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Informationen zum Dokument  BGE 84 II 556  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Wie schon in kantonaler Instanz hält die Klägerin de ...
2. Mit Recht hat das Handelsgericht die Schadensanzeige als dem A ...
3. In erster Linie ist der Vorinstanz darin beizustimmen, dass de ...
4. Um die in Art. 34 Abs. 1 ABVT vorgesehenen Massnahmen in geh&o ...
5. In der Regel wickelt sich die Schadensfeststellung durch den H ...
6. Was die Inventa statt dessen vorkehrte, lief auf eine Umgehung ...
7. Eine Frage für sich ist, ob die Inventa die Einleitung ei ...
8. Zu Unrecht nimmt die Klägerin an der Höhe der von de ...
9. Der Eventualstandpunkt der Klägerin, eine ihren Rechtsvor ...
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76. Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Juni 1958 i.S. Baffra A.-G. gegen "Schweiz" Allgemeine Versicherungs- A.-G.
 
 
Regeste
 
Seetransportversicherung.  
2. In den allgemeinen Bedingungen aufgestellte Regeln über  
a) die Schadensfeststellung durch den Havarie-Kommissar des Versicherers, wenn Güter ausserhalb der Schweiz beschädigt ausgeladen werden; Vorschusspflicht des Anspruchsberechtigten;  
b) die rechtsverbindliche Schätzung des Schadens durch unparteiische bzw. beiderseits ernannte Sachverständige (Erw. 2).  
3. Verwirkung des Ersatzanspruchs gegen den Versicherer kraft vertraglicher Klausel. Gegebene Gründe: a) eigenmächtige Beauftragung eines Experten eigener Wahl durch den Anspruchsberechtigten; b) Verweigerung der Vorschussleistung an den Havarie-Kommissar (Erw. 3-8).  
4. Entschuldigung nach Art. 45 VVG? (Erw. 9).  
5. Rechtsmissbräuchliche Erhebung der Verwirkungseinrede? (Erw. 10).  
 
Sachverhalt
 
BGE 84 II, 556 (557)A.- Die Colcao A.-G. in Zürich schloss am 3. September 1949 mit der Versicherungsgesellschaft "Schweiz" einen Versicherungsvertrag für die Versicherung von Gütertransporten zu Lande, auf Binnengewässern, zur See und in der Luft ab. Dieser Vertrag ist in der Generalpolice Nr. 4486 festgehalten, und es liegen ihm die vom Schweizerischen Verband der Transportversicherer aufgestellten "Allgemeinen Bedingungen für die Versicherung von Gütertransporten" (ABVT 1940) zu Grunde.
1
B.- Am 14./15. Mai 1954 meldete die Colcao, die inzwischen in Liquidation getreten war, unter Hinweis auf die Generalpolice einen Transport von 26'417 Ballen Tabak, die auf dem Seewege von Samsun und Istanbul nach Hamburg verbracht werden sollten, zur Versicherung an, und zwar zu einem Versicherungswert von USA-$ 1'100, 100, BGE 84 II, 556 (558)also etwa 5'000,000 Schweizerfranken. Sie erbat und erwirkte die Ausstellung von Versicherungszertifikaten "für wen es angehen mag" ("to whom it may concern"). Berechtigt war zunächst die Inventa K.G., Dr. C. Hruby & Co. Nachf., mit Sitz in München. Die Prämie von $ 6325.--, am andern Tag, weil irrtümlich berechnet, auf $ 9162.25 erhöht, wurde bezahlt. Dabei erhielt die Colcao auf Grund der Generalpolice einen Rabatt von 10%.
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C.- Anlässlich der Beladung des Frachtschiffes "Aegaeis" in Samsun kam es zwischen dem Kapitän und Vertretern der Inventa zu einer Auseinandersetzung über die Art der Ladung. Inhalt und Ergebnis dieser Aussprache sind umstritten und kommen in einem in Hamburg schwebenden Prozesse zwischen der Inventa und 1) der Atlas-Levante-Linie Aktiengesellschaft und 2) der Levante Schiffahrts-G.m.b.H. zur Erörterung.
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D.- Nach einer Fahrt von etwa 25 Tagen lief die "Aegaeis" am 10. Juni 1954 in Hamburg ein. Beim Entladen des Schiffes wies der Tabak beträchtlichen Schaden auf. Das wurde sowohl dem Havarie-Kommissar der "Schweiz" in Hamburg, Paul Sieveking, wie auch der "Schweiz" selbst gemeldet. Die mit dem Empfang der Ware für die Inventa betraute Speditionsfirma Schenker & Co. G.m.b.H., Hamburg, ersuchte den Havarie-Kommissar am Tag nach Ankunft der Ware, seinen Havarieexperten zur gemeinsamen Schadensfeststellung zum Lager zu entsenden. Der von Sieveking in diesem Sinn beauftragte Experte Nehrenheim nahm einen Augenschein vor und meldete am 24. Juni 1954, es seien 7723 beschädigte Ballen ausgeschieden worden. Zu genauer Schadensfeststellung kam es damals nicht, und auch an einem Augenschein vom 7. Juli 1954, an dem neben Nehrenheim und einem Vertreter der "Schweiz" auch Vertreter der Firma Schenker & Co. und der Vertrauensexperte der Inventa, Rathmann, teilnahmen, wurden keine dahingehenden Massnahmen beschlossen. Die "Schweiz" hatte bereits in einem Briefe vom 29. Juni 1954 an die Colcao mit eingehender BGE 84 II, 556 (559)Begründung den Standpunkt eingenommen, es liege kein durch die Versicherung gedeckter Schadensfall vor, und ihre "Haftpflicht" abgelehnt. Dagegen hatte die Inventa, wie sich aus einem Brief der Firma Schenker & Co. an den Havarie-Kommissar Sieveking vom 26. Juni 1954 ergibt, keine "Kautionspflicht" anerkennen wollen und erklärt, der Schaden könne nur auf der Reise entstanden sein, daher habe die Versicherungsgesellschaft das Nötige vorzukehren und sei für jede Verzögerung und Schadensvergrösserung verantwortlich. Sie wich von dieser Stellungnahme nicht ab, obwohl die Firma Schenker & Co. ihr am 2. Juli 1954 zu bedenken gab, "welche Gefahr für sie darin liegt, wenn die Expertise und Schadensfeststellung weiter hinausgezögert wird", mit dem Beifügen: "Sie wissen, dass wir in der Sache nichts unternehmen können, solange uns die hiefür notwendigen Beträge nicht zur Verfügung gestellt sind, so dass letztlich die Verantwortung ausschliesslich bei Ihnen selbst liegt". Die Firma Schenker & Co. hatte die Kosten der Schadensexpertise auf ca. DM 200'000 geschätzt. Am 24. Juni 1954 teilte ihr mit Bezugnahme hierauf die für die Colcao bezw. die Inventa handelnde Bank Landau & Kimche, Zürich, mit, sie sei "vorläufig" nicht bereit, diese Kosten zu tragen. Die Inventa begnügte sich damit, einen Befund ihres Vertrauensexperten Rathmann einzuholen. Dieses vom 27. Juli 1954 datierte Schriftstück hebt hervor, dass Rathmann auf Grund seiner Besichtigung nicht in der Lage sei, den Schaden der Gesamtpartie zu beurteilen. Eine einwandfreie Schadenermittlung sei nur möglich, wenn jeder Ballen geöffnet und sorgfältig geprüft werde; diese Feststellung der Schadenshöhe hätte "unbedingt nach der Abkühlung der Tabake, also spätestens nach einer Zeitspanne von 3-4 Wochen durchgeführt werden müssen". Wenn nach dieser Zeit die Tabakballen nicht geöffnet werden und der verpresste Tabak nicht herausgenommen werde, so vergrössere sich der Schaden, "da durch die Verpressung der Tabak in den Ballen nicht atmen kann und im Laufe der Zeit vollkommen muffig wird".
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BGE 84 II, 556 (560)E.- Am 21. August 1954 liess die Inventa Rathmann durch die Handelskammer Hamburg mit der Feststellung von Art und Umfang des Schadens beauftragen. Der "Schweiz" stellte sie alsdann die Teilnahme an diesen Ermittlungen frei. Die "Schweiz" entsandte Nehrenheim als "Beobachter", bemerkte aber zugleich in ihrem Briefe vom 26. August 1954 an die Bank Landau & Kimche, "dass durch das Vorgehen Ihrer Kunden die im Versicherungsvertrag vorgesehenen Obliegenheiten nicht erfüllt werden, weshalb ein Versicherungsanspruch nicht entstehen kann". Und einige Tage später widerrief sie den Auftrag an Nehrenheim und verneinte gegenüber einem Schreiben der erwähnten Bank die Voraussetzungen zu einem Schiedsgutachterverfahren im Sinne von Art. 37 ff. ABVT.
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Rathmann erstattete sein Gutachten am 12. Januar 1955.
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F.- Nach Abtretung der Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag durch die Colcao an die Inventa und durch diese an die Baffra AG in Zürich erhob diese am 17. März 1956 gegen die "Schweiz" Klage auf Zahlung von Fr. 1'669,148.95 nebst 5% Zinsen seit 10. August 1954. Die Beklagte bestritt die Aktivlegitimation der Klägerin, indem sie die deren Rechtserwerb zu Grunde liegenden Abtretungen bemängelte. Im übrigen bestritt sie nach wie vor das Vorliegen eines durch die Versicherung gedeckten Schadensfalles. Endlich erhob sie gestützt auf Art. 42 lit. b ABVT die Einrede der Verwirkung wegen Nichterfüllung der sich aus Art. 32 und 34 ABVT für den Versicherungsnehmer bzw. den Anspruchsberechtigten ergebenden Obliegenheiten.
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G.- Mit Urteil vom 27. Januar 1958 hat das Handelsgericht des Kantons Zürich die Verwirkungseinrede der Beklagten geschützt und die Klage daher abgewiesen. Die Begründung geht dahin, die Schadensanzeige sei zwar dem Art. 32 ABVT entsprechend erfolgt, dagegen habe die Versicherungsnehmerin bzw. die Anspruchsberechtigte es BGE 84 II, 556 (561)unterlassen, gemäss Art. 34 ABVT zu tun, was ihr zur Herbeiführung einer unverzüglichen Schadensfeststellung obgelegen hätte, und dadurch die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag nach Art. 42 lit. b ABVT verwirkt.
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H.- Mit vorliegender Berufung erneuert die Klägerin das in der Klage gestellte Begehren. Die Beklagte trägt auf Abweisung der Berufung und auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
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Diese Ansicht geht fehl. Es kann dahingestellt bleiben, ob jene Streichung, was die Beklagte behauptet hat, jedoch nicht abgeklärt worden ist, auf Irrtum beruhe, oder ob sie dem Willen entsprang, diesen von der Colcao nicht für sich selbst, sondern "to whom it may concern", zunächst für die Inventa, abgeschlossenen speziellen Versicherungsvertrag von der Generalpolice der Versicherungsnehmerin unabhängig zu gestalten, zumal er ohnehin deren Rahmen hinsichtlich der Höhe der Versicherungssumme überschritt. Selbst wenn man letzteres annimmt und im übrigen davon ausgeht, für den nicht mit der Colcao identischen Anspruchsberechtigten BGE 84 II, 556 (562)sei die Streichung des Hinweises auf eine Generalpolice in dem über die Versicherung dieses Tabaktransportes ausgestellten Zertifikat auf alle Fälle gültig, erweisen sich die von der Beklagten angerufenen Allgemeinen Bedingungen als anwendbar. Auf der Vorderseite des Zertifikates wird nämlich, wenn auch nicht auf eine Generalpolice, so doch auf die rückseits angeführten Bedingungen verwiesen: "(extract of conditions see overleaf)". Und dieser die ganze Rückseite ausfüllende Text ist überschrieben als Auszug aus den für schweizerische Gütertransportpolicen geltenden Allgemeinen Bedingungen: "Extract of the printed conditions (General Conditions of the Swiss Policy for the Insurance of Goods in Transit G.C.I.T. 1940)". Damit waren die "ABVT 1940" eindeutig als anwendbar erklärt, und nur der nachfolgende Teil jener Überschrift, der sich mit den besondern Bedingungen der (allfälligen) Generalpolice befasst ("and particular conditions of the Open Cover mentioned on the reverse of this insurance certificate") mochte nach dem oben Gesagten hier ausser Betracht fallen.
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Gegen die Anwendbarkeit der "ABVT 1940" in ihrer Gesamtheit spricht nicht der Umstand, dass das Versicherungszertifikat nur einen Auszug daraus enthält. Dieser ist ja ausdrücklich als solcher bezeichnet. Der Versicherungsnehmer und jeder weitere Anspruchsberechtigte hatte daher Veranlassung, sich nach dem vollen Texte der "ABVT 1940" umzutun, sobald ein Schadensfall eingetreten war.
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Die Übergabe eines blossen Auszuges der allgemeinen Versicherungsbedingungen entsprach allerdings nicht der Vorschrift von Art. 3 VVG. Allein diese Vorschrift ist nicht zwingenden Charakters (siehe die Art. 97 und 98 VVG) und denn auch in Art. 52 ABVT wegbedungen. Im übrigen gilt Art. 3 VVG nicht, wenn der Antrag auf Grund eines bereits laufenden Vertrages, also auf Grund bereits übergebener Bedingungen gestellt wird (ROELLI, N. 1 am Ende zu Art. 3 VVG). Das traf hier zu. Versicherungsnehmerin BGE 84 II, 556 (563)war die Colcao, die sich bei ihrer "Vericherungsanmeldung" für den grossen Tabaktransport ausdrücklich auf ihre Generalpolice berief. Der Umstand, dass die vorliegende Versicherung in verschiedener Hinsicht aus dem Rahmen der Generalpolice fiel, ändert nichts daran, dass die auch im erwähnten Versicherungszertifikat als anwendbar erklärten ABVT der Colcao bereits übergeben worden waren. Endlich besteht die Folge der Missachtung des Gebotes der Übergabe der allgemeinen Versicherungsbedingungen (ohne Kürzung oder Auslassung) nach Art. 3 Abs. 2 VVG darin, dass der Antragsteller an den Antrag nicht gebunden ist. Diese Folgerung ist aber sowenig wie von der Colcao, welche die Prämie bezahlt und die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag abgetreten hat, noch von der Inventa oder der Klägerin gezogen worden, die vielmehr den Versicherungsvertrag als Grundlage ihrer gegen die Beklagte erhobenen Ansprüche geltend macht. Das kann sie nur gemäss den auch im Vericherungszertifikat als Vertragsbestandteil erklärten ABVT 1940 tun.
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Was die Schadensfeststellung betrifft, so fallen folgende Bestimmungen der ABVT in Betracht:
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a) im Abschnitt "Schäden" (Art. 32-36):
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Art. 34
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1 Werden Güter ausserhalb der Schweiz beschädigt ausgeladen, so ist unverzüglich der Havarie-Kommissar des Versicherers herbeizurufen, damit dieser die Art, den Umfang und die Ursache des Schadens feststellen und die ihm geeignet erscheinenden Massnahmen zur Erhaltung der Güter anordnen kann.
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2 Der Havarie-Kommissar ist nicht der Vertreter des Versicherers. Seine Intervention bewirkt keineswegs die Anerkennung oder Begründung eines Gerichtsstandes an seinem Wohnsitz.
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.....
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5 Die Spesen und das Honorar des Havarie-Kommissars sind vom Versicherungsnehmer zu zahlen. Der Versicherer wird sie ihm zurückerstatten, wenn und soweit der Schaden durch die Versicherung gedeckt ist.
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BGE 84 II, 556 (564)b) im Abschnitt "Schadenermittlung" (Art. 37-42):
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Art. 37
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1 Wenn der Versicherer oder der Havarie-Kommissar sich mit dem Empfänger über Ursache, Art und Umfang des Verlustes oder der Beschädigung nicht einigen können, so wird zur Feststellung des Schadens ein Sachverständiger ernannt. Falls die Parteien sich nicht über die Person einigen können, oder falls die Umstände die Mitwirkung mehrerer Sachverständiger verlangen, so hat jede Partei einen davon zu bezeichnen; wenn die beiden Sachverständigen sich nicht einigen können, so haben sie einen sachverständigen Obmann zu wählen, oder ihn durch die zuständige Behörde bezeichnen zu lassen.
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2 Kann ein Dritter für den Schaden haftbar gemacht werden, so muss die Schadensfeststellung auf gerichtlichem Wege erfolgen, sofern das Gesetz oder der Ortsgebrauch es verlangen.
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Art. 38
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1 Der oder die Sachverständigen untersuchen die Güter gemeinsam, nachdem sie die Interessenten (Versicherer, Havarie-Kommissar, Empfänger, Frachtführer usw.) zur Besichtigung eingeladen haben; sie verfassen und unterzeichnen den Expertisenbericht, ..........
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Art. 42
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Der Versicherer ist von jeder Ersatzpflicht befreit:
29
a) ..........
30
b) wenn die Feststellung des Verlustes oder der Beschädigung nicht in der vorgeschriebenen Weise erfolgte;
31
c) ..........
32
In diesen Bestimmungen liegt eine selbständige, aus sich selbst heraus auszulegende Ordnung, wie denn Art. 67 VVG mit Ausnahme des auch für die Transportversicherung zwingenden Abs. 4 in Art. 52 ABVT ausdrücklich wegbedungen ist.
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34
Diese Bestimmung schreibt vor, der Havarie-Kommissar des Versicherers sei unverzüglich herbeizurufen, um Art, Umfang und Ursache des Schadens feststellen und die ihm geeignet erscheinenden Massnahmen zur Erhaltung der Güter anordnen zu können. Die Inventa bzw. die von ihr beauftragte Speditionsfirma Schenker & Co. hat den Havarie-Kommissar Sieveking demgemäss sogleich mit diesem Schadensfalle befasst. Zur Feststellung des Schadens nach Art, Umfang und Ursache bedurfte es aber bei der vorliegenden grossen Tabaksendung genauer und kostspieliger Untersuchungen, worüber die Inventa bereits in der zweiten Hälfte Juni 1954 von der in solchen Angelegenheiten erfahrenen Speditionsfirma unterrichtet wurde. Nun stand es der Inventa nach der in Frage stehenden Vertragsbestimmung nicht zu, mit diesen Feststellungen über den Kopf des Havarie-Kommissars hinweg einen Sachverständigen ihrer Wahl zu betrauen. Vielmehr hatte sie die Schadensfeststellung dem Havarie-Kommissar als dem nach den Vertragsbestimmungen "herbeizurufenden" Vertrauensmann des Versicherers zu überlassen. Dieser braucht sich die eigenmächtige Beauftragung eines Sachverständigen durch den Versicherungsnehmer oder den Anspruchsberechtigten nicht gefallen zu lassen und eine auf solchem Wege zustande kommende Schadensfeststellung nicht als "in der vorgeschriebenen Weise erfolgt" anzunehmen, sondern kann sich gegenüber einem derartigen Vorgehen auf die Verwirkungsklausel berufen (vgl. D. BERTHOUD, L'assurance des marchandises contre les risques de transport, p. 179 unten; ferner zur Stellung des Havarie-Kommissars: RITTER, Das Recht der Seeversicherung, Kommentar zu den Allgemeinen deutschen Seeversicherungsbedingungen, 2, Anm. 61 zu § 74; MANES, Versicherungslexikon, 3. Auflage, s.v. Havariekommissar).
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4. Um die in Art. 34 Abs. 1 ABVT vorgesehenen Massnahmen in gehöriger Weise zu veranlassen, genügt es BGE 84 II, 556 (566)nicht, den Schadensfall dem Havarie-Kommissar zu melden, wie es hier seitens der Inventa geschehen ist. Erweisen sich kostspielige nähere Untersuchungen unter Mitwirkung eines Sachverständigen als notwendig, so ist der Versicherungsnehmer bzw. der Anspruchsberechtigte überdies gehalten, dem Havarie-Kommissar nach Abs. 5 daselbst die dafür aufzuwendenden Mittel zur Verfügung zu stellen. Dass dies vorschussweise zu geschehen hat, versteht sich von selbst. Ist doch dem Havarie-Kommissar nicht zuzumuten, seine Tätigkeit, zumal wenn sie ihn während mehrerer Wochen in Anspruch nimmt, auf Kredit auszuüben, geschweige denn beträchtliche laufende Aufwendungen für das beizuziehende Personal und dergleichen aus eigenen Mitteln zu erlegen.
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5. In der Regel wickelt sich die Schadensfeststellung durch den Havarie-Kommissar in der Weise ab, dass er nach Vornahme der ersten Feststellungen und sichernden Anordnungen dem Versicherungsnehmer bzw. Anspruchsberechtigten den für die genaue Schadensermittlung erforderlichen Kostenbetrag angibt und mit ihm allenfalls eine ratenweise Bezahlung vereinbart. Im vorliegenden Fall ist ein solches Vorgehen des Havarie-Kommissars nicht dargetan. Die Inventa wusste jedoch, dass dieser und die Beklagte (die einen durch die Versicherung gedeckten Schadensfall überhaupt verneinte) von sich aus nichts zur nähern Schadensermittlung vorkehrten. Die von ihr beauftragte Speditionsfirma Schenker & Co. machte sie eindringlich darauf aufmerksam, dass es an ihr lag, durch Bevorschussung der (auf etwa DM 200'000.-- veranschlagten) Kosten die rasche Schadensermittlung zu veranlassen. Unter diesen Umständen war es offensichtlich Aufgabe der Inventa, die Voraussetzungen des ihr obliegenden Schadensnachweises durch ordnungsmässige, dem Art. 34 ABVT entsprechende Art der Feststellung von Art, Umfang und Ursache des Schadens zu schaffen. Sie hätte den Havarie-Kommissar ersuchen dürfen (und, um ihre Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zu wahren, auch BGE 84 II, 556 (567)sollen), trotz der grundsätzlichen Ablehnung einer Ersatzpflicht durch die Beklagte die Schadensfeststellung vorzunehmen, und zwar vorerst auf Kosten der Versicherungsnehmerin bzw. Anspruchsberechtigten.
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6. Was die Inventa statt dessen vorkehrte, lief auf eine Umgehung des in Art. 34 ABVT vorgeschriebenen Feststellungsverfahrens und auf eine Missachtung der danach dem Havarie-Kommissar des Versicherers eingeräumten Stellung hinaus. Gewiss hätte Sieveking die genaueren Feststellungen nicht selber vornehmen können, sondern einen besondern Sachverständigen beiziehen müssen, wie denn die ersten von ihm angeordneten Ermittlungen durch den von ihm beigezogenen Hans Nehrenheim erfolgten. Die Bezeichnung des Sachverständigen stand aber nach Art. 34 ABVT eben dem Havarie-Kommissar zu. Die Versicherungsnehmerin bzw. Anspruchsberechtigte mochte sich mit ihm in Verbindung setzen, um sich wenn möglich mit ihm über die Person des Sachverständigen zu einigen. Auf keinen Fall erfüllte sie ihre Obliegenheiten nach der erwähnten Bestimmung, indem sie einfach einen Sachverständigen ihrer Wahl mit Feststellungen betraute. Somit kann sie sich, um der Verwirkung ihrer Ansprüche nach Art. 42 lit. b ABVT zu entgehen, nicht auf das von ihr eingeholte Gutachten Rathmanns vom 27. Juli 1954 berufen, das übrigens auf die Notwendigkeit weiterer Feststellungen hinwies. Aber auch die von ihr ohne Mitwirkung des Havarie-Kommissars verlangte Beauftragung Rathmanns mit nähern Feststellungen durch die Hamburger Handelskammer stand mit Art. 34 ABVT nicht im Einklang.
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7. Eine Frage für sich ist, ob die Inventa die Einleitung eines eigentlichen Sachverständigenverfahrens nach Art. 37 ABT zur grundsätzlich rechtverbindlichen Abschätzung des Schadens (entsprechend Art. 67 Abs. 2 VVG; vgl. dazu OSTERTAG-HIESTAND, N. 6) hätte verlangen können, wenn Verhandlungen mit dem Havarie-Kommissar über die gemeinsame Beauftragung eines Sachverständigen BGE 84 II, 556 (568)im Rahmen von Art. 34 ABVT gescheitert wären. Das kann jedoch offen bleiben, nachdem die Inventa derartige Verhandlungen gar nicht angebahnt hat. Übrigens hätte auch das Verfahren nach Art. 37 ABVT mit dem Versuch einer Einigung über die Person des Sachverständigen beginnen müssen, was die Inventa völlig unbeachtet liess. Zu einem solchen Verfahren ist es auch nicht etwa infolge nachträglicher Einigung der Parteien gekommen. Vielmehr widersprach die Beklagte einer dahingehenden Anregung der für die Inventa handelnden Bank sogleich.
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8. Zu Unrecht nimmt die Klägerin an der Höhe der von der Firma Schenker & Co. geschätzten Kosten der Schadensermittlung Anstoss und wendet ein, eine Vorschussleistung in solchem Betrage sei einem Versicherten schlechterdings nicht zuzumuten. Gegenstand des nach Art. 34 Abs. 5 ABVT zu leistenden Vorschusses ist der mutmasslich zur Feststellung von Art, Umfang und Ursache des Schadens notwendige Aufwand. Hielt die Inventa den ihr von jener Speditionsfirma genannten Betrag von ca DM 200'000.-- für übersetzt, so stand ihr frei, darüber mit dem Havarie-Kommissar zu verhandeln. Sie trat aber darüber gar nicht in Diskussion, sondern lehnte die Vorschussleistung aus unhaltbaren Gründen kurzweg ab. Weit übersetzt war übrigens der erwähnte Kostenbetrag nicht. Beziffert doch die Klägerin die Kosten der von der Inventa einseitig veranlassten Schadensfeststellung in der Klage auf $ 40'386.97 (= Fr. 168'817.53); die hauptsächlichen Teilbeträge davon sind $ 4784.70 = DM 20'000.-- für die Expertise und $ 34'689.-- = DM 145'000.-- für Arbeitslöhne von Schenker & Co. Das Handelsgericht bemerkt zutreffend, wer Handelsgeschäfte über Waren im Werte von mehreren Millionen Franken abschliesse, habe auch dafür zu sorgen, dass er die mit der Ausführung dieser Geschäfte verbundenen Aufwendungen zu erbringen vermöge.
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9. Der Eventualstandpunkt der Klägerin, eine ihren Rechtsvorgängern vorzuhaltende Versäumung von Obliegenheiten BGE 84 II, 556 (569)aus dem Versicherungsvertrag hinsichtlich der Schadensermittlung wäre gemäss (dem in den ABVT nicht wegbedungenen) Art. 45 VVG zu entschuldigen, erweist sich ebenfalls nicht als haltbar. Das Handelsgericht geht zwar zu weit, wenn es als Entschuldigungsgrund nur ein eigentliches Hindernis gelten lassen will. Art. 45 Abs. 1 VVG berücksichtigt allgemein die "unverschuldete" Verletzung einer Obliegenheit. Hiebei fallen als Entschuldigungsgründe ausser objektiven Hindernissen auch andere je nach den Umständen füglich vom Versicherten nicht zu verantwortende Tatsachen in Betracht, wie etwa Krankheit, Unmöglichkeit der Beibringung von Belegen, Verhalten des Versicherers, seines Agenten oder amtlicher Stellen (vgl. ROELLI, N. 5 d und 9, und OSTERTAG-HIESTAND, N. 10 zu Art. 45 VVG). An den Tatbestand einer Fristversäumung zufolge eines Hindernisses knüpft die spezielle Bestimmung von Art. 45 Abs. 3 VVG an. Doch können auch Fristversäumungen aus andern Gründen entschuldigt werden (vgl.BGE 74 II 100Erw. 4, a). Die Klägerin vermag sich nun aber auf keine triftigen Gründe zu berufen. Dass die Inventa nach Eintritt des Schadensfalles sich die im Versicherungszertifikat vermerkten "ABVT 1940" offenbar nicht beschaffte, sie jedenfalls nicht zu Rate zog und über deren Bestimmungen, namentlich Art. 34, hinwegschritt, lässt sich nicht entschuldigen, wie denn grundsätzlich die Unkenntnis der Versicherungsbedingungen als unentschuldbar zu gelten hat (vgl. ROELLI, a.a.O. S. 538). Insbesondere kann Art. 34 Abs. 5 ABVT vernünftigerweise nur im Sinn einer Vorschusspflicht verstanden werden, zumal hinsichtlich der zur Schadensfeststellung in einem Fall wie dem vorliegenden notwendigen Beiziehung von Arbeitskräften, die fortlaufend, nicht erst nach Abschluss der Arbeiten, entlöhnt werden müssen. Angesichts der eindringlichen Warnungen der Firma Schenker & Co. konnte die Inventa hierüber, wenn sie die "ABVT 1940" aufmerksam las, nicht ernstlich im Zweifel sein.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 27. Januar 1958 bestätigt.
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