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29. Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Juni 1956 i.S. Gerber gegen Kanton Bern, Direktion des Fürsorgewesens. | |
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Regeste |
| Unterstützungspflicht der Geschwister (Art. 329 Abs. 2 ZGB). | |
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Sachverhalt | |
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Der Regierungsstatthalter ging in seinem Entscheid vom 18. Januar 1956 davon aus, Geschwister seien gemäss Art. 329 ZGB nur unterstützungspflichtig, wenn sie sich in günstigen Verhältnissen befinden. Günstige Verhältnisse (d.h. Wohlstand, Wohlhabenheit) seien anzunehmen, wenn das nach Abzug der gebundenen Auslagen (Wohnungsmiete, Versicherungsbeiträge, Steuern, Arztkosten | 2 |
Einnahmen: Erwerbseinkommen Fr. 968.55
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Zwangsauslagen: Miete Fr. 180.--
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Tramspesen " 18.-
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Versicherungen " 20.90
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Krankenkasse " 7.70
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Steuern " 111.80 " 338.40
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Nettoeinkommen Fr. 630.15
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Existenzminimum " 270.--
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Überschuss Fr. 360.15
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Aus dieser Aufstellung schloss der Regierungsstatthalter, der Beklagte befinde sich in günstigen Verhältnissen. Wenn man zum betreibungsrechtlichen Existenzminimum einen Zuschlag von 80% oder Fr. 216.-- mache, was angemessen sei, ergebe sich ein Überschussrest von Fr. 144.15, der "grundsätzlich zur Festlegung des Verwandtenbeitrags verfügbar" sei. Ohne Berücksichtigung des Vermögens und des Vermögensertrags lasse sich erkennen, dass dem Beklagten die Entrichtung des von der Fürsorgedirektion verlangten Unterstützungsbeitrags zugunsten seines Bruders zugemutet werden könne und dass die Erfüllung dieser Verpflichtung für den Beklagten keine einschneidende Beeinträchtigung der ihm zuzugestehenden gehobenen Lebenshaltung zur Folge habe. Auf Grund dieser Erwägungen verurteilte der Regierungsstatthalter den Beklagten zur Bezahlung eines monatlichen Beitrags von Fr. 30.- ab 1. Juli 1955.
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B.- Der Regierungsrat des Kantons Bern, an den der Beklagte rekurrierte, hat diesen Entscheid am 20. März 1956 bestätigt mit der Begründung, die vom Regierungsstatthalter angewandte Berechnungsmethode entspreche der Praxis des Regierungsrates und den Empfehlungen | 13 |
C.- Gegen den regierungsrätlichen Entscheid hat der Beklagte die Berufung an das Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, das Begehren der Fürsorgedirektion sei abzuweisen. Er bestreitet die Notlage seines Bruders nicht, macht jedoch geltend, dass er sich nicht in günstigen Verhältnissen befinde. Die Klägerin schliesst auf Bestätigung des angefochtenen Entscheides.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung: | |
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2. Geschwister können nach Art. 329 Abs. 2 ZGB nur dann zur Unterstützung herangezogen werden, wenn sie sich in günstigen Verhältnissen befinden (lorsqu'ils vivent dans l'aisance, quando si trovino in condizioni agiate). Aus dem französischen und italienischen Text, der deutlicher ist als der deutsche, hat das Bundesgericht abgeleitet, um im Sinne dieser Bestimmung als günstig gelten zu können, müsse die Lage der Geschwister so beschaffen sein, dass sie die Bezeichnung Wohlstand, Wohlhabenheit verdiene (Urteil vom 26. Juni 1947 i.S. Einwohnergemeinde Bern gegen Leuenberger, auszugsweise veröffentlicht in BGE 73 II 142). Die Unterstützungspflicht der Geschwister hängt nach dieser Rechtsprechung dem Grundsatz und dem Mass nach davon ab, ob und wieweit sie ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebenshaltung | 16 |
3. Im Urteil i.S. Bern gegen Leuenberger (Erw. 4) wurde gesagt, ein Anhaltspunkt dafür, wieweit Aufwendungen für Annehmlichkeiten des Lebens möglich seien, lasse sich bei Personen, die zur Hauptsache auf ihren Erwerb angewiesen seien, in der Weise gewinnen, dass man das um die Miete, die obligatorischen und üblichen Versicherungsbeiträge und die andern gebundenen Auslagen verminderte Einkommen ("Nettoeinkommen") mit dem betreibungsrechtlichen Notbedarf (ohne Wohnungsauslagen) vergleiche. Damit begründete aber das Bundesgericht keineswegs die heute von den bernischen Behörden befolgte Praxis, wonach die günstigen Verhältnisse beginnen, wenn jenes Nettoeinkommen den um einen bestimmten Prozentsatz (50-100%) erhöhten betreibungsrechtlichen Notbedarf übersteigt. Es wertete im Falle Bern gegen Leuenberger die Berechnung des Nettoeinkommens und des Notbedarfs nur in der Weise aus, dass es feststellte, | 17 |
4. Im vorliegenden Falle stützen sich die kantonalen Instanzen bei der Berechnung des Existenzminimums offenbar auf das Kreisschreiben der Aufsichtsbehörde in Betreibungs- und Konkurssachen für den Kanton Bern vom 23. September 1952 (ZBJV 1953 S. 166 ff.). Darnach beträgt der Notbedarf (ohne Wohnungsauslagen) für ein Ehepaar ohne Kinder in städtischen Verhältnissen in der Tat Fr. 270.--. Dabei handelt es sich jedoch nur um den | 18 |
Dem Beklagten bleibt also über das nach der Auffassung der bernischen Betreibungsbehörden unbedingt Notwendige hinaus, wenn man im übrigen der Berechnung der kantonalen Instanzen folgt, ein Betrag von rund Fr. 330.-- pro Monat oder Fr. 5.50 pro Tag und Person. Mit Hilfe dieses Überschusses kann er zweifellos besser leben, als dies vielen andern Leuten möglich ist. Von Wohlstand, Wohlhabenheit im landläufigen Sinne dieser Ausdrücke kann aber deswegen noch nicht die Rede sein. Nach der Lebenserfahrung ist ein solcher Betrag bei den heutigen Preisverhältnissen rasch aufgezehrt, wenn man für Ernährung, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Heizung und Beleuchtung, Gesundheitspflege, Reinigung und andere unentbehrliche Dinge nur wenig mehr als unbedingt nötig aufwendet, hie und da eine kleine Auslage für Bildungs- oder Vergnügungszwecke macht und sich Annehmlichkeiten wie Telephon und Radio leistet, die heute keineswegs mehr das Privileg des Wohlhabenden sind. Die Lebenshaltung, | 19 |
Sein Vermögensbesitz kann an dieser Beurteilung nichts ändern. Sein Sparguthaben ist unbedeutend. Dass er Lebensversicherungen mit einem gegenwärtigen Rückkaufswert von Fr. 9000.-- abgeschlossen hat, geht nicht über die gebotene Vorsorge für die Zukunft hinaus, auch wenn man berücksichtigt, dass er als Beamter pensionsberechtigt ist (vgl. Erw. 6 des Urteils i.S. Bern gegen Leuenberger). Diese Versicherungen zu belehnen, um seinen Bruder zu unterstützen, ist ihm also nicht zuzumuten. Der ihm zukommende Ertrag des Frauengutes von Fr. 3000.-- ist geringfügig. Seine Unterstützungspflicht muss also verneint werden.
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5. Im bereits angeführten Urteil vom 13. November 1952 i.S. Sinniger (der als Inhaber eines Textilwarengeschäftes in Nieder-Erlinsbach gemäss Buchhaltung und Steuereinschätzung ein Nettoeinkommen von rund Fr. 10'000.-- erzielte) hat das Bundesgericht allerdings erklärt, wenn die Vorinstanz in Ansehung aller Umstände (insbesondere | 21 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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