VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 95 I 202  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 132 Abs. 1 StrV wird die noch nicht verfallene Siche ...
2. Im vorliegenden Fall kann somit die Kaution nur unter der Vora ...
3. Der Beschwerdeführer macht mit Recht nicht geltend, dass  ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
30. Urteil vom 9. Juli 1969 i.S. X. gegen Untersuchungsrichter von Bern und Anklagekammer des Kantons Bern.
 
 
Regeste
 
Sicherheitsleistung wegen Flucht- und Kollusionsgefahr.  
 
Sachverhalt
 
BGE 95 I, 202 (202)A.- X. wurde am 3. Juni 1967 in Bern unter dem dringenden Verdacht, sich der Veruntreuung und der Urkundenfälschung schuldig gemacht zu haben, festgenommen und in Untersuchungshaft gesetzt. Am 12. September 1967 entliess ihn der Untersuchungsrichter gegen Leistung einer Sicherheit von BGE 95 I, 202 (203)Fr. 100'000.-- aus der Haft, da weiterhin Flucht- und Kollusionsgefahr bestehe, der Angeschuldigte aber nicht mehr hafterstehungsfähig sei und in ein Spital eingeliefert werden müsse. Die Sicherheit wurde durch Hinterlegung von Wertpapieren geleistet. Als im August 1968 einige dieser Papiere zur Rückzahlung fällig wurden, ersuchte der Angeschuldigte um deren Herausgabe. Der Untersuchungsrichter erklärte sich dazu bereit, wenn dafür andere Titel vom gleichen Wert hinterlegt würden.
1
X. beschwerte sich daraufhin bei der Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern und verlangte, dass die von ihm geleistete Kaution freigegeben werde. Er machte insbesondere geltend, sein Gesundheitszustand habe sich seit der Haftentlassung dauernd verschlechtert; es bestehe daher keine Fluchtgefahr, folglich auch kein Grund mehr zur Verhaftung, ganz abgesehen davon, dass er nicht hafterstehungsfähig wäre. Unter diesen Umständen sei es nicht gerechtfertigt, an der Kaution festzuhalten.
2
B.- Die Anklagekammer des Obergerichts entschied am 9. Dezember 1968, dass der Untersuchungsrichter die Freigabe der Sicherheit zu Recht abgelehnt habe. Sie führt aus, mit dem Hinweis auf die angeblich weggefallene Fluchtgefahr und die fehlende Hafterstehungsfähigkeit könne der Angeschuldigte die Kaution nicht zurückverlangen; denn hafterstehungsunfähig sei er schon zur Zeit der Freilassung gewesen, und die Fluchtgefahr dürfe sich seither wohl vermindert haben, könne aber nicht völlig ausgeschlossen werden. Zudem liege keine der Voraussetzungen vor, unter denen die Sicherheit gemäss Art. 132 des Gesetzes über das Strafverfahren (StrV) frei werde.
3
C.- Der Angeschuldigte führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den Entscheid der Anklagekammer wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben.
4
Die Anklagekammer beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
5
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
6
Diese Auffassung widerspricht indes, wie der Beschwerdeführer mit Recht einwendet, dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung. Die vorläufige Freilassung gegen Sicherheitsleistung setzt nach Art. 129 Abs. 1 StrV voraus, dass noch ein Verhaftungsgrund vorliegt. Schon daraus erhellt, dass die Sicherheitsleistung unter der gleichen allgemeinen Voraussetzung steht wie die Untersuchungshaft. Sie ist im Verhältnis zu dieser bloss Ersatzmassnahme, will jedoch wie die Untersuchungshaft insbesondere der Gefahr vorbeugen, dass der Angeschuldigte sich der Strafverfolgung durch Flucht entzieht. Die Sicherheitsleistung stellt zudem eine Vergünstigung für den Angeschuldigten dar, da ihm eine Verlängerung der Untersuchungshaft, wozu an sich Grund bestünde, erspart bleibt. Gleich wie der Untersuchungsgefangene aus der Haft zu entlassen ist, wenn der Haftgrund wegfällt, wird aber auch die Sicherheit frei, wenn dieser Grund nicht mehr besteht. Es wäre daher sinnwidrig, an einer Sicherheitsleistung festzuhalten, die dem Angeschuldigten dann, wenn er wegen Wegfalls des Haftgrundes freizulassen ist, nicht auferlegt werden könnte.
7
Dass Art. 132 Abs. 1 StrV den Fall, da die Sicherheit zufolge Wegfalls des Haftgrundes frei wird, nicht ausdrücklich regelt, hilft darüber nicht hinweg. Das ist zweifellos eine Lücke, die sich aber leicht dadurch erklärt, dass der Gesetzgeber das Freiwerden der Kaution diesfalls für selbstverständlich hielt und deshalb nicht besonders erwähnte. Das ist umsomehr anzunehmen, als es sich um einen allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz handelt, der insbesondere auch in Art. 57 BStP und § 121 der deutschen StPO enthalten ist. Die Auslegung von Art. 132 StrV durch die Vorinstanz verstösst offensichtlich gegen diesen Grundsatz und hält daher vor Art. 4 BV nicht stand.
8
2. Im vorliegenden Fall kann somit die Kaution nur unter der Voraussetzung, dass immer noch ein Haftgrund gegeben ist, aufrechterhalten werden. Die Vorinstanz nimmt offenbar mit Recht nicht an, dass weiterhin Kollusionsgefahr bestehe; nachdem der Angeschuldigte sich bereits seit Herbst 1967 in Freiheit befindet, wäre heute eine solche Gefahr jedenfalls BGE 95 I, 202 (205)schwerlich zu begründen. Dagegen bejaht die Anklagekammer den Haftgrund der Fluchtgefahr, von der sie annimmt, dass sie durch den schlechten Gesundheitszustand des Angeschuldigten wohl vermindert worden sei, aber nicht völlig ausgeschlossen werden könne. Wie der Beschwerdeführer unter Hinweis auf den Kommentar WAIBLINGER (N. 1 zu Art. 132 StrV) zutreffend ausführt, genügt nicht jede noch so entfernte Gefahr, um einen Angeschuldigten wegen Fluchtverdachts in Haft zu setzen; denn die Möglichkeit, dass ein nicht verhafteter Beschuldigter sich durch Flucht der Strafverfolgung entzieht, besteht an sich in jedem Strafverfahren. Es müssen vielmehr Gründe vorliegen, die eine Flucht nicht nur als objektiv möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Ob letzteres zutreffe oder nicht, hängt von den Umständen des einzelnen Falles ab. Die Strafbehörde hat sie nach pflichtgemässem Ermessen zu würdigen. Das Bundesgericht kann nur einschreiten, wenn die kantonale Behörde die Grenze zulässigen Ermessens offensichtlich überschritten hat und in Willkür verfallen ist (BGE 89 I 18 und dort angeführte Urteile).
9
Dass hier ein solcher Ermessensmissbrauch vorliege, lässt sich nicht sagen. Gewiss erscheint die Fluchtgefahr angesichts des Gesundheitszustandes des Beschwerdeführers nicht als dringlich. Sie lässt sich aber auch nicht als unbedeutend oder gar als nicht bestehend abtun. Der Beschwerdeführer lebt in günstigen finanziellen Verhältnissen; er versteuerte nach den Akten in den Jahren 1965 und 1966 Fr. 521'000.-- Vermögen und Fr. 52'500.-- Einkommen. Berücksichtigt man zudem die zahlreichen und schwerwiegenden Straftaten, die dem Beschwerdeführer vorgeworfen werden, so ist die Annahme vertretbar, die Flucht sei nicht bloss objektiv möglich, sondern bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich. Der angefochtene Entscheid ist daher im Ergebnis nicht zu beanstanden.
10
3. Der Beschwerdeführer macht mit Recht nicht geltend, dass der Entscheid der Anklagekammer schon deshalb, weil er weder eine neue Untersuchungshaft noch eine allfällige Freiheitsstrafe erstehen könnte, gegen Art. 4 BV verstosse. Die Sicherheit soll zwar für den Fall, dass der Angeschuldigte mit einer unbedingten Freiheitsstrafe zu rechnen hat, auch den Antritt der Strafe gewährleisten. Das ist aber nicht ihr einziger und erster Zweck, da sie vor allem die Anwesenheit des Beschuldigten während des Strafverfahrens sicherstellen will. Eine BGE 95 I, 202 (206)Kaution lässt sich daher selbst dann mit Fluchtgefahr begründen, wenn der Angeschuldigte die zu erwartende Freiheitsstrafe nicht zu erstehen vermöchte (vgl. Art. 129 Abs. 1 StrV; Komm. LÖWE/ROSENBERG, 21. Auflage, Anm. II 3 zu §§ 117 - 120 der deutschen StPO).
11
Demnach erkennt das Bundesgericht:
12
Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
13
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).