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Informationen zum Dokument  BGE 112 Ib 137  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Der Beschwerdeführer leitet aus den Art. 22 und 25 IRSG a ...
3. a) Von den angeführten gesetzlichen Bestimmungen sind f&u ...
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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. April 1986 i.S. X. gegen Bundesamt für Polizeiwesen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Strafübernahmebegehren nach Art. 88/89 IRSG, Form der Abtretung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 112 Ib, 137 (137)Das Verhöramt Nidwalden führte ab Oktober 1984 eine Strafuntersuchung wegen verschiedener Tatbestände aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität (Betrug, ungetreue Geschäftsführung, Veruntreuung usw.) gegen den deutschen Staatsangehörigen X., einen weiteren Deutschen und zwei Schweizer. X. befand sich vom 31. Oktober 1984 bis 17. Dezember 1984 in Untersuchungshaft und wurde dann gegen Leistung einer Fluchtkaution auf freien Fuss gesetzt. In der Folge wurde er fremdenpolizeilich zum Verlassen der Schweiz aufgefordert; er ist seither in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) wohnhaft. Die Fluchtkaution wurde freigegeben.
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Am 4. September 1985 stellte das Verhöramt Nidwalden beim Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) das Gesuch, es sei ein von ihm am 23. August 1985 verfasstes Begehren um Übernahme der Strafverfolgung gegen X. an die zuständige Behörde der BRD weiterzuleiten. Dem Gesuch fügte es sämtliche bisher ergangenen Untersuchungsakten bei. Das BAP richtete am 12. September 1985 antragsgemäss ein Strafübernahmebegehren an das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Mit Antwortschreiben BGE 112 Ib, 137 (138)vom 28. November 1985 liess diese Behörde dem BAP eine Stellungnahme des Leitenden Oberstaatsanwaltes in Düsseldorf vom 12. November 1985 zukommen. Darin wird der Übernahme der Strafverfolgung gegen X. durch die BRD zugestimmt und sodann erklärt, die Akten würden an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin weitergeleitet, wo bereits ein konnexes Verfahren gegen einen Mitangeschuldigten hängig sei.
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Am 9. Dezember 1985 wandte sich der schweizerische Anwalt von X. an das Verhöramt Nidwalden mit dem Ersuchen, es sei ihm Akteneinsicht zu gewähren und eine Verfügung über die Abtretung der Strafverfolgung mit Rechtsmittelbelehrung zuzustellen. Das Verhöramt antwortete am 12. Dezember 1985. Es stellte dem Anwalt die Akten betreffend Abtretung des Verfahrens in Kopie zu und bemerkte, das Übernahmebegehren an die BRD sei vom BAP gestellt worden. Am 17. Dezember 1985 richtete der nämliche Anwalt eine als "vorsorgliche Einsprache" bezeichnete Eingabe an das BAP mit den Anträgen, es sei abzuklären, welche eidgenössische oder kantonale Behörde "für den Erlass einer Verfügung gemäss Art. 21 ff. IRSG" zuständig sei; alsdann habe ihm diese Behörde Akteneinsicht zu gewähren und eine Verfügung zu erlassen. Gleichzeitig ersuchte er darum, es sei der Einsprache aufschiebende Wirkung zu gewähren.
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Am 15. Januar 1986 erliess das BAP eine Verfügung folgenden Wortlautes:
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"Es wird festgestellt, dass für die Abtretung des gegen Sie im
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Kanton Nidwalden geführten Strafverfahrens an die BRD von Bundesrechts
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wegen keine anfechtbare Verfügung zu erlassen war oder ist."
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Die Verfügung enthält ferner den Kostenspruch sowie eine Rechtsmittelbelehrung.
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Am 27. Januar 1986 liess X. Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben mit folgenden Anträgen:
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"1. Die Verfügung des Bundesamtes für Polizeiwesen vom 15.1.1986 sei
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aufzuheben, und
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1.1. das Bundesamt für Polizeiwesen habe festzustellen, wer für den
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Erlass einer erstinstanzlichen Verfügung betreffend Übertragung des gegen
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den Beschwerdeführer im Kanton Nidwalden geführten
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Untersuchungsverfahrens an die deutschen Behörden zuständig ist;
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1.2. eventuell sei vom Bundesgericht festzustellen, wer für den
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Erlass einer erstinstanzlichen Verfügung betreffend Übertragung des gegen
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den Beschwerdeführer im Kanton Nidwalden geführten
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Untersuchungsverfahrens an die deutschen Behörden zuständig ist.
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BGE 112 Ib, 137 (139)2. Es sei festzustellen, dass die für den Erlass der
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erstinstanzlichen Verfügung betreffend Übertragung des
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Untersuchungsverfahrens an die deutschen Behörden zuständige Instanz dem
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Beschwerdeführer und seinem Verteidiger Akteneinsicht zu gewähren und
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anschliessend die beantragte Verfügung samt Rechtsmittelbelehrung nach
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Art. 22 IRSG zu erlassen habe.
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3. (Gesuch um aufschiebende Wirkung.)
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4. Eventuell sei das vorliegende Verwaltungsgerichtsverfahren zu
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sistieren, bis eine Antwort des Verhöramtes Nidwalden auf das Schreiben
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des Beschwerdeführers vom 20.1.1986 vorliegt und ein allfälliges
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Rechtsmittelverfahren vor den kantonalen Behörden stattgefunden hat.
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5. (Kosten- und Entschädigungsfolgen.)"
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Das hier erwähnte Schreiben an das Verhöramt Nidwalden enthält Anträge, die denjenigen gemäss Antrag 1 und 2 der vorliegenden Beschwerde im wesentlichen entsprechen. Es wurde am 28. Januar 1986 dahin beantwortet, dass beim Verhöramt Nidwalden kein Verfahren mehr hängig und dass für das Strafübernahmeverfahren allein das BAP zuständig sei. Gegen den Entscheid hat X. beim Obergericht des Kantons Nidwalden Beschwerde erhoben.
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Das Bundesgericht heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gut, hebt die Verfügung des BAP vom 15. Januar 1986 auf und lädt dieses ein, hinsichtlich der Abtretung des im Kanton Nidwalden geführten Strafverfahrens an die BRD eine weiterziehbare Verfügung zu treffen; im übrigen - betreffend Akteneinsicht (Ziff. 2 der Begehren) - weist es die Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen:
 
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a) Die Übernahme der Strafverfolgung durch einen ausländischen Staat ist im einzelnen in den Art. 88 und 89 IRSG geregelt, und überdies beziehen sich die dem ersten Teil und damit den allgemeinen Bestimmungen des IRSG angehörenden Art. 25 Abs. 2 sowie Art. 30 Abs. 2 auf sie.
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In Art. 88 IRSG wird bestimmt, ein anderer Staat könne um Übernahme der Strafverfolgung wegen einer der schweizerischen Gerichtsbarkeit unterliegenden Tat ersucht werden, wenn seine Gesetzgebung deren Verfolgung und gerichtliche Ahndung zulasse und der Verfolgte BGE 112 Ib, 137 (140)a. sich dort aufhalte und seine Auslieferung an die Schweiz unzweckmässig oder unzulässig sei, oder wenn er b. an den betreffenden Staat ausgeliefert werde und die Übertragung der Strafverfolgung eine bessere soziale Wiedereingliederung erwarten lasse. Art. 89 IRSG umschreibt die Wirkungen der Übertragung des Verfahrens; insbesondere wird bestimmt, dass bei Übernahme des Falles durch einen ausländischen Staat in der Schweiz keine weiteren Massnahmen gegen den Verfolgten ergriffen werden dürfen.
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Gemäss Art. 30 Abs. 2 IRSG ist für schweizerische Ersuchen um Übernahme der Strafverfolgung das BAP zuständig; es hat auf Antrag der kantonalen Behörde zu handeln. Art. 25 Abs. 2 IRSG schliesslich lautet unter dem Titel "Verwaltungsgerichtsbeschwerde" wie folgt:
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"Gegen ein schweizerisches Ersuchen an einen andern Staat ist die
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Beschwerde nur zulässig, wenn dieser um Übernahme der Strafverfolgung
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oder der Urteilsvollstreckung ersucht wird. In diesem Fall ist nur der
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Verfolgte beschwerdeberechtigt."
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b) Die Vernehmlassung des BAP zur Frage der Zuständigkeit zur Stellung von Strafübernahmebegehren an ausländische Staaten ist nicht eindeutig. Einerseits verweist es auf ein Merkblatt vom 19. September 1985, wonach Strafübernahmebegehren immer über das BAP gestellt werden müssen; es stützt sich dabei auf Art. 7 Ziff. 3 lit. b der Verordnung des Bundesrates über die Aufgaben der Departemente, Gruppen und Ämter vom 9. Mai 1979 (SR 172.010.15). Anderseits weist es darauf hin, dass einzelne Kantone hinsichtlich der Strafübernahme an das Ausland selbständige Verfügungen treffen, die (mindestens) mit einem kantonalen Rechtsmittel anfechtbar sind (Graubünden, Zürich). Es ist somit nachfolgend darüber zu befinden, ob das BAP in Fällen dieser Art zum Erlass einer Verfügung verpflichtet sei. Nicht zu prüfen ist im vorliegenden Verfahren die Frage, ob auch die Kantone solche Verfügungen treffen könnten; denn es fehlt hier zum mindesten vorläufig an einem Anfechtungsgegenstand. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Nidwalden über die vom Beschwerdeführer zu dieser Frage eingereichte Beschwerde braucht nicht abgewartet zu werden. Wird nämlich das BAP als zum Erlass einer Verfügung verpflichtet erklärt, so ist die Streitfrage erledigt; wird es dies nicht, so steht dem Beschwerdeführer gegen den kantonalen Entscheid immer noch der Weg der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht offen.
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BGE 112 Ib, 137 (141)3. a) Von den angeführten gesetzlichen Bestimmungen sind für die hier zu entscheidende Frage insbesondere die Art. 30 Abs. 2 und 25 Abs. 2 IRSG von Bedeutung. Nach ihrem Wortlaut steht eindeutig fest, dass für schweizerische Ersuchen um Übernahme der Strafverfolgung das BAP zuständig und dass gegen solche Ersuchen an einen andern Staat die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist, wozu einzig der Verfolgte legitimiert ist. An dieser klaren Regelung vermag die Verordnung über die Aufgaben der Departemente, Gruppen und Ämter, auf welche das BAP hinweist, nichts zu ändern. Dieser Erlass dient der Aufteilung der verschiedenen Bundesaufgaben auf die einzelnen Bundesstellen und begründet selber keine Kompetenzen.
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b) Art. 25 Abs. 2 IRSG, der den Weiterzug von "Ersuchen" betreffend die Abtretung von Strafverfahren an das Ausland mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht vorsieht (s. auch SCHULTZ, Das neue Schweizer Recht der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, SJZ 77/1981, S. 95, und MARKEES, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, SJK Nr. 421a, S. 26), setzt notwendigerweise voraus, dass dieses "Ersuchen" zu einer Verfügung geführt hat; denn ohne Verfügung ist eine Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht denkbar. Demnach bleibt einzig zu entscheiden, ob damit notwendigerweise eine Verfügung des BAP gemeint sei oder ob es sich - wie dieses annimmt - auch um eine solche der zuständigen kantonalen Behörde handeln könne. Das BAP erklärt, mit Art. 25 Abs. 2 IRSG würden einzig die eventuell vorhandenen kantonalen Rechtsmittel gegen einen kantonalen Entscheid beschränkt; einerseits solle die Stellung eines Auslieferungsbegehrens an einen ausländischen Staat überhaupt nicht angefochten werden können, anderseits aber eine eventuell nach kantonalem Recht an sich mögliche Beschwerde gegen ein Übernahmeersuchen an einen ausländischen Staat nur vom Verfolgten, nicht aber z.B. von einem möglichen Geschädigten ergriffen werden können.
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Die vom BAP vertretene Auffassung erweckt Bedenken. Die These, es gehe nur um den Ausschluss eventuell vorhandener kantonaler Rechtsmittel in gewissen Fällen, findet im Wortlaut von Art. 25 IRSG keine Stütze. Hinzu kommt, dass Abs. 2 dieser Bestimmung Teil eines die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht regelnden und entsprechend überschriebenen Gesetzesartikels bildet; er kann sich somit nicht nur auf kantonale Rechtsmittel beziehen. Es wäre auch kaum verständlich, wenn ein BGE 112 Ib, 137 (142)vom Bundesrecht vorgesehenes Rechtsmittel nur ergriffen werden könnte, falls das kantonale Recht vorschreibt, dass Übernahmebegehren schon auf kantonaler Ebene in die Form einer Verfügung gekleidet werden müssen, nicht aber, wenn die kantonalen Behörden derartige Begehren in der einfachen Form eines Ersuchschreibens an das BAP richten können. Eine solche Ungleichheit des Rechtsschutzes auf einem sonst einheitlich geregelten Gebiet kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben. Verhält es sich aber so und schreibt das Bundesrecht - was unbestritten ist - nicht vor, dass der Überweisung der Akten an das BAP eine anfechtbare kantonale Verfügung voranzugehen habe, so folgt aus dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 2 und Art. 25 Abs. 2 IRSG zwingend, dass ein Begehren um Übernahme der Strafverfolgung durch einen ausländischen Staat mit einer Verfügung des BAP einzuleiten ist, die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden kann.
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