau nicht mehr von einer Familienwohnung gesprochen werden könne.
6
7
Es ist daher zu prüfen, ob das Kassationsgericht des Kantons Zürich aus materiellrechtlichen Gründen über Art. 169 ZGB hinwegsehen durfte, ohne dadurch in Willkür zu verfallen.
8
9
BGE 114 II, 396 (399)Damit soll verhindert werden, dass - insbesondere auch bei Spannungen in der Ehe - der Ehegatte, der die dinglichen oder obligatorischen Rechte an der Familienwohnung innehat, den anderen Ehegatten gegen dessen Willen der für ihn lebenswichtigen Wohnung beraubt (vgl. Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Wirkungen der Ehe im allgemeinen, Ehegüterrecht und Erbrecht) vom 11. Juli 1979, Ziff. 217.221, BBl 1979 II S. 1191 ff.). Zu Recht geht daher das Kassationsgericht des Kantons Zürich davon aus, dass ein Ehegatte auch während des Scheidungsprozesses, also grundsätzlich bis zur Auflösung der Ehe bzw. bis zu deren Trennung durch den Richter, sich auf Art. 169 ZGB soll berufen können. Diese Bestimmung ist im übrigen zwingendes Recht; sie kann vertraglich zum voraus weder wegbedungen noch abgeändert werden (Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 10 zu Art. 169 ZGB und Art. 271a OR).
10
b) Nach Sinn und Zweck von Art. 169 ZGB ist indessen vorauszusetzen, dass tatsächlich ein Ehegatte auf die Familienwohnung angewiesen ist. Von einer Familienwohnung kann daher nicht mehr gesprochen werden, wenn die vordem gemeinsame Wohnung von beiden Ehegatten endgültig aufgegeben wird. Das ist der Fall, wenn der Ehegatte, der an sich Art. 169 ZGB anrufen könnte, die eheliche Wohnung aus freiem Entschluss für unbestimmte Zeit verlässt (HEGNAUER, Grundriss des Eherechts, Bern 1987, Rz. 17.21) oder wenn sich beide Ehegatten darauf einigen, dass die Familienwohnung aufgegeben werden soll (WESSNER, Mietrecht und neues Eherecht, in: Mietrechtspraxis 1987, S. 88 ff., 94; NÄF-HOFMANN, Das neue Ehe- und Erbrecht im Zivilgesetzbuch, Zürich 1986, N. 117 f., 122). Gleiches gilt, wenn die Ehegatten - allerdings nicht schon zum voraus - eine Vereinbarung treffen, wonach der nicht dinglich oder obligatorisch an der Familienwohnung berechtigte Ehegatte diese nicht nur vorübergehend verlässt, sondern sie endgültig dem anderen Ehegatten überlässt (GEISER, Neues Eherecht und Grundbuchführung, in: Schweiz. Zeitschrift für Beurkundungs- und Grundbuchrecht 68/1987, S. 15 ff., 17).
11
Einer solchen rechtsgeschäftlichen Einigung unter den Ehegatten ist nun aber auch eine Regelung vergleichbar, die zwar nicht vom freien Willen der Ehegatten getragen, aber angesichts von objektiven Umständen für diese dennoch verbindlich wird (RUOSS, Der Einfluss des neuen Eherechts auf Mietverhältnisse an Wohnräumen, in ZSR 107/1988 I, S. 75 ff., 83). Der dem Ehegatten BGE 114 II, 396 (400)von Art. 169 ZGB gewährte Schutz verliert somit überall dort seine Berechtigung, wo der Ehegatte die Familienwohnung endgültig verlassen hat oder verlassen muss und wo keine Aussicht mehr darauf besteht, dass die Ehegatten in der vormaligen Familienwohnung das Zusammenleben wiederaufnehmen werden (Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 22 zu Art. 169 ZGB und Art. 271a OR).
12
c) Können somit schon die besonderen Umstände der Auflösung des gemeinsamen Haushalts dazu führen, dass von einer Familienwohnung nicht mehr gesprochen werden kann, so kann der Anordnung des Getrenntlebens im Rahmen von Art. 145 ZGB (wie unter Umständen auch im Rahmen von Art. 176 ZGB) im Hinblick auf Art. 169 ZGB massgebliche Bedeutung zukommen. Das trifft, wie der vorliegende Fall zeigt, selbst dann zu, wenn man mit einem anderen Teil der Lehre davon ausginge, dass die voraussichtlich endgültige Trennung des nicht dinglich oder obligatorisch berechtigten Ehegatten von der gemeinsamen Wohnung dieser die Eigenschaft als Familienwohnung im Sinne von Art. 169 ZGB nicht zu nehmen vermag (GROSSEN, La protection du logement de la famille, in: Mélanges en l'honneur de Henri Deschenaux, Fribourg 1977, S. 99 ff., 103; HASENBÖHLER, Verfügungsbeschränkungen zum Schutze eines Ehegatten, BJM 1986, S. 57 ff., 70; NÄF-HOFMANN, a.a.O., Rz. 120). Auch bei dieser Betrachtungsweise kann nämlich unter dem Gesichtswinkel von Art. 169 ZGB nicht darüber hinweggesehen werden, dass der aufgrund dieser Bestimmung geschützte Ehepartner die bisherige Familienwohnung auf Dauer verlässt.
13
6. a) Nun ist zwar - jedenfalls dem Grundsatz nach - die Feststellung des Kassationsgerichts des Kantons Zürich nicht zu beanstanden, das Verfahren nach Art. 169 Abs. 2 ZGB setze eine konkrete rechtsgeschäftliche Verfügung über die Familienwohnung voraus und eine solche Verfügung sei im Zeitpunkt der Anordnung vorsorglicher Massnahmen nach Art. 145 ZGB nicht unbedingt schon getroffen. Indessen kommt, wie dargelegt, der auf Art. 145 ZGB gestützten Anordnung des Getrenntlebens im Hinblick auf Art. 169 ZGB eine erhebliche präjudizierende Wirkung zu, und dies nicht nur, wenn damit für den an der Familienwohnung nicht dinglich oder obligatorisch berechtigten Ehepartner eine voraussichtlich endgültige Trennung von der Familienwohnung herbeigeführt wird. Sodann ist zwar auch unter neuem Recht daran zu denken, dass Eheschutzmassnahmen - um eine solche BGE 114 II, 396 (401)handelt es sich auch bei Art. 169 Abs. 2 ZGB (DESCHENAUX/STEINAUER, Le nouveau droit matrimonial, Bern 1987, S. 143; Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 13 zu den Vorbemerkungen zu Art. 171 ff. ZGB, N. 8 und 65 zu Art. 169 ZGB und 271a OR) - nicht mehr angeordnet werden können, sobald die Scheidungsklage rechtshängig gemacht worden ist (SCHNYDER, Die Wirkungen der Ehe im allgemeinen, in: Das neue Ehe- und Erbrecht des ZGB mit seiner Übergangsordnung, Berner Tage für die juristische Praxis 1987, Bern 1988, S. 11 f., 30; DESCHENAUX/STEINAUER, a.a.O., S. 156; Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 17 ff. zu den Vorbemerkungen zu Art. 171 ff. ZGB, mit Hinweis auf BGE 101 II 2, BGE 91 II 324, BGE 86 II 307). Jedoch kann der Richter im Rahmen der vorsorglichen Massnahmen nach Art. 145 ZGB auch solche treffen, die vom Gesetz beim Eheschutz vorgesehen sind (Kommentar HAUSHEER/REUSSER/GEISER, N. 19 zu den Vorbemerkungen zu Art. 17 ff. ZGB). Insofern ist, entgegen der Auffassung des Kassationsgerichts des Kantons Zürich, bei Anwendung des Art. 145 ZGB auch den Anliegen der in Art. 169 ZGB verankerten Eheschutzmassnahme Rechnung zu tragen.
14
b) Im vorliegenden Fall ist die Anordnung, wonach die Ehefrau die Familienwohnung zu verlassen habe, aus sachlichen Gründen getroffen worden, lässt es sich doch nicht rechtfertigen, dass eine Familienwohnung beibehalten wird, die den finanziellen Verhältnissen der Ehegatten in keiner Weise mehr angemessen ist. Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn im Ergebnis durch die vorsorgliche Massnahme nach Art. 145 ZGB der richterliche Entscheid über den triftigen Grund im Sinne von Art. 169 Abs. 2 ZGB schon vorweggenommen worden ist. Der angefochtene Entscheid müsste aber im Ergebnis unhaltbar sein, um wegen Verstosses gegen das Willkürverbot aufgehoben zu werden (BGE 112 Ib 247 E. 3b).
15
Allerdings müsste die vom Obergericht des Kantons Zürich angeordnete und durch den Beschluss des Kassationsgerichts unausgesprochen bestätigte Anordnung, dass die Ehefrau das eheliche Einfamilienhaus bis 31. Juli 1988 zu verlassen habe, richtigerweise auf ein späteres Datum angesetzt werden. Indessen hat es die Beschwerdeführerin unterlassen, dieses (mit ihrem Begehren um aufschiebende Wirkung nicht zu vereinbarende) Ergebnis als willkürlich zu rügen. Daher und wegen der grundsätzlich kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde ist das Bundesgericht daran gehindert, in diesem Punkt eine andere Anordnung zu treffen.
16
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).